Vorträge und Grußworte

GEISTLICHES WORT BEIM CDU-BEZIRKSPARTEITAG ELBE-WESER, HAMMAH, 10. JUNI 2017

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank für die freundliche und ehrenvolle Einladung, bei Ihnen sprechen zu dürfen. Wir leben in bewegten Zeiten. Sie sind in der Vorbereitung auf die Wahlkämpfe im Bund und im Land, die sind richtig und wichtig in einem Land, das dankbar ist für seine funktionierende Demokratie. Die politische Großwetterlage steht uns allen vor Augen und sie ist höchst dynamisch, verwirrend, in Teilen auch dramatisch.

Zu all dem will ich vordergründig jetzt nichts sagen. In der Kirche haben wir bewegte Zeiten durch das Reformationsjubiläum. Am 31. Oktober vor 500 Jahren wurden Luthers Thesen zum Ablass veröffentlicht. Die Jubiläumsveranstaltungen laufen auf Hochtouren. Ich nehme das zum Anlass, in meinem Geistlichen Wort etwas zu sagen zur Rolle der Politik aus Sicht der Reformation. Einiges von Luther zur Aufgabe des Politischen.

Dabei muss ich vorwegschicken: Gott sei Dank ist die Reformation heute nichts mehr, was die Konfessionen trennt. Natürlich gibt es bleibende Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Kirche, aber es gibt heute sehr viel mehr, was uns verbindet, auch in den Entdeckungen der Reformation. So bin ich froh, dass das Reformationsjubiläum vielfach ökumenisch gefeiert wird, regional hier bei uns, deutschlandweit und auch weltweit – der Papst war zu Eröffnung des Reformations-Jahres beim Lutherischen Weltbund in Lund.

Reformation und Politik – einige Bemerkungen nur zu einem Thema, das einen langen Vortrag wert wäre. Das Wichtigste dazu hat Martin Luther gesagt in einer Schrift aus dem Jahr 1523: Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei. Der Hintergrund: Martin Luther hatte auf der Wartburg die Bibel übersetzt, eine seiner großen und kulturprägenden Leistungen. Im September 1522 war das Neue Testament auf Deutsch im Druck erschienen und wurde sofort ein gewaltiger Verkaufsschlager. Aber einige Fürsten, die der Reformation entgegenstanden, hatten den Verkauf in ihren Gebieten verboten. Darauf wurde Luther gefragt: Muss man solchen Fürsten denn nun gehorsam sein? In der Bibel steht doch: Du sollst der Obrigkeit untertan sein.

Darauf antwortet Luther mit seiner Schrift und nimmt eine grundlegende Unterscheidung vor. Es gibt zwei Regierweisen, durch die Gott die Welt regiert und erhält: Die der Politik und die des Glaubens. Und die sind zu unterscheiden. Manchmal hat man das Zwei-Reiche-Lehre genannt, die in der Geschichte auch problematisch interpretiert wurde. Besser ist es, von zwei Regimenten, zwei Regierweisen Gottes in der Welt zu reden.

Zitat Luther: „Weil alle Welt böse und unter Tausenden kaum ein rechter Christ ist, würde eines das andere fressen, dass niemand Weib und Kind aufziehen, sich nähren und Gott dienen könnte, wodurch die Welt wüste würde. Deshalb hat Gott die zwei Regierweisen [Regimente] verordnet: das geistliche, welches durch den heiligen Geist Christen und fromme Leute macht, unter Christus, und das weltliche, welches den Unchristen und Bösen wehrt, dass sie … äußerlich Friede halten und still sein müssen.“[1] Das ist eine sehr nüchterne Sicht auf den Menschen und auf die Politik, übrigens auch auf die Kirche, wenn Luther sagt, dass unter 1000 ein einziger richtiger Christ sei – das ist also kein modernes Phänomen. Die Politik hat für den äußeren Frieden und das Zusammenleben der Menschen zu sorgen – nicht mehr und nicht weniger. Ich denke schon, dass das auch ein Beitrag Luthers zum Thema „Innere Sicherheit“ ist. Aus theologischer Sicht ist ein nüchterner Blick auf den Menschen angesagt: Die Menschen sind wie sie sind, da braucht es spürbare Grenzen.

Die Politik, so fährt Luther fort, hat aber keinen Einfluss auf den Glauben und die Gewissen zu nehmen. „Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich auf Erden ist. Denn über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen als sich selbst allein. Wo weltliche Gewalt sich vermisst, der Seele Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen.“[2]  Die Politik hat ihre Grenze an der Verfügung über den Herzensinhalt eines Menschen. Gewissenszwänge per weltlichem Gesetz müssen nach Luther unbedingt unterlassen werden. Denn - so wörtlich - "Gedanken sind zollfrei.." [3] Die Zollfreiheit der Gedanken und des Gewissens bildet nach Luther die Zuständigkeitsgrenze, die die weltliche Herrschaft nicht überschreiten darf.

