Predigt am 2. Weihnachtstag 2017

Stade, St. Wilhadi-Kirche, 11.00 Uhr

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

die Aufregung ist groß. In Lüneburg soll der Schulleiter eines Gymnasiums eine Weihnachtsfeier der Schule abgesagt haben, weil dort Weihnachtslieder gesungen werden sollten. Vorher hatte sich eine muslimische Schülerin beschwert, als sie im Musikunterricht ein christliches Weihnachtslied singen sollten.

Die Schule hat das inzwischen dementiert und richtig gestellt. Aber die Aufregung ist trotzdem groß und plötzlich hat es ein Lüneburger Gymnasium bundesweit in die Presse gebracht (was man niemandem wünschen kann). Ganz abgesehen von Lüneburg ist der Sachkonflikt ja nicht einfach von der Hand zu weisen. Natürlich haben wir in Deutschland Religionsfreiheit und sind dankbar dafür. Und deshalb darf niemand gezwungen werden, sich christliche Inhalte zu eigen zu machen oder christliche Lieder zu singen, natürlich nicht. Aber genauso gibt es nun einmal Weihnachten nicht ohne seine Inhalte. Sonst wird es eine leere Hülle und bleibt hohler Kommerz. Deshalb muss es schief gehen, wenn man gerade zu Weihnachten meint, Religion aus der Öffentlichkeit verbannen zu wollen und statt Weihnachtsgrüßen nur noch seasons greatings verschickt. Auch der Lüneburger Schulleiter war nicht besonders gut beraten, als er laut Zeitung gesagt haben soll, man müsse dann eben christliche Weihnachtslieder weglassen und solle lieber das Lied vom "Red-Nosed Reindeer" singen – das Lied vom rotnasigen Rentier Rudolph, das mit der biblischen Weihnachtsgeschichte nichts zu tun hat. Ohne christliche Inhalte wird Weihnachten hohl, und damit vor allem auch ohne unsere Weihnachtslieder.

Deshalb wie an allen Weihnachtstagen, seitdem ich in Stade bin, wieder eine Predigt über eines unserer Weihnachtslieder. „Gelobet seist du, Jesu Christ.“ Das ist zugleich noch ein Beitrag zum Jahr des 500. Reformationsjubiläums. Denn wir sind hier sozusagen an der Wiege der evangelischen Weihnachtslieder. Das Lied stammt von Martin Luther selbst, veröffentlicht wurde es 1524, gedichtet hat er es wahrscheinlich zu Weihnachten 1523. Im Gesangbuch steht es unter Nr. 23. Lassen Sie uns zunächst die erste Strophe singen.

Strophe 1

Diese erste Strophe ist die einzige Strophe, die nicht von Martin Luther stammt. Sie stammt aus dem Mittelalter. Im Gesangbuch steht das Kloster Medingen als Herkunftsort – da sind wir schon wieder bei Lüneburg, dort erinnert auch eine Tafel an das Lied; es gibt diese Strophe aber in verschiedenen Fassungen. Eine sogenannte „Leise“ ist es, nicht weil wir sie leise singen – bitte nicht, bitte im Gegenteil – sondern weil jede Strophe mit einem anbetenden Ruf endet: Kyrieleis – Herr, erbarme dich.

Luther hatte also eine mittelalterliche Strophe. Aber er hatte kein Lied. Er brauchte aber Lieder, evangelische Lieder für den Gottesdienst. Die Reformation hatte seit fünf Jahren Fahrt aufgenommen. Damit musste auch der Gottesdienst umgestaltet werden, und dafür waren Luther die Lieder besonders wichtig.

