Lied-Predigt zu "Stille Nacht, Heilige Nacht"

1. Weihnachtstag 2015, St. Cosmae, 17.00 Uhr

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. 

Liebe Gemeinde,

es schon etwas Eigenartiges mit Weihnachten: Man kann sich ihm nicht entziehen. Eigentlich berichten uns die Soziologen  schon seit Langem über die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft: Verschiedene Systeme, sagen die Systemtheoretiker, verschiedene Milieus. [Die einen hören NDR 2, die anderen Volkstümliches auf Radio Niedersachsen, die Hochkulturellen NDR-Kultur. Und viele Junge hören längst gar kein Radio mehr, sondern sind in ganz eigenen Welten im Internet und seinen Communities unterwegs.] Nur Weihnachten – das zieht sie alle in seinen Bann. Es ist das einzige Fest, das es schafft, die allermeisten zu verbinden. Man kann sich dem natürlich auch entziehen, z.B. indem man in die Südsee fliegt, aber auch das muss man zumindest  aktiv tun. Man kann sich zu Weihnachten nicht nicht verhalten. Das schafft sonst kein anderer event.

Und: Weihnachten ist das volkstümlichste aller Feste, am tiefsten in der Breitenkultur unseres Landes verankert. Und dabei bleibt es doch auch verbunden mit der Botschaft, die es ausmacht. Und wenn nicht alles täuscht, nimmt das Interesse daran eher zu. Die Weihnachtsgottesdienste sind in den letzten Jahren voller geworden, auch die Gottesdienste und Konzerte in der Adventszeit oder gemeinsames Singen. Beinahe überall gibt es lebendige Adventskalender, wo man sich in einem Haus trifft und sich einen Moment besinnt auf das, was diese Zeit ausmacht. Bei uns zu Hause waren am Montag beinahe 40 Menschen beisammen. Offenbar haben viele das Empfinden, dass ausschließlich Weihnachtsmarkt und Geschenkebesorgen doch zu wenig ist.

Weihnachten als christliches und zugleich ganz volkstümliches Fest. Damit bin ich bei dem Weihnachtslied, über das ich heute Abend nachdenken möchte: Stille Nacht, Heilige Nacht.

Die einen rümpfen da die Nase und finden es kitschig, weder textlich noch musikalisch höheren Ansprüchen genügend. „Eine triviale, wertlose, verfehlte Komposition“, hat ein Domkapellmeister aus Mainz 1897 geurteilt. Für die anderen ist es der Inbegriff von Weihnachten. In jedem Fall ist es das weltweit erfolgreichste Weihnachtslied. In bald 300 Sprachen wurde es übersetzt, im Internet findet man ganze Datenbanken dazu. Und, man möchte es kaum glauben: Es existiert eine eigene, seriöse „Stille Nacht – Gesellschaft“, mit einer regelmäßigen Zeitschrift. Es gibt ganze Bücher über „Stille Nacht“ und mehrere Filme. In die Liste des immateriellen Weltkulturerbes wurde es von der UNESCO aufgenommen. Das Lied hat eine unglaubliche Wirkungsgeschichte – genau wie das Weihnachtsfest selbst. Deshalb lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen.

Zum ersten Mal gesungen wurde das Lied zum Weihnachtsfest 1818 in der Kirche von Oberndorf in der Nähe von Salzburg. Ein katholischer Hilfspriester namens Joseph Franz Mohr hatte den Text 1816 gedichtet. Der Organist Franz Xaver Gruber hat die Musik gemacht. Angeblich war der Anlass, dass genau zu Weihnachten die Orgel ausfiel, so dass schnell noch ein neues Lied gebraucht wurde. Aber das ist nach einer erst 1995 gefundenen Urfassung eine Legende. Offenbar wurde das Lied 1818 zum ersten Mal gesungen von zwei Solisten, dem Dichter und dem Komponisten, der Priester begleitete es mit der Gitarre.

Die Messe wurde in Österreich auch zu Weihnachten selbstverständlich in lateinischer Sprache gefeiert. Aber es gab dann auch deutschsprachige Lieder, vermutlich im Anschluss an die Messe, und dazu gehört Stille Nacht. Von vornherein war es also ein Lied, das die Botschaft von Weihnachten den Menschen nahe bringen wollte, ein Lied, das mit gutem Grund volkstümlich sein wollte.

Was dann mit dem Lied passierte, ist aber spannend. Denn zunächst hatte es sechs Strophen; Sie finden sie auf dem Gottesdienstblatt. Und die waren durchaus inhaltlich und theologisch gehaltvoll. So gab es etwa Strophe drei, die lautete:

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Die der Welt Heil gebracht,
Aus des Himmels goldenen Höhn
Uns der Gnaden Fülle läßt seh´n
Jesum in Menschengestalt.

Das ist sicher immer noch nicht ganz große Dichtung, an Paul Gerhardt kommt das nicht heran. Aber immerhin, da ist vom Heil der Welt die Rede und der Fülle der Gnade, die in der Menschengestalt Jesus erschienen ist. Da ist die Weihnachtsbotschaft durchaus auf den Punkt gebracht.

