Predigt über Mk 9,24 im Gottesdienst zum Neujahrsempfang der Region „Im Westen der Weser“ im KK Verden

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Mann ist verzweifelt. Einfach nur verzweifelt. Er weiß nicht mehr weiter. Sein Sohn ist schwer krank, schon seit Kindertagen. Die Krankheit hat tödliche Macht über den Jungen. Er bekommt schwere Anfälle, Epilepsie. Das macht ihn einsam, und das ist lebensbedrohlich, weil er bei den Anfällen ins Wasser oder ins Feuer stürzen kann. Schwer erträglich so etwas für Eltern.

Wir haben die Geschichte vorhin als Lesung gehört, liebe Gemeinde. In seiner Sorge und Verzweiflung hat der Vater schon vieles versucht. Jetzt hat er sich als erstes an die Jünger Jesu gewandt. Aber die konnten nicht helfen. Wieder eine geplatzte Hoffnung, wieder eine Enttäuschung mehr. Und übrigens – eine Ohnmachtserfahrung auch für die Jünger. Damit leben wir als Kirche, als Jüngerinnen und Jünger Jesu. Manchmal können wir nicht helfen. Das „Bodenpersonal Gottes“ stößt immer wieder an seine Grenzen und kriegt manches nicht hin. Das gehört dazu.

Dann begegnet der Mann Jesus selbst und damit der Frage: Wage ich noch einen Versuch? Lasse ich mich bei Jesus noch einmal ein auf die Hoffnung, dass Heilung doch möglich ist? Mit all diesen Gefühlen, Ängsten, Sorgen steht der Mann vor Jesus. Er versteckt sie nicht. Er spricht seine ganze Leidensgeschichte aus. Und dann sagt er zu Jesus: „Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“

Vielleicht, liebe Gemeinde, ist das einer der ursprünglichsten Sätze des Glaubens. „Wenn du etwas kannst, Jesus, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Vielleicht glaubst Du auch besonders, wenn Du nur noch diesen Satz sagen kannst: Wenn du etwas kannst, Jesus, so erbarme dich und hilf!“ Der Mann jedenfalls riskiert es – mit aller Unsicherheit, die er nicht verheimlicht.

Jesus antwortet ihm: Du sagst: Wenn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Was für eine steile Aussage: Alles ist möglich, wenn Du glaubst. Und das zu dem Vater mit dem kranken Kind. Kein Wunder – der Mann bleibt nicht ruhig. Er antwortet nicht besonnen. Nein, er schreit, so erzählt es Markus ausdrücklich. Der Mann schreit Jesus an. Das kommt auch nicht so oft vor in der Bibel – aber auch das darf sein. Auch das darf seinen Platz haben in unseren Glaubensgeschichten. Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Diese Worte schreit er Jesus entgegen. Und Jesus hilft. Er macht den Jungen gesund.

Dieses Wort Ich glaube, hilf meinem Unglauben, es ist die Jahreslosung für dieses Jahr 2020. Darüber möchte ich mit Ihnen nachdenken bei Ihrem Neujahrsempfang, bei dem ich mit großer Freude bin.

Eine sehr persönliche Geschichte ist das. Ein sehr persönliches Wort. Es zeigt einen Vater in einer absoluten Grenzsituation. Und jeder und jede von uns, der solche Grenzsituationen kennt, kann sich da schnell einfühlen. Wie das ist, wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Wenn man nicht mehr weiß, woran man sich festhalten kann. Wenn man nicht mehr weiß, ob man noch glauben kann.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Bei der Frage von Glaube und Unglaube geht es nicht um eine interessante Diskussion, um den intellektuellen Austausch von Argumenten. Es geht um die Frage, worauf ich mich verlassen kann im Leben, wenn es ernst wird, wo es Hilfe und Halt gibt in höchster Not.

Das beeindruckende an der Geschichte: Der Vater resigniert nicht. Er kämpft. Er bleibt dran. Der Vater kann seinen Unglauben nicht einfach abschütteln. Wie denn auch, nach so vielen schlechten Erfahrungen. Solche erschütternden Erfahrungen, die uns das Glauben schwermachen, kennt jeder. „Das Leiden ist der Fels des Atheismus“, sagt der Dichter Georg Büchner.

Aber der Vater bleibt dran an Jesus. Er lässt auch den Unglauben nicht über seinen Glauben triumphieren. Und am Ende erfährt er Hilfe, indem Jesus sein Kind heilt.

Der Vater wagt den Sprung in den Glauben, obwohl er zweifelt. Er vertraut, obwohl er unsicher ist. Er glaubt, obwohl ungläubige Gedanken und Gefühle an ihm zerren. Dieses „Obwohl“ ist der Mut des Glaubens. Der Mut zum Sein. Der Mut, sein Leben Gott anzuvertrauen.