So startet er genau in diesem Jahr 1523 ein Projekt: Er fordert seine Kollegen auf, evangelische Lieder zu liefern. Beinahe ein Liederwettbewerb. An seinen Freund Georg Spalatin schreibt er:

Gnade und Friede! Ich habe den Plan, deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, also geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt. Wir suchen daher überall nach Dichtern.“ Dann benennt Luther sein Programm: „Ich möchte aber neue und am Hof übliche Ausdrücke vermeiden: nach seinem Aufnahmevermögen soll das Volk möglichst einfache und gebräuchliche, freilich reine und passende Worte singen. Außerdem soll der Sinn klar sein. Deshalb muss man hier frei verfahren, wenn nur der Sinn gewahrt ist.“ Also, Luther hat hier ein pädagogisches, ein missionarisches Programm, die Inhalte frei zu formulieren, so dass die Menschen sie fassen können. Nicht die gestelzte Sprache des Hofes soll es sein, sondern allgemeinverständlich, nur ohne inhaltlichen Substanzverlust. Wer heute neue Lieder macht und neue geistliche Musik spielt, der kann sich immer auf Luther berufen. Mit Luther kann man keine „konservative“ Linie im Blick auf die Lieder der Kirche vertreten – er war sehr für Erneuerung, gerade mit Blick auf junge Menschen.

So bittet Luther seinen Freund Spalatin, sich zu beteiligen, weil er besonders begabt sei. Und er sagt in ungewohnter Bescheidenheit über sich selbst: „Mir ist es nicht gegeben, es so zu machen, wie ich es gern wollte.“[1] Dieser Brief ist „die Geburtsstunde des evangelischen Gesangbuchs“ (Johannes Schilling).[2]

Aber, wie es manchmal so ist, wenn man andere um Hilfe bittet: Sie kommt nicht so schnell. Deshalb muss Luther selber tätig werden. Und so hat er genau zu dieser Zeit, als er den Brief schreibt, zum Jahresende 1523 auch unser Lied gedichtet. Schon im nächsten Jahr, 1524 gab Luther das erste Gesangbuch heraus, zusammen mit dem Musiker und evangelischen Urkantor Johann Walter (sozusagen seinem Hauke Ramm). In der Vorrede heißt es zur Begründung: „… dass ich gern möchte, dass die Jugend etwas hätte, damit sie die Buhllieder und fleischlichen Gesänge los würde und statt derselben etwas Heilsames lernte und so das Gute mit Lust, wie es den Jungen gebührt, einginge.“[3]

In diesem Liederbuch waren nun doch etliche Lieder von Luther selbst gedichtet, er wurde zu einem der wichtigsten evangelischen Liederdichter. Und dazu gehörte auch „Gelobet seist du, Jesu Christ.“

Ob Luther nun damit den Liebes- und Buhlliedern seiner Zeit Konkurrenz machen konnte, weiß ich nicht recht. Das Lied ist nicht gefühlsselig, es verbreitet keine romantische Weihnachtsstimmung. Dieses Lied wird bei Weihnachtsfeiern in der Schule schwerlich gesungen. Aber es bringt in klaren Worten das Geheimnis von Weihnachten zum Ausdruck. Dabei geht es an den Worten des Glaubensbekenntnisses entlang, das wir vorhin gesprochen haben. Das kann man Strophe für Strophe zeigen, wie Luther hier zentrale Glaubensinhalte im Lied wiedergibt.

Und das tut er in höchst kunstvoller Form. Das Lied hat eine durchkomponierte Symmetrie durch seine sieben Strophen. Ich habe Ihnen eine Grafik dazu auf das Gottesdienstblatt kopiert[4]: Sie sieht aus wie eine Menorah, wie ein siebenarmiger Leuchter.

In der ersten und der letzten Strophe ist von der Freude die Rede, am Anfang von der Freude der Engel, am Ende von der Freude unter uns: des freu sich alle Christenheit – die Freude der Engel soll sich ausbreiten zu Weihnachten auf der Welt. Darum geht es. Die anderen Strophen erzählen, warum das so ist.

Die zweite und die vorletzte Strophe sprechen von der Armut auf  Erden, in die Gott hinein kommt, um uns reich zu machen. Und in der dritten und der fünften Strophe geht es um diese Welt, in die Gott hineinkommt.

