Predigt am 2. Weihnachtstag 2019 in der Stader St. Wilhadi-Kirche

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Predigt über „Es ist ein Ros entsprungen“

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Hohe Felsgipfel, eine karge Hochebene, ein fahl leuchtender Horizont in der Dämmerung. Wolken eilen im Zeitraffer über die Berge wie kleine, weiche Nebel. Das einzige, was zu hören ist: Wind. Damit, liebe Gemeinde, beginnt der Film „Die große Stille“.

Schnitt, nächstes Bild: In einer Klosterkirche. Türen knarren, Schritte hallen durch die Gänge. Die Mönche kommen, weiße Kutten im Dämmerlicht. Sie nehmen in der Kirche Platz. Nach einem Moment der Stille beginnt das gesungene Abendgebet. Zuerst nur eine Stimme, die des Vorsängers. Dann zieht sie die Stimmen der anderen nach. Ein lateinischer Mariengesang: „Gepriesen seist du, Maria“. Vorsänger, Chor, Vorsänger, Chor.

„Die große Stille“. Ein eindrucksvoller Film aus dem Jahr 2005. 160 Minuten „Die große Stille“! Keine Interviews, keine Kommentare, keine Erklärungen. Der Regisseur erzählt in seinem Dokumentarfilm nur mit Bildern, Geräuschen und Gesängen vom Alltag der Kartäuser im Kloster „La Grande Chartreuse“ bei Grenoble. Die Kartäuser – ein katholischer Schweigeorden.

Der Film wurde und wird viel beachtet. Gibt es in unserem Land eine Sehnsucht nach Stille? Am Anfang sei sie kaum auszuhalten, die Stille dieses Films, sagten Kinobesucher, am Ende seien viele eingetaucht in diese andere Welt, in „Die große Stille“.

In der großen Stille eines Kartäuserklosters sind die Worte des Liedes „Es ist ein Ros entsprungen“ zum ersten Mal zu Papier gebracht worden. Diesem Lied will ich nachspüren.

Lasst uns die erste Strophe singen.

Ich stelle mir vor, wir drehen einen Film über das Lied.

In der ersten Szene stoßen wir auf Bruder Conrad. Bruder Conrad, Frater Conradus, ist ein alter Kartäusermönch. In seinem Gebetbüchlein aus dem Jahr 1587 findet sich die älteste bekannte Aufzeichnung des Liedes.

In unserem Film sehen wir Bruder Conrad in seiner Zelle des Kartäuserklosters in Trier. Alt ist er, der Mönch, ein alter Mann in weißer Kutte. Er sitzt da und schweigt. Eigenartig zufrieden sieht er aus. Und das hat einen Grund. Er ist vor einiger Zeit in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Hier in Trier war er aufgewachsen. Hier war er dem Schweigeorden der Kartäuser beigetreten. Eingetaucht in die große Stille, ins Alleinsein und ins Gebet.

Aber dann war er herausgerufen worden. Auch in einem Kloster muss es einen Alltag geben, Arbeiten, Essen und Trinken. Bruder Conrad war längere Zeit zum Prokurator, zum Finanz- und Wirtschaftsleiter im Kartäuserkloster in Mainz bestellt worden. Die Dienstpflichten als Prokurator hatten ihn oftmals außerhalb des Klosters geführt.

Da war manches Mal wenig Zeit zum Gebet gewesen. Doch nun ist er zum Ruhestand wieder in die Stille des Kartäuserklosters in Trier eingetaucht. Vor einigen Jahren hatte er angefangen, ein persönliches Gebetbuch zu schreiben. Nun hatte er endlich Zeit dazu. Immer wieder vor allem das sich wiederholende Herzensgebet „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“.

Bruder Conrad sitzt in seiner Zelle des Kartäuserklosters in Trier. Er sitzt da und schweigt. Er greift zur Feder und schreibt.

Er schreibt in sein Gebetbuch ein Lied, das er auf einer seiner Reisen einmal gehört hat. In Mainz muss es gewesen sein, auf dem Marktplatz, da hatte es eine Gruppe von fahrenden Musikanten gesungen.

