Weihnachtsfest in Corona-Zeiten: Endlich ausbrechen

Nachricht 17. Dezember 2020

Regionalbischöfin Bahr: "die Ungunst der Stunde Nutzen und Weihnachten neu entdecken"

Petra Bahr ist Regionalbischöfin des Sprengels Hannover der Evangelisch-lutherischen Landeskirche und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Seit vielen Jahren schreibt sie regelmäßig für Christ & Welt. (Foto: Ina Schönenburg/Ostkreuz für ZEIT Christ&Welt)

Tatsächlich Liebe. So heißt nicht nur ein sehr beliebter Weihnachtsfilm. Im Monat Dezember darf auch sonst viel über Liebe geschrieben und gesprochen werden. Im Rest des Jahres steht die Liebesrhetorik unter Kitschverdacht. Entweder geht es eigentlich um Sex - oder um Schmonzetten. Was elf Monate verdächtig ist, wird schlagartig vor dem ersten Advent inflationär. Plötzlich ist "love in the air" - und im Hintergrund singt eine Band mit zu viel Hall die immer gleichen Töne und kaum jemand scheint genervt.

Die Spendenbereitschaft steigt um ein Vielfaches, als wären Armut und Not
zwischen Januar und November des Jahres weniger sichtbar. Wer traut sich da,daran zu erinnern, wie erwartungsüberfrachtet und enttäuschungsintensiv die vier Adventswochen für viele sind? Von der großen Erschöpfung wird immer erst im Nachhinein berichtet. "Nächstes Jahr wird alles anders", hört man dann. Rollenprosa nach dem Fest. Für die einen ist es die immer gleiche Tour durch die Verwandtschaft, Kind und Kegel und Geschenke ins Auto verfrachtet, um ja allen gerecht zu werden.

Junge Paare, die immer noch nicht alleine feiern, weil sie die Eltern nicht
enttäuschen wollen - und sich als alte Paare wiederfinden, die immer noch
nicht zu zweit feiern, weil die getrennten Festtage zu einer gefürchteten Gewohnheit geworden sind. Junge Eltern, die nach drei Tagen mit aufgekratzten oder quengeligen Kindern Kilometer und Staus durchstehen.  ür andere ist es die Angst vor einsamen Tagen mit aufgetauter  Einpersonenmahlzeit vor dem Fernseher, die Furcht vor dem obligatorischen Streit unterm Tannenbaum, trotz stundenlanger Gemütlichkeitsplanung. Tränen, Vorwürfe, Türenschlagen oder Schlimmeres, der Schmerz nach Trennung und Verlust, der hinter der medial transportierten Glanzbildkulisse besonders dunkel wird. Das "Fest der Liebe" ist ein Fest voller Sehnsüchte und Zweifel, voller Abgründe und Traurigkeit und manchmal - das soll gar nicht verschwiegen werden - auch eine Zeit des ungetrübten Glücks, der
Wiedersehensfreude und der Erfüllung von Herzenswünschen.

Der kulturkritische Meckerton, der es eilig hat, die zu verurteilen, die aus dem Fest der Liebe eine Konsumparty machen, hat es leicht, greift aber zu kurz, weil auch Geschenke eine Sprache der Liebe sein können - und Kaufverzicht noch keine herzliche Zuwendung garantiert. Granteln und moralische Überheblichkeit sind nämlich auch keine Zeichen der Liebe. Sogar in der Pandemie ist das nicht anders. überall wird das "Fest der Liebe" als  Ausnahme vom Ausnahmezustand beschworen, sogar in der Politik wird es als Heilsdatum herbeigeredet, das für einen Moment von allen Abstandsregeln suspendiert. Hier wird das Missverständnis der Liebe vielleicht am  eutlichsten, weil es als Selbststeigerung, als gute oder schlechte Gewohnheit, als Maß der eigenen Wünsche oder auch nur als lieb gewordene Tradition missverstanden wird.

"Was Gebete und Krippenspiele, Predigten und Lieder ausrichten können, bleibt unverfügbar."

"Ich habe ein Recht auf das Weihnachtsfest, wie ich es gewohnt bin", schreibt ein engagierter Chorsänger und offenbart noch in der Leidenschaft für die jährliche Aufführung des Weihnachtsoratoriums das Missverständnis, das in der Liebe liegt. Die biblische Heilsgeschichte mag lange schon durch die Traditionen des bürgerlichen Festes überformt sein, als Referenz und Beleg für diese Art von Liebe taugt sie nicht. Ohne jedes Missverständnis: die Weihnachtskultur mit ihrer Musik, dem Lichterglanz und den Geschenken, die in vielen Familien eine Mikrotradition entstehen ließ, kann wunderschön sein.