Dann aber wurde das Lied überregional bekannt, und zwar durch eine singende Familie aus dem Zillertal in Tirol, die Familie Strasser. Das war tatsächlich so eine Art früher Musikantenstadl und auch genauso populär. Diese Familie sang das Lied 1831/32 in Leipzig zur dortigen Messe auf dem Marktplatz. Und sie hatte großen Erfolg damit. Sie sangen es sogar während der Pause im Konzert des Leipziger Gewandhauses, des berühmten Konzerthauses. Und für diese Auftritte hatten sie das Lied gekürzt. Statt sechs Strophen sangen sie nur noch drei, die inhaltlich Anspruchs­volleren ließen sie weg. Nun standen im Mittelpunkt das „traute hochheilige Paar“ und der „holde Knabe mit lockigem Haar“ (obwohl es ja höchst zweifelhaft ist, dass das Jesuskind Locken gehabt hat). Im ursprünglichen Lied war von der Menschwerdung Gottes, vom Heil Gottes, vom Zorn Gottes und seinem Erbarmen, seiner „Schonung“ die Rede. Das war jetzt heraus. Es wurde nun ein Lied, das ganz wunderbar zur Biedermeierzeit um 1830 passte und zum Ideal der heilen bürgerlichen Kleinfamilie mit dem hübschen lockigen Knaben. So wurde das Lied populär und trug zur Verbürgerlichung des Weihnachtsfestes bei. Es wurde in Leipzig nach dem Gehör aufgezeichnet und rasch gedruckt.

Ich habe uns einmal das ganze Lied mit den ursprünglichen sechs Strophen abgedruckt. Lassen Sie uns die ersten drei jetzt singen.

1.  Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft; einsam wacht Nur das traute heilige Paar. Holder Knab im lockigten Haar, Schlafe in himmlischer Ruh! Schlafe in himmlischer Ruh!

2.  Stille Nacht! Heilige Nacht! Gottes Sohn! O wie lacht Lieb' aus deinem göttlichen Mund, Da schlägt uns die rettende Stund'. Jesus in deiner Geburt! Jesus in deiner Geburt!

3.  Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht, Aus des Himmels goldenen Höhn Uns der Gnaden Fülle läßt seh'n Jesum in Menschengestalt, Jesum in Menschengestalt!

Seinen Siegeszug trat das Lied an nur mit den drei  Strophen 1, 6 und 2, in dieser Reihenfolge. Besonders wichtig war dann, dass es hier in Hamburg der berühmte Johann Hinrich Wichern gehört hat, der Begründer der modernen Diakonie (der übrigens auch den Adventskranz erfunden hat). Der stellte ein Liederbuch für seine Heimkinder zusammen und nahm das Lied auf - mit den drei Strophen. So fasste es rasch im evangelischen Raum Fuß. Einen weiteren Anhänger fand es im preußischen König in Berlin, der sich 1854 vom noch lebenden Komponisten einen Bericht über das Lied kommen ließ. So kam es bald in weitere evangelische Gesangbücher, besonders auch für das Militär. Und auch international wurde es eben sehr erfolgreich. Schon 1839 erklang es erstmals in New York und wurde später in den USA höchst populär. Allein die Aufnahme von Bing Crosby aus dem Jahr 1935 wurde geschätzt 10 Millionen Mal verkauft.

Aber es gab auch immer noch Kritiker. Im früheren Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950, das viele von uns noch kennen, fehlte das Lied. Das lag wohl an der Volkstümelei der Nazis, mit der man nichts mehr zu tun haben wollte, und daran, dass man nach der geistigen Verwirrung bis 1945 besonders nach inhaltlicher Qualität und Orientierung suchte. Das sah man in „Stille Nacht“ nicht. Aber ins neue Gesangbuch von 1995 kam das Lied dann wieder, eben weil man an der großen Verbreitung und Beliebtheit nicht vorüber gehen wollte. Und so haben wir es heute im Gesangbuch – mit nur drei Strophen.

Was kann in all dem nun für eine Botschaft liegen, warum lohnt es, in der Predigt über das Lied nachzudenken? Drei Gedanken dazu.

1. In dem Lied Stille Nacht kommen Sehnsucht und Erfüllung zum Ausdruck. Joseph Franz Mohr, der Dichter, ist, soweit wir wissen, ein ziemlicher Unglücksrabe gewesen. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen und wuchs als uneheliches Kind auf, der Vater war ein fahnenflüchtiger Soldat, den er nie kennen gelernt hat. Später musste er etliche Mal die Stelle als Priester wechseln, immer wieder gab es Ärger.

Das heißt: In das Bild der heilen Familie hat der Dichter wohl seine Sehnsucht hineingelegt, die unerfüllte Sehnsucht nach Geborgenheit, nach intakter Gemeinschaft. Vielleicht macht auch das unser Lied so populär. Denn auch für viele von uns verbindet sich Weihnachten mit Sehnsüchten, mit Hoffnungen, die man manchmal vielleicht gar nicht richtig ausdrücken kann.