„Es ist ein Ros entsprungen
aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.“

Conrad ist als Mönch biblisch gebildet. Er denkt an den biblischen Hintergrund und schlägt ihn in seiner Bibel auf. (Sie sehen ihn übrigens im Gesangbuch unter der Nr. 31 abgedruckt.) Eine Verheißung des Propheten Jesaja steht hinter dieser Strophe, weiß Conrad. Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Isai, im Lied Jesse genannt, das ist der Vater des Königs David. Der Prophet bringt die Erwartung zum Ausdruck, dass aus der Familie des Davids und eben seines Vaters Isai / Jesse der Messias kommen wird: Derjenige, der Gottes Herrschaft und Gottes Frieden auf der Erde sichtbar macht. Auf ihm ruhen die Hoffnungen in allem Dunkel der Gegenwart, aller Gottesferne. Durch ihn wird Gott alles neu machen. Auf ihm – so weiter bei Jesaja - wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. (Jes 11,1f)

Ja, meditiert Bruder Conrad: Diese Verheißung bringt das Lied in dem Bild eines Rosenstocks zum Ausdruck. Der Rosenstock steht für die Generationenfolge – er bringt eine neue Blüte, ein „Blümlein“ hervor. Die nächste Strophe, die Conrad schreibt, bringt diese Auflösung für das Bilderrätsel: Der Rosenstock, das ist die Mutter Maria. Ihr gilt die Strophe. Die neu hervorgebrachte Blüte, das ist das Jesuskind. Conrad schreibt in sein Gebetbuch (noch anders, als wir es kennen): 

Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaja sagt,
ist Maria, die reine,
die uns das Blümlein hat bracht.
Aus Gottes ewigem Rat
hat sie ein Kindlein geboren
und blieb ein reine Magd.

Orgelmeditation

Jetzt muss unser Film einen großen Schnitt machen. Wir springen ins Jahr 1609. 1599 war unser Lied zum ersten Mal gedruckt worden, in einem Gesangbuch in Köln. Wenige Jahre später auch in Mainz und Hildesheim.

Nur wenige Jahre darauf, im Jahr 1609, liest das bei uns in Niedersachsen der Kantor Michael Prätorius in Wolfenbüttel. Ihm gefällt der Text, ihm gefällt vor allem die Melodie. Er schreibt einen vierstimmigen Chorsatz dazu. Der wird bis heute viel gesungen und steht auch in unserem Gesangbuch. Prätorius ist ein evangelischer Kantor. Als Protestanten steht ihm doch Maria zu sehr im Vordergrund. Deshalb nimmt er am Text eine Veränderung vor.
Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaja sagt,
ist Maria, die reine,
die uns das Blümlein hat bracht.

So hatte er es vorgefunden. Als Lutheraner ist ihm aber wichtig: weniger Maria, mehr ‚Christus allein‘. Deshalb schreibt er:
Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaias sagt,
Hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd.

So ist aus dem Marienlied eine Jesuslied geworden. Jesus, das Kind in der Krippe, ist der Messias, durch den Gott alles neu macht. So singen wir es in der evangelischen Kirche bis heute. Der Preis dafür ist, dass das Bild vom Rosenstock, der eine neue Blüte – Jesus – hervorbringt, nicht mehr klar ist. Aber das Kind steht jetzt im Mittelpunkt – und das ist zu Weihnachten ja auch nicht schlecht.

Lasst uns die 2. Strophe singen:

Das Lied hat eine bewegte Geschichte. In der Frühzeit gab es eine große Zahl von zusätzlichen Strophen. Mehr als 20 Strophen hatte es. In denen wurde die gesamte Geschichte der Geburt Jesu ausführlich erzählt. Ein Beispiel nur:

Die Herberg‘ waren teuer,
sie fanden kein Auf’halt,
sie kamen in ein‘ Scheuer,
da war die Luft auch kalt.
Wohl in derselben Nacht
Marie gebar den Fürsten,
Der uns den Fried hat bracht.

Von allen 23 Strophen blieben nur zwei erhalten, die ersten beiden. Eine Weile, in der Zeit der Aufklärungszeit, wurde das Lied ganz vergessen. Erst um 1840 hat es der evangelische Pfarrer Fridrich Layritz aus Franken wiederentdeckt. Er hat es neu gedruckt mit dem Satz von Prätorius; und er hat zusätzliche Strophen hinzugefügt. Zwei von ihnen sind dann in unserem Gesangbuch abgedruckt worden, die heutige dritte und vierte Strophe.

Die dritte Strophe beschreibt noch einmal das Geheimnis des Kindes in der Krippe, in dem Gott Mensch wird: Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott. Dieses Kind vertreibt unsere Finsternis, es rettet von Sünde und Tod. Was für ein wundersames Blümlein, dessen Kommen wir Weihnachten feiern! Die gesamte Weihnachtsbotschaft in wenigen Worten:

Das Blümelein so kleine,
das duftet uns so süß,
Mit seinem hellen Scheine
vertreibt‘s die Finsternis.
Wahr Mensch und wahrer Gott;
hilft uns aus allem Leide,
rettet von Sünd und Tod.