Glaube und Unglaube sind immer nah beieinander. Glaube ist lebendig und daher Prüfungen und Anfechtungen unterworfen. Ich denke, jeder Christenmensch kennt auch den Zweifel, den eigenen inneren Atheismus. Ich jedenfalls kenne ihn.

Und das darf so sein, das ist das unerhört befreiende an dieser Jahreslosung. Da ist keinerlei religiöser Leistungsdruck. Der Zweifel ist zutiefst menschlich. Du darfst sein in Deinen Widersprüchen und Spannungen. Du bist gerade so von Gott angenommen und bejaht. Du stehst mit Deinem Glauben und mit Deinem Unglauben in Gottes Hand. Und diesem Glauben gilt eine große Verheißung: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“, sagt Jesus zu dem Vater. Aber das ist ein Vertrauen auf Christus, nicht auf die Kraft des eigenen Glaubens. Denn mit der ist es oft nicht so sehr weit her.

Dazu steht nicht im Widerspruch, dass ich trotzdem klar und verlässlich für eine Sache einstehe. Auch für meinen Glauben. Ja, ich kenne den Zweifel. Aber in mir ist doch immer wieder das Gefühl stärker: Ich vertraue Jesus. Ich traue dem lebendigen Gott. Ich setze bewusst auf diese Karte. Ich bin Christ. Denn ich weiß mich von ihm gehalten und getragen. Deshalb stehe ich als Christ ein für meinen Glauben. Unsere Welt braucht Christenmenschen, die für ihren Glauben einstehen. Aber eben gerade solche Christen, die dabei ihre Zweifel und Anfechtungen nicht verleugnen.

Vielleicht, geht mir durch den Kopf, ist das wie in einer Liebesbeziehung oder in einer Ehe. Ich kann mir auch nicht jeden Morgen überlegen, ob ich heute zusammenbleiben möchte oder eher nicht. Nein, ich muss und will zu einer Beziehung stehen. Verlässlichkeit ist da schon nötig und gut. Ich bin in diesem Jahr 35 Jahre verheiratet. Aber ich muss doch auch da immer wieder sagen: „Ich liebe – hilf meiner Lieblosigkeit.“ Auch da gibt es doch Zweifel, Schwankungen, Verletzungen. Und ist es nicht so, dass gerade eine Beziehung, die eine solche Spannung aushält – „ich liebe, hilf meiner Lieblosigkeit“ - gute Chancen hat, sehr stabil zu sein? Wer die pure, ungeschmälerte Harmonie an jedem Tag erwartet, wird sie schwerlich finden.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Eine sehr persönliche Geschichte ist das. Ein sehr persönliches Wort. Es geht um meinen und Deinen Glauben, um mein und Dein Leben. Es ist eine Ermutigung Jesu zum Glauben, zum Vertrauen – in allen Widersprüchen und Spannungen.

Ich möchte den Kreis aber etwas weiterziehen. Das Wort ist eine Ermutigung mit Widersprüchen und Unklarheiten zu leben. Die dürfen sein. Sie gehören zum Leben.

Heute beim Neujahrsempfang, bei dem auch die Politik und die Vereine da sind, denke ich da auch an unsere gesellschaftliche und politische Lage. Wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit Uneindeutigkeiten und Spannungen um? Wenn wir gemeinsam in dieses neue Jahr 2020 gehen: Wir haben mindestens genauso viele Fragen wie Antworten, vermutlich mehr Fragen. Wie wird die weltpolitische Lage sich entwickeln – schon die ersten Tage haben uns gewaltig in Atem gehalten im Iran und im Irak. Wie wird unser Land mit den großen Herausforderungen zurechtkommen? Dass in Sachen Klima sehr entschieden etwas geschehen muss, das kann kein Vernünftiger mehr bestreiten. Das ist auch der Verdienst der jungen Leute, die durch Fridays for Future darauf dringlichst aufmerksam gemacht haben. Aber wie wird das gelingen? Mit welchen Techniken? In welcher Gestalt, so dass unser demokratisches Gemeinwesen einen tragfähigen Konsens dazu findet, der unsere Gesellschaft nicht zerreißt? Da gibt es mindestens so viele Fragen wir Antworten. Und wer behauptet, er habe auf alles schon Antworten, sagt nicht die Wahrheit. Offenheit, Unsicherheit, Zweifel. Auch hier.

