Predigt beim 40-jährigen Jubiläum des Ev. Bildungszentrums Bad Bederkesa, 17.9.2022

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

„auf diesem Hügel liegt Segen“. Dieses Wort hat mich angerührt. Es ist ja hoch spannend, sich bei solch einem Jubiläum mit der Geschichte zu beschäftigen. Und dabei hörte ich die wunderbare, mündlich tradierte Geschichte, dass es in der Frühzeit der Entstehung eine landeskirchliche Kommission gab, die mögliche Standorte für ein Sprengelzentrum prüfen sollte. Lilienthal war im Gespräch, Bremervörde, Sittensen, und eben Bederkesa. Zu der Kommission gehörte eine Diakonisse aus Rotenburg, sie stand mit der Gruppe hier auf dem Grundstück, auf dem damals ein Campingplatz war, von dem man noch frei auf den See schauen konnte, und sagte: „Wie schön es hier ist. Auf diesem Hügel liegt Segen“. Und so entschied man sich für Bederkesa, wofür auch noch ein paar weitere Argumente sprachen, die Nähe zu Bremerhaven etwa und die Stärkung der Nordregion.  

Ja, auf diesem Ort liegt Segen. Das ist der Grund, dass wir heute beisammen sind. Um zu feiern, was seit vier Jahrzehnten hier geschehen ist.

Die Anfänge gehen ja zurück bis in die frühen 70er Jahre, zur Zeit von Landessuperintendent Kruse. (Darauf bezogen hätten wir also tatsächlich 50 Jahre, während die „50“ auf der Einladung, mein lieber Jörg, als Addition von 40 Jahren Bildungszentrum plus 10 Jahre Kompetenzzentrum ja ein ganz wenig gewollt ist.) Die Standortsuche war abgeschlossen, als im Juni 1974 ein Architektenwettbewerb gestartet wurde. Landessuperintendent Kruse, später Bischof von Berlin und Ratsvorsitzender der EKD, der vor Kurzem verstorben ist, nannte als Ziele der Einrichtung: „Fortbildung, Erfahrungsaustausch, Gemeinschaftserfahrung, Hilfe zur Konfliktlösung und zur Stärkung der Toleranz, Ermutigung zum Mittun, Wachsen im Glauben, Freitzeiterleben.“ Und das im Dialog mit Schule, Kommunen, Industrie usw. Ein Programm, das sich erweitert hat, das aber bis heute aktuell ist. Schließlich sagte er: „Wir brauchen ein schönes Haus, denn Kirche muss in unserer Zeit menschlicher, kontaktfreudiger, beweglicher werden.“ So 1974.

So kam der Architekturwettbewerb. Und dann kam noch etwas, was uns sehr aktuell erscheint, das Geld wurde knapp. Es gab eine Rezession, die Landeskirche verhängte einen Stopp. So ging es erst in der Zeit von Landessuperintendent Karl Manzke wieder voran. Die Landessynode bewilligte, offenbar mit sehr knapper Mehrheit, die Mittel - sechs Mio. Mark waren damals sehr viel -, und es kam ein schönes Haus, das dann im Lauf der Zeit noch schöner und größer und ökologischer wurde. Am 27. September 1982 wurde das Sprengelzentrum feierlich eröffnet, beinahe genau vor 40 Jahren. Fünf Jahre später, 1987, wurde es als Heimvolkshochschule eine offizielle Einrichtung der Erwachsenenbildung.
Bis 1994 übernahm Martin Pluskwa die Leitung. 1995 kam Jörg Matzen – das sind jetzt schon mehr als 27 Jahre und damit mehr als zwei Drittel der Zeit des Bildungszentrums. Es kamen Sanierungen, Erweiterungen, die Einrichtung des Kompetenzzentrums, das Kloster Neuenwalde, die Übernahme der Trägerschaft durch einen Verband aller Kirchenkreise im Sprengel und damit noch einmal eine intensivere Verankerung im ganzen Sprengel. Es kamen viele neue Themen: Inklusion – ganz wichtig –, sehr früh und wuchtig schon das heute zentrale Thema „Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit“, Digitalität, Migration, Demokratie, Gesundheit, Kunst und Theater, Lernräume für Kinder (ich stehe immer noch auf der Warteliste für ein Internetseepferdchen). Dazu immer wieder auch Spiritualität und Theologie, etwa in der Begleitung von Lektorinnen und Prädikanten oder beim Thema Sterbebegleitung. Wir werden zur Geschichte heute noch viel hören.