Die Botschaft von Weihnachten ist natürlich nicht, dass die Hoffnung auf eine heile Welt sich einfach erfüllt. Das ist nicht so im Großen, und das ist auch nicht so in unseren kleinen Welten, in denen es gerade zu Weihnachten genug Spannungen gibt. Die Botschaft ist „Jesus der Retter ist da!“, so ursprünglich, oder „Christ, der Retter ist da!“, so singen wir es seit Wichern. „Christ, der Retter da“, diese Botschaft gilt allen, die Weihnachten mit mancher Sehnsucht feiern. Mit der Sehnsucht nach Zusammenhalt in der Familie, mit der Sehnsucht nach Gesundheit, mit der Sehnsucht, das Leben wieder mehr in den Griff zu bekommen. Weihnachten steht für die Botschaft: Gott ist an Deiner Seite, er lässt Dich nicht allein in Deinen Sehnsüchten und in Deinen unerfüllten Hoffnungen. „Christ, der Retter ist da!“.

2. Ein Lied mit einer volkstümlichen Melodie aus Österreich, die zu Herzen geht. Martin Böcker spielt uns dazu in diesem Gottesdienst andere Alpenländische Pastoralmusik für Orgel aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert, darunter soeben ein ganz bekanntes Motiv von Mozart, das Gruber vielleicht im Ohr hatte, als er Stille Nacht komponiert hat.

Diese Musik spricht die Seele an, deshalb wurde sie so ein Welthit. Das gehört zu Weihnachten, das gehört zu unserem Glauben: Dass er den ganzen Menschen anspricht, gerade auch die Gefühle, die Affekte, die Seele. Wir Protestanten sind vielleicht manchmal etwas auf den Kopf konzentriert, versuchen zu erklären und zu diskutieren (das muss ja auch sein). Aber der Mensch ist auch Seele, ist auch Gefühl. Und der Glaube auch. Diese Dimension braucht ihr Recht, in der Frömmigkeit, in der Spiritualität, in der Musik. (Gestern im Altenpflegeheim: Was man sagt, erreicht die meisten nicht mehr, aber die Lieder sind in einer Tiefenschicht der Seele verankert, da können die meisten kräftig mitsingen).

Der große Theologe Schleiermacher hat – etwa in der Entstehungszeit unseres Liedes – gesagt: Religion besteht in einem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“: Ich fühle, dass ich mich verdanke, dass ich abhängig bin von Liebe, dass ich abhängig bin von dem Gott, der zu Weihnachten seine Liebe zeigt. Das vor allem ist auch ein Gefühl. „Die Freude und das Gefühl der Errettung und die demütige Anbetung”, so Schleiermacher, sie gehören besonders zu Weihnachten und sie kommen in unserem Lied zum Ausdruck. Es hilft uns diesem Gefühl der Abhängigkeit von Gott und der Geborgenheit in ihm Raum zu lassen.

3. Das Lied erinnert uns an die völkerverbindende Bedeutung von Weihnachten. Natürlich tut es das durch seine weltweite Verbreitung – ich erinnere an die 300 Sprachen. Es tut es aber auch durch den ursprünglichen Text. Er entstand 1816, da waren gerade die napoleonischen Kriege in Europa zu Ende gegangen. Auch Bayern und Österreich hatten miteinander im Krieg gelegen, es war jetzt die erste Friedensweihnacht. Und in dieser Situation dichtet unser Priester (Strophe 4):

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Wo sich heut alle Macht
Väterlicher Liebe ergoss
Und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt

Jesus bringt die väterliche Liebe Gottes, er umschließt damit alle Völker. Auch die vermeintlichen Feinde. Das ist eine sehr konkrete weihnachtliche Friedensbotschaft. Die Weihnachtsbotschaft gilt allen, das große „Frieden auf Erden“ der Engel. Eine durchaus politische Botschaft. Schade, dass diese Strophe wegfiel.

Wer sich von der Weihnachtsbotschaft anstecken lässt, wird ein Mensch des Friedens sein und der Versöhnung. Da sind wir in diesem Jahr besonders gefragt, da so viele Menschen aus den „Völkern der Welt“ hier bei uns sind. Den vielen Flüchtlingen gastfreundlich und offen zu begegnen, das ist ein Gebot der Stunde. Und das wird eine Aufgabe noch für lange Zeit sein, zu der wir uns als Christen und als Kirche gerufen wissen. Denn das fasst die Weihnachtsbotschaft wirklich git zusammen: als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt.

Lassen Sie uns in diesem Geist die Strophen 4 – 6 des ursprünglichen Liedes gemeinsam singen. Amen.

4.  Stille Nacht! Heilige Nacht! Wo sich heut alle Macht
Väterlicher Liebe ergoss. Und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt, Jesus die Völker der Welt.

5.  Stille Nacht! Heilige Nacht! Lange schon uns bedacht,
Als der Herr vom Grimme befreit, In der Väter urgrauer Zeit
Aller Welt Schonung verhieß, Aller Welt Schonung verhieß.

6.  Stille Nacht! Heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht
Durch der Engel Alleluja, Tönt es laut bei Ferne und Nah:
Jesus der Retter ist da! Jesus der Retter ist da!