Diese Betonung der Gewissensfreiheit durch Luther ist eine der Grundlagen der Neuzeit und hat unerhört weitreichende Folgen gehabt – ein wichtiger Grund, das Reformationsjubiläum gesamtgesellschaftlich zu feiern, bis hin zum Feiertag am 31. Oktober. Natürlich geht der Weg nicht direkt von Luther zu uns. Mit der Gewissensfreiheit war es lange auch in den evangelischen Gebieten nicht so weit her; es gab hier eine lange geschichtliche Entwicklung, besonders ab der Aufklärung. Aber die Gedanken von Luther haben natürlich eine hohe Relevanz für heute, da wir in einem weltanschaulich und religiös neutralen Staat leben. Als evangelische Kirche bejahen wir diese weltanschauliche Neutralität gerade aus Gründen des Glaubens, weil eben die Gewissen und die Freiheit der Religion und des Denkens hohe Güter sind. Man soll in unserem Land evangelisch oder katholisch oder Jude oder Muslim sein oder gar nichts glauben können – solange man sich, das ist freilich wichtig – an die Gesetze und an die Spielregeln unserer Gesellschaft hält. Und natürlich kann man das nicht sagen, ohne hinzuzufügen, dass wir die Zollfreiheit der Gedanken und des Glaubens auch für andere Länder fordern müssen, gerade auch da, wo Christen um ihres Glaubens willen verfolgt und bedrückt werden, und dafür gibt es böse Beispiele.

Nach Luther ist für den rechten Christenmenschen also ausgemacht, dass es einer staatlichen Gewalt bedarf, damit eine sichere und friedliche Ordnung der Gesellschaft besteht; nur in einer solchen Gesellschaft ist es möglich, gut und in Freiheit zu leben. Entsprechend hält der Christenmensch die Beschaffenheit der weltlichen Obrigkeit für alles andere als beliebig. Die Politik hat das Recht zu wahren und durchzusetzen. Sie muss Leib und Gut der Gesellschaftsglieder schützen und das Miteinander zum Wohl aller organisieren. Dabei darf sie – und nur der Staat darf das! – im Grenzfall auch Gewalt einsetzen. Zugleich hat sie die Gewissensfreiheit zu wahren. Diese Qualitätsforderung an die weltliche Obrigkeit – Recht wahren und Gewissensfreiheit - sind zentrale Anliegen der politischen Ethik Luthers.

Ein Motiv kommt noch hinzu. Luther greift den Gedanken der Billigkeit auf, der schon vom Philosophen Aristoteles stammt. Er besagt: Eine Entscheidung soll nicht nur den Normen und Regeln gerecht werden, sie muss auch dem jeweiligen Einzelfall angemessen sein (daher kommt übrigens die Redewendung „recht und billig“). Es kann sein, so Luther, dass die Durchsetzung von Normen mehr Unrecht oder Übel anrichtet, als darauf zu verzichten. Luther sagt wiederholt: „Wer nicht durch die Finger sehen kann, der kann nicht regieren.“[4] Aktuell: Bei aller Wertschätzung von Gerechtigkeit und Gleichbehandlung für alle: Wir alle leiden bisweilen an den Auswüchsen der Bürokratie. Vielleicht wäre es gut, da manchmal auf Luther zu hören: „Wer nicht durch die Finger sehen kann, der kann nicht regieren“ oder verwalten. Zur angemessenen Durchsetzung des Rechtes gehören Augenmaß und Billigkeit.

Ein weiterer Gedanke: Schon 1520, in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“  hat Luther dargelegt: wir alle üben unseren Beruf auch als eine Berufung durch Gott her aus. Daher kommt im Deutschen das Wort Beruf. Berufen sind nicht nur Priester oder Mönche, so hatte man bis dahin gemeint, sondern jeder und jede tut in seinem weltlichen Beruf etwas zum Dienst am Nächsten und damit auch für Gott. „Die Magd, die morgens den Hof fegt, der Soldat, der für den Frieden sorgt, der Polizist, der im Regimente sitzt und Streit schlichtet, alle sind im Namen Christi am Werk – und tun ihren Beruf im Sinne einer Berufung zum Dienst an einer Allgemeinheit.“ (Martin Luther). So sieht es Luther und das hat unerhörte Folgen gehabt für das evangelische Arbeitsethos und auch die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Der bekannte Soziologe Max Weber hat darauf aufmerksam gemacht.

Darum gibt es auch für niemanden Grund, auf die Politik herunterzuschauen. Im Gegenteil, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, ist eine Christenpflicht. Zitat Luther: „Du solltest, wenn du sähest, dass es am Henker, Büttel, Richter, Herrn oder Fürsten mangelte, und du dich geschickt dazu fändest, dich dazu erbieten und dich darum bewerben, auf dass ja die notwendige Gewalt nicht verachtet und matt würde oder unterginge.“[5] Henker haben wir Gott sei Dank nicht mehr. Aber was gemeint ist, ist klar: Politik einschließlich der Instrumente, die zum Gewaltmonopol des Staates gehören, also Polizei und Justiz, sind mit Respekt zu behandeln, und man soll als Christ diese Aufgaben auch übernehmen, wenn sie gebraucht werden.

