
Tatsächlich Liebe. So heißt nicht nur ein sehr beliebter Weihnachtsfilm. Im Monat Dezember darf auch sonst viel über Liebe geschrieben und gesprochen werden. Im Rest des Jahres steht die Liebesrhetorik unter Kitschverdacht. Entweder geht es eigentlich um Sex - oder um Schmonzetten. Was elf Monate verdächtig ist, wird schlagartig vor dem ersten Advent inflationär. Plötzlich ist "love in the air" - und im Hintergrund singt eine Band mit zu viel Hall die immer gleichen Töne und kaum jemand scheint genervt.
Die Spendenbereitschaft steigt um ein Vielfaches, als wären Armut und Not
zwischen Januar und November des Jahres weniger sichtbar. Wer traut sich da,daran zu erinnern, wie erwartungsüberfrachtet und enttäuschungsintensiv die vier Adventswochen für viele sind? Von der großen Erschöpfung wird immer erst im Nachhinein berichtet. "Nächstes Jahr wird alles anders", hört man dann. Rollenprosa nach dem Fest. Für die einen ist es die immer gleiche Tour durch die Verwandtschaft, Kind und Kegel und Geschenke ins Auto verfrachtet, um ja allen gerecht zu werden.
Junge Paare, die immer noch nicht alleine feiern, weil sie die Eltern nicht
enttäuschen wollen - und sich als alte Paare wiederfinden, die immer noch
nicht zu zweit feiern, weil die getrennten Festtage zu einer gefürchteten Gewohnheit geworden sind. Junge Eltern, die nach drei Tagen mit aufgekratzten oder quengeligen Kindern Kilometer und Staus durchstehen. ür andere ist es die Angst vor einsamen Tagen mit aufgetauter Einpersonenmahlzeit vor dem Fernseher, die Furcht vor dem obligatorischen Streit unterm Tannenbaum, trotz stundenlanger Gemütlichkeitsplanung. Tränen, Vorwürfe, Türenschlagen oder Schlimmeres, der Schmerz nach Trennung und Verlust, der hinter der medial transportierten Glanzbildkulisse besonders dunkel wird. Das "Fest der Liebe" ist ein Fest voller Sehnsüchte und Zweifel, voller Abgründe und Traurigkeit und manchmal - das soll gar nicht verschwiegen werden - auch eine Zeit des ungetrübten Glücks, der
Wiedersehensfreude und der Erfüllung von Herzenswünschen.
Der kulturkritische Meckerton, der es eilig hat, die zu verurteilen, die aus dem Fest der Liebe eine Konsumparty machen, hat es leicht, greift aber zu kurz, weil auch Geschenke eine Sprache der Liebe sein können - und Kaufverzicht noch keine herzliche Zuwendung garantiert. Granteln und moralische Überheblichkeit sind nämlich auch keine Zeichen der Liebe. Sogar in der Pandemie ist das nicht anders. überall wird das "Fest der Liebe" als Ausnahme vom Ausnahmezustand beschworen, sogar in der Politik wird es als Heilsdatum herbeigeredet, das für einen Moment von allen Abstandsregeln suspendiert. Hier wird das Missverständnis der Liebe vielleicht am eutlichsten, weil es als Selbststeigerung, als gute oder schlechte Gewohnheit, als Maß der eigenen Wünsche oder auch nur als lieb gewordene Tradition missverstanden wird.