Ein solcher Tag ist Anlass, vielen zu danken. Allen, die das Bildungszentrum mit auf den Weg gebracht haben und die sich seit 40 Jahren dafür engagieren im gesamten Umfeld. Ganz besonderer Dank gilt natürlich denen, die im Haus und im Team mitgearbeitet haben und es heute tun. Viele Namen wären zu nennen, ich glaube es ist nicht verfehlt, wenn ich einen besonderen und großen Dank an Jörg Matzen ausspreche, ohne den unser Bildungszentrum nicht da wäre, wo es ist. Vielen Menschen danke ich – und ich danke Gott für alles, was geschehen konnte in diesen 40 Jahren. Ja, dies ist ein Ort des Segens. Ein Ort des Segens vor allem für die ungezählten Menschen, die hier gute und wichtige Impulse für ihr Leben empfangen haben.

1981 ist der Grundstein für dieses Haus gelegt worden. Ein Foto davon gibt es, es hat in Strömen geregnet. In Stein gemeißelt ist in den Grundstein das Wort, das das Motto für die Arbeit in diesem Haus legen soll: Johannes 8,32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das Wort, hier im Untergeschoss in Stein gemeißelt, ist ganz schön kantig. Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit. Das war schon vor 40 Jahren alles andere als eindeutig, heute ist es das gewiss noch weniger, in einer multikulturellen und multireligiösen und in jeder Hinsicht unübersichtlichen Welt. 

So einen Grundstein, den sieht man ja nicht jeden Tag, viele haben ihn vermutlich noch nie gesehen. Aber er bildet doch ein wichtiges Fundament des Hauses, er gibt eine innere Richtung vor, auch wenn man das nicht jeden Tag bewusst vor Augen hat. Ich will über das Wort einen Moment nachdenken.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das Schöne an Worten der Bibel (und nicht nur der Bibel) ist, dass sie nicht nur eine Deutung zulassen, sondern dass sie offen sind für Deutungen, dass sie Räume eröffnen, Räume der Deutung, des Denkens, des Dialogs. Und dann ist so ein Wort gar nicht mehr so hart in Stein gemeißelt.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen“. Wenn ich zunächst auf den biblischen Zusammenhang schaue, dann ist völlig klar: Das ist nicht ein logischer oder ein philosophischer Begriff von Wahrheit, sondern hier geht es um Jesus Christus selbst. Zunächst um seine Worte. Der ganze Satz lautet: „Wenn ihr an meinem Wort festhaltet, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Es geht also um das, was Jesus verkündigt hat, um seine Worte. Seine Geschichten und Gleichnisse, in denen er von Gottes Liebe erzählt. Seine Weisungen auch, wie ein Leben in Liebe und Barmherzigkeit möglich ist. Wer sich an diesen Worten orientiert, der wird Freiheit erfahren. Wenig später identifiziert Jesus sich bei Johannes selbst mit der Wahrheit: „Ich bin die Wahrheit, sagt er. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6). Eine große Zusage, eine Einladung. Im Vertrauen auf Christus öffnet sich ein Weg des wahren Lebens. So ist er die Wahrheit. Das Wort ist auch ein Anspruch, der Christenmenschen in die Pflicht nimmt und der sie in kritischen Dialog mit anderen Wahrheitsansprüchen stellt. Ein beliebiges „alles ist möglich“ ist auf dieser Basis nicht möglich.

Aber: Diese Wahrheit ist keine Lehre, keine Theorie, sondern sie ist auf eine Person bezogen, sie ist eine Sache des persönlichen Glaubens, des Vertrauens auf Christus, der einen Weg des Lebens eröffnet.