Auch das Weihnachtschristentum ist Christentum. Wer nur einmal im Jahr in die Kirche geht, findet sich in einem Gottesdienst wieder. Was Gebete und Krippenspiele, Predigten und Lieder ausrichten können, bleibt unverfügbar. Weihnachten wird aber auch von vielen gefeiert, die mit dem Christentum gar nichts anfangen können. Rituale geben Geborgenheit, selbst dann, wenn man, 15-jährig, genervt gegen sie verstößt oder ihren Sinn heimlich bezweifelt. Doch ob sie die Pointe der weihnachtlichen Liebe, die in der Gottesliebe ihren Ausgang nimmt, treffen oder nicht, ist anspruchsvoller als die Qualität ihrer Inszenierung. Auch der Verzicht auf jegliche  Weihnachtlichkeit, der Protest gegen Fest und Kitsch und Vanillegeruch, kann übrigens eine Inszenierung sein, aus der vor allem Wut oder Bequemlichkeit spricht. Liebe, das erzählt die Weihnachtsgeschichte mit überraschend wenig Worten, kommt anders, als man denkt. Sie verstößt gegen etablierte Ordnung und Erwartung, macht sich unmöglich und hat auf vertrackte Weise immer recht. Dabei erpresst diese Liebe aber niemanden, auch nicht mit Festvorstellungen, die zu erfüllen oder abzuschaffen sind. Liebe in diesem weihnachtlichen Sinne ist mehrdimensional. Sie kann die Wirklichkeit schonungslos wahrnehmen und trotzdem mit Hoffnung verklären. Sie kann die Toten zählen und ihre Geschichten nennen, geht den Traurigen nicht aus dem Weg und tut gar nicht erst so, als sei die Welt heil.

Die Verheißung lautet: "Fürchtet euch nicht"

Trotzdem liegt über dieser ganz und gar nicht heilen Welt die Verheißung: "Fürchtet euch nicht." Die Weihnachtsgeschichte selbst ist im Grunde  die Geschichte einer grandiosen Enttäuschung, aus der das Heil und das neue Vertrauen in den Sinn der Welt allererst erwächst. Im Grunde ist die Geschichte nämlich unerhört. Der messianische Heilsglaube würde und wird immer enttäuscht. Die Apokalypse bleibt aus. Der Tag, an dem in der Perspektive des Christentums alles anders wird, ist dazu so unspektakulär, dass nur wenig glaubwürdige Beobachter überhaupt Zeugnis davon ablegen können. So will es die Narration.

Der Gott, von dem in dieser Story die Rede ist, düpiert die religiösen Erwartungen der Experten fürs Heilige. Das Göttliche macht sich klein und
dazu auch noch weltgeschichtlich vollkommen marginal. Deshalb ist die Weihnachtsgeschichte besonders dann lesenswert, wenn alles anders kommt,
als man denkt: im Grunde eine Steilvorlage und das beste Skript für dieses ganz andere Weihnachtsfest 2020. Natürlich kann man versuchen, es den
Üblichkeiten so stark wie möglich anzupassen. Dann gibt es von allem nur ein bisschen weniger: weniger Glühwein, weniger Verwandtschaft, Hauptsache,
das Fest ähnelt von Ferne den Festen, die man kannte.

Ob man sie liebte oder nur hinnahm, tut manchmal nichts zur Sache, wenn
Ähnlichkeit auch Sicherheit bietet. Oder es gilt das Gesetz der Kompensation
durch einen noch größeren Baum oder noch größere Geschenke, das trotzige
Hinwegsehen über die Risiken auch. Das Beharren auf dem, was sonst üblich
war, kann auch eine eigene Art der Lieblosigkeit sein, eine Bequemlichkeit, die
verhindert, Weihnachten neu zu entdecken, anders zu feiern, freier, selbstbestimmter, zugewandter. Vielleicht entstehen so andere Rituale und neue Rezepte, vielleicht ist dieses Fest auch eines, das den Schmerz und die Sehnsucht nicht verbannt, sondern zulässt, als Teil eines Festes, das aus der Enttäuschung geboren ist, weil Distanzen nicht überwunden, sondern um der Liebe willen aufrechterhalten werden.

" Die Verwandlung der Welt ist möglich. Das ist die Macht der Liebe"

Denn die Rede von der Liebe Gottes, die vielfach diskreditiert, viel zu oft
moralisch verengt oder bis zur Harmlosigkeit verkleinert wurde, wäre genau da bedeutsam, wo die Enttäuschung über die falsche Liebesillusion, die sich klare Vorstellung von ihrer Einlösung gemacht hat, als Befreiung erlebt würde. Es geht gar nicht um mich. Es geht um die anderen, um deren Wohlsein, deren Glück, in der Welt zu sein. Es geht um die Fähigkeit, die Welt, wie sie ist, so zu sehen, wie sie sein könnte, oder, mutiger religiös gesprochen: wie sie, gegen jeden Anschein, schon ist. Die Verwandlung der Welt ist möglich. Das ist die Macht der Liebe.

Warum nicht die Ungunst der Stunde nutzen und Weihnachten noch mal neu
entdecken, samt der freien Plätze an der Festtagstafel und dem Schmerz über das, was fehlt, aber auch der Freude darüber, endlich aus Routinen ausbrechen zu dürfen? Weihnachten ist das Fest, das eine Lücke besetzt, die in der Vorstellung immer schon anders erfüllt werden sollte: glanzvoller, opulenter, machtvoller. Diese Enttäuschung, die in der Liebe liegt, wie sie sich in dem Kind in der Krippe symbolisch zeigt, könnte der Motor einer Veränderung sein, die der christlichen Weihnachtsbotschaft so nahe kommt wie lange nicht und deshalb auch noch Energie entfaltet, wenn die Nordmanntannen sich längst auf den Bürgersteigen stapeln.

zuerst erschienen in der Christ & Welt Nr. 52, 10. Dezember 2020