Ganz deutlich in der Mitte aber steht das Licht. Um das Licht ist das Lied herumgebaut. Es leucht‘ wohl mitten in der Nacht.

Auch hier ist Luther bei der Bibel und beim Glaubensbekenntnis. Licht vom Licht, haben wir über Christus vorhin bekannt, hat die Kantorei hier vor einer Woche in der Mozart-Messe gesungen. Und zugleich ist Luther ganz bei den Menschen. Ich stelle mir ja vor, Luther ist auch einmal vor die Tür gegangen, während er solch ein Lied im Kopf bewegte. Und da war es im Dezember die meiste Zeit dunkel. Wirklich dunkel. Das kennen wir ja gar nicht mehr, bei uns leuchtet ja immer Licht. Die mittelalterliche Stadt aber war dunkel, in dieser Hinsicht war das Mittelalter, auch das Spätmittelalter, wirklich finster. Ganz wenige Fackeln und Kerzen konnten daran kaum etwas ändern. Die Nacht war komplett dunkel und damit auch bedrohlich. In diesem Dunkel geht Luther eine Weile und denkt nach über sein Lied zu Weihnachten. Und dahin dichtet er über das Licht Gottes in der Geburt des Kindes: Es leucht‘ wohl mitten in der Nacht / und uns des Lichtes Kinder macht.

Er dichtet das hinein auch  in die Dunkelheiten unserer Welt, in die politischen Finsternisse und Bedrohungen, die uns genug Sorgen machen können. Er dichtet es hinein in das persönliche Dunkel bei dir und bei mir. Wo Sorgen das Gemüt verdunkeln, wo Schuld und Verletzungen Schatten auf die Seele werfen, wo die Zukunft in einem undurchdringbaren Dunkel liegt: Da hinein singen wir: Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt einen neuen Schein; es leucht‘ wohl mitten in der Nacht / und uns des Lichtes Kinder macht.

Wer nur diese eine Strophe von Weihnachten verstanden hat, der hat genug verstanden, der hat alles verstanden: Das ewige Licht leuchtet in unsere Welt, gibt ihr einen neuen Schein. Und macht uns so zu Kindern des Lichtes. Und diese Welt braucht Kinder des Lichtes, Menschen die Licht verbreiten, sehr konkret, da wo sie gerade sind, wo sie leben, wo sie arbeiten. Wo sie auf andere treffen, die Hilfe brauchen.

Lassen Sie uns singen Strophe 2 bis 4.

Strophe 2 – 4

Was haben wir da gesungen?! Über jede Strophe könnte man lange nachdenken. So richtig volkstümlich ist das nicht, was Luther da gemacht hat. Es ist hohe Theologie, wenn auch in klaren Worten.

Strophe zwei sagt in klaren Worten die Weihnachtsbotschaft. Des ewgen Vaters einig Kind, jetzt man in der Krippen find’t. Der geliebte Sohn des Vaters, er kommt an unsere Seite, in eine Futterkrippe. Er, Gott, das Geheimnis der Welt, er zieht sich unsere Not an: in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut. Gott zieht sich unsere Not an.

Und weiter in Strophe 4: Den aller Weltkreis nie beschloss, der liegt in Marien Schoß. Ich stelle mir noch einmal vor, wie Luther beim Dichten nach draußen tritt und um sein Haus geht. Es ist dunkel, und er schaut in den winterlichen Sternenhimmel: Die Fülle der Sterne, der Milchstraßen und Galaxien. Er spürt den Weltkreis, das Universum in seiner Majestät, das doch Geschöpf Gottes ist: Durch ihn ist alles geschaffen, haben wir vorhin im Glaubensbekenntnis gesprochen. Und ihm wird bewusst: Dieser Gott, den aller Weltkreis nie beschloss: Er ist Menschenkind geworden, er ist an unserer Seite. Damit wir Menschen nie mehr ohne Gott sein müssen, auch in unseren Niedrigkeiten nicht. Noch steiler, noch aufregender kann man das Weihnachtsgeheimnis nicht ausdrücken, liebe Gemeinde: „er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein.“