Zu den traurigen aktuellen Phänomenen gehören ja Shitstorms aller Art. Das kriegt jeder Mal was ab, aber Politiker wohl besonders. Politikerbashing ist in. Ich finde die pauschale Kritik an den Politikern und den Parteien mehr als fatal. Wir brauchen mehr denn je Menschen, die sich für das Allgemeinwohl einsetzen. Deshalb möchte ich Ihnen ausdrücklich danken für Ihr Engagement in der Politik. Und bin damit auch nah bei Luther, auf dass ja die notwendige Gewalt nicht verachtet und matt würde oder unterginge.

Natürlich darf man überhaupt nicht übersehen, dass es zwischen der Reformation und heute große Unterschiede gibt. Damals ging man von einer festgefügten Differenz zwischen Obrigkeit und Untertanen aus. Das ist uns heute fremd, in Zeiten der Demokratie haben alle die Möglichkeit, an der Gestaltung des Gemeinwesens mitzuwirken und alle sind dazu aufgerufen.

Die Evangelische Kirche hat das ziemlich spät, 1985 in einer Denkschrift zur Demokratie grundlegend festgestellt. Aktuell möchte ich Ihnen berichten, dass unsere hannoversche Landeskirche gerade an einer grundlegend erneuerten Kirchenverfassung arbeitet. In dem Entwurf, der jetzt am 1. Juni zur öffentlichen Stellungnahme freigegeben worden ist, ist ausdrücklich ein ganz neuer Artikel enthalten, in dem ein klares Bekenntnis zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat formuliert ist. Wir haben das auch deshalb hineingeschrieben, weil das von allen Religionsgemeinschaften in Deutschland, etwa auch von muslimischen, erwartet werden muss: Ein Bekenntnis zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat.

Weiter heißt es in dem Verfassungsentwurf, dass unsere Kirche sich beteiligt am politischen Diskurs (wie das im Einzelnen geht, wäre ein eigenes Thema, das ist manchmal ja auch etwas strittig). Im Blick auf die einzelnen Kirchenmitglieder wird dann formuliert. Zitat: Als Christinnen und Christen übernehmen [die] Mitglieder [der Landeskirche] Mitverantwortung für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens. Sie wirken an der öffentlichen Willensbildung mit und engagieren sich zivilgesellschaftlich. Unsere neue Kirchenverfassung soll also eine ausdrückliche Ermutigung zum politischen gesellschaftlichen Engagement enthalten. Darüber freue ich mich sehr.

Ein letztes Zitat von Luther: „Deshalb muss man diese beiden Regimente mit Fleiß voneinander scheiden und beides bleiben lassen: eines, das fromm macht, das andere, das äußerlich Frieden schaffe und bösen Werken wehret. Keines ist ohne das andere genug in der Welt.“[6]

Beide Regierweisen Gottes sind nötig: Die der Religion, allgemeiner gesprochen der inneren Orientierung des Menschen, der Werteorientierung. Und die der politischen Gestaltung des Gemeinwesens mit allem, was heute dazu gehört, und das ist sehr viel mehr, als bösen Werken zu wehren.

Beide Bereiche sind aufeinander bezogen und brauchen sich. Beide haben eigenständige Aufgaben, die sie in eigener Verantwortung wahrnehmen. Kirche und Religion müssen frei sein vor unmittelbarer staatlicher Einflussnahme. Umgekehrt müssen Staat und Politik frei sein von klerikaler Bevormundung und kirchlicher Besserwisserei.

Aber wir haben und wollen im Staat des Grundgesetzes auch keine Scheidung und liegen damit bei allen Umbrüchen auf Luthers Linie: Keines ist ohne das andere genug in der Welt. Die Kirchen brauchen und unterstützen einen Staat und eine Politik, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Der Staat wiederum benötigt Instanzen, die auf die Gewissensbildung der Menschen Einfluss nehmen. Denn – so das berühmte Zitat des Verfassungsrichters Böckenförde: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Die Kirchen haben nach Luther beizutragen zu einer Ethik der Gesetzesbefolgung: Es ist richtig, seine Steuern zu bezahlen. Nicht nur, weil man sonst (hoffentlich) erwischt wird, sondern weil es wichtig ist, angemessen zum Gemeinwohl beizutragen.

Ich komme zum Schluss. Zu den Grundeinsichten der Reformation gehört die Unterscheidung zwischen dem Letzten und dem Vorletzten. Wir können und sollen diese Welt so gut und verantwortlich gestalten wie möglich. Wir sind aber nicht die Herren der Welt und wir müssen es auch nicht sein. Martin Luther sagt: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa.“ Das ist eine große Befreiung, wenn man das ernst nimmt. Es macht Herz und Kopf und Hände frei, das zu tun, was uns möglich ist – und zugleich auf Gott zu vertrauen. In diesem Sinn wünsche ich für Ihre politische Arbeit und Ihre Beratungen Gottes Segen.

Vielen Dank.

 

[1] Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11, S. 251.

[2] a.a.O., S. 262

[3] a.a.O., S. 264

[4] a.a.O., S. 276

[5] a.a.O., S. 255

[6] a.a.O., S. 252