Predigt zur Eröffnung der Predigtreihe "Reformation und Toleranz"

Predigt am 1. September 2013 in der Stader St. Wilhadi-Kirche

Toleranz und der Glaube an den einen Gott, Mt 22,35-40

Gnade sei mit euch von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Je-sus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
TTT. Talente, Technologie und Toleranz. Für die Entwicklung und den wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes sind diese drei Faktoren entscheidend. So sagt es das renommierte Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Dass Talente, also gut ausgebildete junge Leute und Fachkräfte ein entscheidender Faktor sind, versteht man sofort. Ebenso leuchtet ein, dass Technologie und Forschung eine zentrale Rolle spielen. Aber mit dem dritten Gesichtspunkt hätte vermutlich nicht jeder gerechnet: Toleranz. Der Toleranz-Faktor ist von großer Wichtigkeit für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft, sagt das Berlin-Institut unter Rückgriff auf den amerikanischen Wissenschaftler Richard Florida. Die Toleranz einer Region kann man auch messen, sagt er. Da wird z.B. gemessen, wie hoch der Anteil der Ausländer und Migranten in einer Region ist und wie willkommen sie sind, wie viel oder wenig Ressentiments es gegen sie gibt. Gemessen wird aber auch der Anteil der ungewöhnlichen Typen, der Künstler und Kreativen, der sog. Bohemien-Faktor. Und schließlich auch die Zahl der Homosexuellen. Da gibt es tatsächlich einen „gay-index“.

In der Summe: je mehr buntes Leben, je mehr lebendige Kreativität und je mehr Toleranz, desto besser für die Entwicklung, auch für die wirtschaftliche Zukunft. Sagen jedenfalls kompetente Forscher. Toleranz macht zukunftsfähig.

Um so mehr muss alarmieren, wenn eine weitere Studie, diesmal der Bertelsmann-Stiftung, in diesem Jahr zu dem Ergebnis kommt: „Deutschland fehlt die Toleranz“. Man möchte das nicht glauben im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Ist nicht Toleranz eine unserer großen Errungenschaften, ist in unserer Gesellschaft nicht beinahe alles möglich? Aber die Ergebnisse neuer Umfragen sind deutlich: Bei der Akzeptanz von Vielfalt stehen wir Deutsche nur im Mittelfeld. Menschen mit dunkler Hautfarbe, mit fremder Herkunft, Menschen muslimischen Glaubens in unserem Land zu akzeptieren – da haben wir Nachholbedarf. Es gibt zu viele Vorbehalte gegen Menschen anderer Herkunft, Kultur und Religion, und sie haben sogar zugenommen.

Also – unser Thema der Toleranz ist aktuell. In einer immer bunteren Welt ist es eine Zukunfts- und Überlebensfrage, dass wir mit dem anderen verständnisvoll und tolerant umgehen.

Welche Rolle spielt dabei nun der Glaube? Welche Rolle spielt die Religion?

Keine Frage: Religionen und auch das Christentum haben sich in der Geschichte oft nicht leicht getan mit der Toleranz. Im Namen des Glaubens gab es Gewalt und Intoleranz. Religionsfreiheit und religiöse Toleranz sind mühsam errungen worden durch eine Geschichte mit vielen Schattenseiten. Eine lange Lerngeschichte, die nicht abgeschlossen ist.

Manche stellen nun die Behauptung auf: Religionen sind prinzipiell intolerant. Ganz besonders die monotheistischen Religionen, die also an einen Gott glauben, also Judentum, Christentum und Islam. Wer an einen Gott glaubt, heißt es, muss andere ablehnen. Wenn der eine Gott der wahre ist, dann sind die anderen Götter die falschen. Mit dem Glauben an den einen Gott ist die Alternative von wahrer und falscher Religion aufgekommen. Und dieser Gegensatz, so heißt die These, sei eine ewige Quelle von Intoleranz und Gewalt.
Es gibt nun leider keinen Zweifel: Wer nach Beispielen für Gewalt und Intoleranz in Namen der Religion sucht, wird fündig.

In diesen Tagen steht uns Ägypten besonders vor Augen. „Ich kämpfe im Namen Allahs“ sagt ein Mitglied der Muslim-Bruderschaft in einem Interview. „Ich kämpfe für Allah und wer-de nicht aufgeben. Für Allah gebe ich mein Leben und das Le-ben meiner Kinder.“ Da gefriert einem das Blut in den Adern, wenn einer im Namen der Religion das Leben seiner Kinder einsetzen will.