Ist das mehr als steile Spekulation? Für Luther auf alle Fälle.  Es ist der Grund, warum er Gott vertrauen kann im Leben und im Sterben. Für ihn ist das eine Lebenshaltung geworden, die ihn bis zum Schluss trägt. Davon legt beredt ein letzter Brief an seine Frau Katharina Zeugnis ab. Luther ist krank. In diesen Zeilen kurz vor seinem Tod spricht er davon, dass seine Käthe sich keine Sorgen um ihn machen solle, denn ein anderer würde für ihn sorgen und auf ihn vertraue er: "Du, Käthe, willst sorgen für Deinen Gott, gerade als wäre er nicht allmächtig, der da könnte zehn Doktor Martinus schaffen, wenn der einzige alte ersöffe in der Saale oder im Ofenloch. Lass mich zufrieden mit Deiner Sorge; ich habe einen besseren Sorger, denn Du und alle Engel sind, - und jetzt kommt’s -: der liegt in der Krippen und hängt an einer Jungfrauen Zitzen, aber sitzet gleichwohl zur Rechten Hand Gottes des allmächtigen Vaters; Darum sei zufrieden, Amen.[5]'

Dazu möge uns dieses Weihnachten helfen und dieses Lied. Das wir uns etwas weniger Sorgen machen um uns selbst und vielleicht auch um andere. Im Vertrauen auf Christus, in dem Gott selbst an unserer Seite ist. Ich habe einen besseren Sorger, der liegt in der Krippen und hängt an einer Jungfrauen Zitzen

Dieses Geheimnis legt Luther auch in den weiteren Strophen aus, und weist dabei besonders auf eine jenseitige Hoffnung hin, auf ein kommendes Leben bei Gott, in seinem Saal, im Himmel. Er – der Sohn Gottes – ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm. Bach hat das 200 Jahre später wunderbar im Weihnachtsoratorium vertont. Und schließlich: Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an. Weihnachten, das ist der Gott für uns.

Was Luther in seinem kunstvollen Lied und durch unglaublich steile paradoxe Aussagen sagen will: Wir werden Gott nie in seinem Geheimnis vollkommen ergründen können. Er ist größer und unbegreiflicher als alles Reden von ihm. Aber er ist ein offenes Geheimnis, weil er sich uns in seinem Sohn selbst geschenkt hat. Ein Geheimnis lässt sich nicht durch Logik verstehen, sondern eher mit dem Herzen, auch in unseren Gefühlen. Und damit auch besonders durch Musik und durch Lieder. Das offene Geheimnis Gottes zu Weihnachten kann nicht ohne Lieder bleiben. Deshalb lasst uns fröhlich davon singen: „Des freu sich alle Christenheit, und dank ihm des in Ewigkeit.“

Amen

Wir singen die restlichen Strophen. Und wir nehmen die wichtigste Strophe, die vierte, noch einmal dazu. Wir singen 4-7

 

[1]   Brief an Georg Spalatin, 1523, WA Briefe 3, 220.  Nach Johannes Schilling, Luther, die Musik und der Gottesdienst, in: Luther heute. Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation. Hg. von Ulrich Heckel u.a., Tübingen 2017, S. 201

[2]    Schilling, S. 201.

[3]    Vorrede zum Wittenberger Chorgesangbuch, 1524, in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt/M. 1982, Bd. V, S. 226.

[4]   Aus: Andreas Marti, 23 Gelobet seist du, Jesu Christ, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 10, Göttingen 2004, S. 14

[5]    Brief an seine Frau, 7. Februar 1546, in: Ausgewählte Schriften (wie  Anm. 3), Band VI, S. 270.