Dieses Vertrauen auf Christus ermöglicht Freiheit, die Freiheit eines Christenmenschen. Die Wahrheit wird euch frei machen! Diese Freiheit kann einen inneren Halt, eine innere Resilienz schenken in den Gefahren und Unberechenbarkeiten des Lebens, die wir heute so ernst erleben. Die Wahrheit wird euch frei machen, frei auch vor der Angst zu versagen oder nicht zu genügen – das ist wichtig ja auch für ein offenes Miteinander in Bildungsprozessen, in denen jeder Mensch in seiner Würde gleich zählt. Bindung an Christus – und eine große Weite im Denken und im Handeln. Für unser Haus heißt das für mich: Bildung im Zeichen der Freiheit eines Christenmenschen. Dafür steht das Grundsteinwort. Und damit für ein kirchliches Bildungszentrum mit einem klaren eigenen Profil, etwa in den täglichen Andachten – und mit einer großen Weite, mit Offenheit und Sensibilität für den eigenen Weg jedes Menschen, als ein Ort des Dialogs und gelebter Toleranz. Und immer auch im Ringen um die Wahrheit.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Wenn man weiß, was man tut, finde ich es legitim, das Wort auch aus seinem ursprünglichen Zusammenhang zu lösen und als eine generelle Aussage über Wahrheit zu verstehen. Dafür gibt es übrigens ein prominentes Vorbild. Am Hauptgebäude der Universität Freiburg steht das Wort „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ 

„Die Wahrheit“ als Leitbegriff für Wissenschaft, für Bildung, für unser Handeln in Kirche oder Politik. Das ist steil, das erfordert kritische Debatten. Aber ist Wahrheit heute nicht auch sehr nötig? Was erleben wir da an Fakenews und alternativen Fakten. Es wird gelogen wie gedruckt, und das verbreitet sich über digitale Medien rasend schnell. Da braucht es Aufklärung und Bildung - im Namen der Wahrheit – und zwar eines Begriffes von Wahrheit der schlicht darauf schaut, dass das, was ist und was gesagt wird zusammenpassen. Dass „Aussage und Wirklichkeit übereinstimmen“, so sagt es unsere abendländische Tradition seit Aristoteles und Thomas von Aquin, und das ist erstaunlich aktuell. Die Verbreitung von Unwahrheit ist leider längst auch zur Kriegsmethode geworden. Wladimir Putin hat 300 Mio. in den Informationskrieg (oder genauer Desinformationskrieg) gesteckt, berichtet die FAZ am Donnerstag. Unwahrheit und Lüge wollen Freiheit und Demokratie zerstören. Bildung im Namen der Wahrheit – das ist auch eine Aufgabe, die dem Frieden dient, weil sie gegen Fehlinformation wie gegen Vorurteile angeht. Wage es, deinen Verstand zu gebrauchen! Die Wahrheit wird euch frei machen.

Ich komme noch einmal zur Freiheit eines Christenmenschen. Sie steht für mich in diesen Tagen auch für die Fähigkeit, Uneindeutigkeiten auszuhalten und Ambivalenzen. Man spricht heute – eine schweres Wort - von „Ambiguitätstoleranz“. Je schwieriger die Zeiten, desto mehr wollen viele Menschen klare und vor allem einfache Antworten. Diese Sehnsucht bedienen politische Extremisten auf beiden Seiten. In diese Kerbe haut jeder religiöse Fundamentalismus. Da müssen wir klar widersprechen, das ist ein falscher Umgang mit unserem Grundsteinwort. Ein Umgang, der nicht sieht, dass die Wahrheit, die Christus ist, in die Freiheit führt und nicht in die Enge. Aber auch Verschwörungstheorien sollen diese komplizierte Welt auf verrückte Art irgendwie erklären, indem ein ganz einfacher Plan hinter allem behauptet wird, Bill Gates oder der große Reset oder was immer. An diese Herausforderung unserer Zeit verbinden sich für mich beide Verständnisse von Wahrheit. Hier ist Aufklärung im Lichte der Wahrheit nötig, die falschen und vereinfachenden Thesen klar widerspricht. Und hier kann die Freiheit eines Christenmenschen eine große Hilfe sein. Wo Menschen sich im Glauben an Gott gehalten wissen, können sie besser aushalten, dass die Welt uneindeutig und komplex ist. Erst das ermöglicht das offene Gespräch, den Austausch über unterschiedliche Perspektiven. Dann muss man andere Meinungen nicht als Bedrohung empfinden, sondern kann sie gar als Bereicherung sehen. Dann wird das Ringen um Wahrheit niemals ohne Liebe und Verständnis sein und damit nicht hart und unbarmherzig werden.

Für dieses Gespräch ist unser Haus ein sehr guter Ort. Deshalb ist es ein Segen, dass es diesen Ort gibt. Und wir erbitten Gottes Segen für die Zukunft, für alle die hier arbeiten und die hier ein- und ausgehen.

Amen