Aber auch unsere eigene Geschichte kennt das. Wer in der Bibel Geschichten von Gewalt und Intoleranz sucht, wird fündig. In den älteren Schichten des Alten Testamentes gibt es Berichte, in denen Menschenleben nicht viel zählen. Da tötet etwa der Prophet Elia einmal eine ganze Riege von Baalspriestern. Die Priester einer anderen Religion werden versammelt im Namen des Gottes der Bibel getötet. Für uns schwer zu ertragen. Im Alten Testament wird sehr realistisch aus der Frühzeit der Menschheit erzählt, in der auch im Namen Gottes getötet wurde. Allerdings muss man genau hinschauen. Die Geschichten spielen gerade in einer Zeit, als es einen strengen Glauben an einen Gott, also den Monotheismus, noch gar nicht gab. Als sich – später – der Glaube an den einen Gott durchgesetzt hatte – da haben die biblischen Schriftsteller dem wahllosen Morden längst abgesagt. Denn schon in der hebräischen Bibel, im Alten Testament, setzt sich, je länger je mehr, die Einsicht durch: Gott will nicht Gewalt, Gott will Frieden. Und Gott steht auf der Seite derer, die unter Gewalt und Hass und Ausgrenzung leiden. Und Jesus selbst hat sehr konsequent auf Gewalt verzichtet und sie abgelehnt.

Schlimm genug, dass es auch in der Geschichte der Kirche viele dunkle Seiten gibt. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sind die Christen immer wieder der Versuchung der Gewalt unterlegen – zweifellos ein großer Sündenfall. Ein Beispiel nur: Im Kloster Loccum feiern wir dieses Jahr das 850. Jubiläum, ein wunderbares Fest. Aber zur Geschichte des Klosters gehört auch, dass dort nach dem Jahr 1600 Frauen als angebliche Hexen verbrannt worden sind. Wenn man das nachliest, das ist kaum erträglich.

Die Gefährdung zur Intoleranz wohnt dem Glauben inne. Wo Menschen mit großer innerer Überzeugung ihren Glauben leben, da besteht diese Gefahr und - der sind Christen wie Menschen anderer Religionen immer wieder erlegen. Die Zeit der Aufklärung hat uns hier einen neuen Blick gewinnen lassen.

Aber immer wieder gab es auch die Selbstheilungskräfte der Religion, die Erinnerung an die eigenen Grundlagen – Christen haben erkannt, dass Intoleranz und Zwang ihrem Glauben widerspricht und zur Nachfolge Jesu nicht passt.

Hören wir genauer auf die Botschaft der Bibel. Ich lese aus Matthäus 22:
"Einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, fragte ihn: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt«. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten."

Um Liebe geht es im Glauben an den einen Gott. Um eine Liebesbeziehung. Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen. Aber auch: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Beides gehört zusammen. Die Liebe zu dem einen Gott – ihr Kennzeichen ist nach der Bibel gerade nicht Fanatismus oder gar Gewalt, sondern das absolute Gegenteil: Liebe. Die Leidenschaft des Glaubens ist die Leidenschaft der Liebe.

Jesus hat es sogar noch zugespitzt in der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Mt 5,43-45)

Zu dem einen Gott zu gehören – das führt nicht zur Intoleranz, sondern zur denkbar größten Toleranz, zur Liebe sogar gegenüber dem Feind. Was für ein hoher Anspruch steckt dahinter. Was für eine Quelle der Toleranz, wenn wir dieses Wort ernst nehmen – für mich bleibt das immer eine Herausforderung. Und zugleich: welche geradezu heitere Gelassenheit. Gott lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Die Sonne geht über allen auf. Ganz einfach.

Wenn Gott das so will – warum sollten wir dann richten und ausgrenzen. Eine ganze leichte, ganz unmoralische Reizung zu Toleranz, aus einer heiteren Gelassenheit heraus.
Die Bindung an den einen Gott – sie macht nicht eng, sondern weit, sie macht offen, sie macht großherzig. Die Liebe erträgt alles, sagt der Apostel Paulus. Auf Lateinisch steht da das Wort Toleranz: Caritas tolerat omnia, die Liebe toleriert alles.