Richard Schröder, Theologie- und Philosophieprofessor und Politiker, hat jüngst in der FAZ über 30 Jahre deutsche Einheit geschrieben mit dem Ergebnis: Sie ist sehr viel besser als ihr Ruf. Heute würde viel von den großen Fehlern von damals geredet. Und ja, sagt er, natürlich sind Fehler gemacht worden. Aber wenn man das heute vorwurfsvoll sagt, dann klingt es so, als ob man das damals ohne Verluste und Nebenwirkungen hätte glatt und bruchlos hinkriegen können. Dabei war das ein Vorgang, für den es in der Geschichte keinerlei Muster gab: Eine sozialistische Diktatur in eine Demokratie und in die soziale Marktwirtschaft überführen. Dafür gab es keine Rezepte, an denen man sich hätte orientieren können. Deshalb konnte man auch die Risiken und Nebenwirkungen nicht genau kennen – wie denn auch? Man hat es gemacht, so gut man eben wusste. Sehr vieles ist gelungen, wir leben heute in einem vereinten Deutschland, in einer trotz allem stabilen Demokratie und in einem Wohlstand, den sich die allermeisten nicht hätten vorstellen können. Aber natürlich glückte auch manches nicht so gut.

Mich erinnert dieser Rückblick um 30 Jahre sehr an heute. Unsere Gesellschaft steht vor großen Veränderungen. Politisch, wirtschaftlich, ökologisch vor allem. Die Digitalisierung. Der Autoverkehr, unsere Mobilität, unser Lebensstil wird sich drastisch verändern. Wir wollen zeitgleich aus der Kernkraft aussteigen und aus der Kohle – Dekarbonisierung nennt man das. Und beides ist nötig. Aber keiner hat das Patentrezeptbuch, wie das geht. Da gibt es eine Menge Unsicherheiten, Spannungen, Ambivalenzen. Da werden wir die besten Wege suchen müssen, im Dialog. Wir werden Kompromisse finden müssen. Auf Kompromisse soll man nicht schimpfen. Sie sind die hohe Kunst der Demokratie.

Was mir Sorge macht sind diejenigen, die ganz einfache Antworten haben. Am linken Rand und derzeit ganz besonders und ganz gefährlich am rechten Rand. Ja, die Suche nach dem richtigen Weg ist mühsam und kann auch verunsichern. Aber wir müssen diesen Weg gehen und die Unsicherheiten und Spannungen aushalten: Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Die ganz einfachen Antworten der Populisten sind Gift für unser Gemeinwesen. „Die Flüchtlinge oder die Ausländer sind an allem schuld.“ „Der Klimawandel ist doch gar nicht von Menschen gemacht.“ Darüber kann man nicht mehr ernsthaft diskutieren. Lasst uns gemeinsam den allzu einfachen, populistischen Antworten entgegentreten. Hinter ihnen steht die Unfähigkeit, komplexen Situationen standzuhalten.

Zur gemeinsamen Suche nach dem richtigen Weg gehört auch ein respektvoller Umgang miteinander. Wenn keiner absolut sicher den richtigen Weg weiß, dann brauchen wir einen offenen Dialog. Auch einen kritischen Dialog, wo man sich widerspricht und um Antworten ringt, ja. Aber keinen, der den anderen herabsetzt; und das geschieht zurzeit viel zu sehr, besonders in den sogenannten sozialen Netzwerken. Selbst besonnene Leute schlagen da mit Worten aufeinander ein – das vergiftet unser Miteinander und verschiebt Grenzen. Nicht weit von hier ist gerade in Estorf bei Nienburg der Bürgermeister zurückgetreten, weil er rechtsradikale Anfeindungen und Drohanrufe nicht mehr aushalten konnte. So etwas darf nicht sein. Wir brauchen einen respektvollen und fairen Dialog, dazu kann jeder und jede von uns helfen in diesem Jahr, im eigenen Rat oder Kirchenvorstand, im eigenen Verein, am eigenen Esstisch und vor allem mit dem eigenen Smartphone.

Und das wird uns leichter fallen, wenn wir uns klarmachen. Wir leben mit Unsicherheiten und Widersprüchen: Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Keiner von uns hat den Masterplan für das kommende Jahr oder gar Jahrzehnt. Wir brauchen neue Wege, soviel ist sicher. Wir werden mit viel Mut und viel Verstand nach ihnen suchen müssen. Hören wir aufeinander bei der Suche nach den besten Wegen. Tastend vielleicht, behutsam, hörbereit.

Und: mit großem Gottvertrauen. Gott hat uns diese Erde anvertraut, dass wir sie gestalten, dass wir sie bebauen und bewahren. Aber wir sind nicht die Herren der Welt. Wir dürfen es nicht sein, und wir müssen es nicht sein. So lasst uns in das neue Jahr gehen in der Zuversicht auf Gott, der bei uns ist an allen Tagen unseres Lebens. Mit allem angefochtenen Glauben, immer wieder mit diesem „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Aber in der umso größeren Zuversicht, dass Gott selbst an unserer Seite ist.

Der große Theologe Karl Barth bekam als hochbetagter Mann am Abend vor seinem Tod einen Anruf von einem Freund. Sie sprachen über die ernste Weltlage – in manchem mit heute vergleichbar. Am Schluss sagte Karl Barth: „Ja, die Welt ist dunkel. Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert - Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!"

Amen.