Die vierte Strophe schließlich wirft den Blick nach vorn, auf unser Sterben: Auch dann wird dieses Kind, dieser Messias an unserer Seite stehen. Er wird uns durch das Sterben begleiten bis in den himmlischen Freudensaal, wo wir Gott loben werden.

So hat das Lied eine wechselvolle Geschichte: Ein katholisches Marienlied – gekürzt, evangelisch umgedichtet, später ergänzt.

Es nimmt die Verheißung Jesajas auf: Der Messias aus dem Stammbaum des David und des Jesse: In Jesus ist er gekommen. Aber in all dem ist es doch vor allem ein geheimnisvolles, etwas mystisches Lied. Wenn es erklingt, weckt es in uns eine Weihnachtsstimmung, einen Weihnachtszauber vielleicht, tiefer reichend als alle Worte. Ein Lied aus der großen Stille. Vielleicht kann es uns auch etwas in die Stille führen zu Weihnachten.

Ich stelle mir noch einmal den Bruder Conrad vor, damals im Advent 1587. Der erste Schnee ist gefallen.

Conrad tritt durch den Hintereingang seiner Kartause in seinen Klostergarten. Alles ist mit einer weißen Decke zugedeckt, das Gemüsebeet, das Kräuterbeet, auch das Rosenbeet.

Als sich Conrad seinem Rosenstock zuwendet, leuchtet dort eine rote Rose im weißen Schnee. Lange ruht sein Blick auf dieser einen Rose. Sie trotzt der Kälte, sie trotzt dem Winter.

Vor 30 Jahren hatten durchziehende Soldaten den Rosenstock bis auf den Stock umgehauen. Aber noch im gleichen Jahr waren aus der Wurzel die ersten frischen Triebe gewachsen, und wenige Jahre später stand die Rose wieder in voller Blüte.

Und jetzt: Eine Blüte im Schnee. So, denkt er, so ist das Kind zur Welt gekommen im Stalle. Mitten im kalten Winter. Mitten in der Kälte unserer Welt, mitten in die Kälte, die unsere Herzen manchmal befällt. Soviel verdorrt, soviel abgestorben, soviel Krieg und Leid und Tod – und dennoch: ein neuer Anfang, neues Leben. Gott fängt neu an, mit dir und mit mir. In einem Kind. Wie die Blüte im Schnee.

Dafür steht die Rose. Im Lied wird sie zum Zeichen des Lebens, zum Zeichen der Liebe Gottes.

Die Rose – schon immer Zeichen der Liebe. Und Zeichen des Lebens: Die Rose ist ohn‘ Warum. Sie blühet, weil sie blühet.

Orgelmeditation

Soviel Abschied, so viel Zerbrechen –
damals, zu Zeiten des Propheten Jesaja,
damals, zu Zeiten Jesu,
zu Bruder Conrads Zeit,
heute.
Und dennoch, nicht totzukriegen, der Rosenstock.
Er lässt eine neue Blüte hervorgehen.
Er wird zum Zeichen für das Geheimnis von Weihnachten.
Er bringt neues Leben.
Gott lässt neues Leben aufgehen.
ein neuer Anfang, neues Leben.
Gott fängt noch einmal von vorne an, auch mit dir und mir.
Immer wieder neu.

Amen

Wir singen die Strophen 3 + 4 des Liedes

 

Die Predigt folgt sehr frei einem Entwurf von Harald Storz, in: Liedpredigten zu den Gottesdiensten im Kirchenjahr, gemeinsam gottesdienst feiern 9, Hg. von Jochen Arnold, Hildesheim 2007, S. 36-43,
ähnlich auch:
http://gottesdienstinstitut-nordkirche.de/liedpredigt-es-ist-ein-ros-entsprungen/

Weitere Hinweise:

Eugen Eckert, in: Kirche klingt – 77 Lieder für das Kirchenjahr. gemeinsam gottesdienst feiern 19, Hg. von Jochen Arnold, Hildesheim 2011, S. 297-301.

Martin Rössler, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 2, (Handbuch zum Ev. Gesangbuch 3), hg. von Gerhard Hahn und Jürgen Henkys, Göttingen 2001, S. 17-25.