Und davon lebe ich doch selbst. Ich befürchte, ich beanspruche die Toleranz meiner Mitmenschen manchmal ziemlich. Und als Christ weiß ich: Ich lebe aus der Liebe Gottes, aus der Toleranz Gottes.

Dazu gibt es die Geschichte von dem Pfarrer, der sich maßlos ärgert, dass ständig Äpfel vom Baum im Pfarrgarten gestohlen werden. Er stellt ein Schild auf: „Gott sieht alles!“ Die Kinder aber lassen sich nicht schrecken und schreiben darunter: „Aber Gott petzt nicht!“ Ein schönes Bild. Gott sieht alles, in der Tat. Vor Gott können wir nicht verbergen, wer wir sind und was wir tun. Aber Gott hält und trägt uns, auch da, wo wir Gebote überschreiten. Toleranz Gottes.

Luther sagt: Gott muss vor unseren Fehlern manches Mal ein „Tuch über die Augen tun“ und „durch die Finger sehen“. Gott will nicht hingucken bei all dem, was wir so veranstalten. Wie gut. Die Einzigartigkeit des einen Gottes ist seine Liebe. Seine Liebe erträgt nun wirklich alles. In jeder Abendmahlsliturgie singen wir: der du trägst die Sünd der Welt. Das ist Gottes Toleranz. Seine Liebe erduldet uns Menschen. Seine Liebe erträgt mich.

Der Glaube an den einen Gott ist der Glaube an den Gott der Liebe. „Gott ist die Liebe.“, sagt das Neue Testament. Daher ist die Leidenschaft des Glaubens die Leidenschaft der Liebe. Und gerade nicht die der Missachtung.

Damit ist nicht alles beliebig. Für diesen Glauben gilt es einzutreten, um Wahrheit darf gerungen werden. Beliebigkeit ist das Gegenteil von echter Toleranz. Und natürlich gibt es Grenzen der Toleranz. Gerade im Namen der Toleranz und der Liebe darf man nicht alles tolerieren, sondern muss zur Verletzung von Ehre, Freiheit und Recht des Menschen klar nein sagen. Zum Ja der Toleranz gehört das Nein gegenüber der Intoleranz.

Aber Gewalt und Zwang sind ausgeschlossen, ebenso wie innere Missachtung. Gerade aus dem christlichen Glauben heraus sind sie ausgeschlossen. Der unbedingte Wahrheitsanspruch des Glaubens begründet gerade eine unbedingte Achtung vor dem anderen. Wer sich im Glauben an den einen Gott fest gegründet weiß, der muss sich gerade nicht abschotten, sondern kann ein weites Herz für andere gewinnen, eine große Achtung für andere Menschen, andere Kulturen und Religionen.

Für uns Christen in Deutschland ist sicher die Begegnung mit den Muslimen ein besonderes Lern- und Bewährungsfeld für Toleranz. Es gibt gegen Muslime dumpfe Ängste und Vorurteile in unserem Land. Hier ist offene Begegnung dringend nötig. Einander Kennenlernen, Gastfreundschaft erleben, ist ein wichtiger Schritt zur Toleranz. Ich erlebe solche Begegnungen immer als sehr bereichernd. Man wird sich in diesen Gesprächen seines eigenen christlichen Glaubens eher gewisser. Aber es entsteht Verständnis und Respekt für den Glauben des anderen, für seine Ernsthaftigkeit und sein Engagement.

Natürlich stellt man sich dann gegenseitig auch kritische Fragen; und es gibt auch Positionen, zu denen man Nein sagen muss. Aber solche Begegnungen bereichern. In Bremerhaven ist so ein gemeinsames Gedenken an die Opfer des 11. September von Muslimen und Christen geworden – ein intensives Zeichen der Toleranz.

Unsere Zeit braucht Menschen, die mit Verschiedenheit umgehen können und die Freude daran haben. Wir leben in einer bunten Welt und das ist gut so. Wir brauchen Menschen der Toleranz um unserer Zukunftsfähigkeit willen: TTT, Talente, Technologie und Toleranz. Wir brauchen ein tolerantes Zusammenleben aber vor allem um der Menschen willen. Ich glaube, Christen können hier Vorreiter sein.
Amen.