Grußwort zur Eröffnung der Pilger-Ausstellung "Wege in den Himmel"

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

2. Oktober 2020, St. Wilhadi-Kirche, Stade

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Düselder,
sehr geehrter Herr Dr. Möllers,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Geschichtsschreibung und Archäologie sind manchmal spannend wie ein Krimi. Das spürt man, wenn man sich den Ursprüngen dieser eindrücklichen Doppelausstellung nähert, deren Stader Teil wir heute eröffnen. Da sind 1989 und dann vor allem 2013 im Rahmen von Bauarbeiten Ausgrabungen im Stader Stadthafen gemacht worden, und im Schlick fanden sich jede Menge Fundstücke. In einer eindrucksvollen Kärnerarbeit wurde die gesamte ausgegrabene Erde an vielen Wochenenden durchsucht und „geschlämmt“, vor allem von vielen Ehrenamtlichen – und am Ende waren unter den über 1 Mio. kleinen Fundstücken auch über 200 Pilgerzeichen. Mit deren Hilfe lässt sich die Geschichte von Pilger- und Wallfahrten in Norddeutschland weiter- und neu schreiben, indem man sie man anderen derartigen Funden und mit vielen anderen Quellen verbindet. Das ist höchst fachkundig geschehen für diese Ausstellung und für ihren exzellenten, über 500 Seiten starken Katalog. Sie bieten auf einem neuen wissenschaftlichen Level ein eindrückliches Gesamtbild des Pilgerns im Spätmittelalter und damit eines wichtigen Bestandteils des religiösen Lebens jener Zeit.

Es ist mir eine Freude und Ehre, Sie als Regionalbischof für den Sprengel Stade zur Eröffnung der Stader Ausstellung in der St. Wilhadi Kirche begrüßen zu dürfen. „Wege in den Himmel“, unter diesem Motto startet in Stade der zweite Teil der Doppelausstellung zur den „Pilgerspuren“. Ganz abgesehen, dass wir in der Kirche unter Corona-Bedingungen mit relativ vielen Menschen zusammenkommen können: Wo, wenn nicht in einer Kirche, könnte eine Ausstellung unter diesem Leitmotiv passend eröffnet werden. Jede Kirche ist für uns ein Zeichen für „Wege in den Himmel.“ 

Der Ausgangspunkt des Projektes der „Pilgerspuren“ also liegt im Schlick des Stader Hafens und den dort ausgegrabenen Pilgerzeichen. Darüber werden wir heute Abend noch einiges erfahren. Die Ausstellung und der Begleitband bieten wichtige Einsichten und eindrückliche Dokumente zur Frömmigkeitsgeschichte sowie zur Geschichte unserer Region. Wunsch der Ausstellungsverantwortlichen ist es zugleich, durch den Blick in die Vergangenheit dem modernen populären Pilgerwesen historische und spirituelle Horizonte zu eröffnen. Darüber freue ich mich.

Denn es ist keine Frage: Das Pilgern erlebt in den letzten Jahrzehnten einen ungeheuren Boom, nicht erst seit Hape Kerkeling. Und auch im protestantischen Bereich. Ich selbst habe im vergangenen Jahr eine zehnwöchige Pilgertour mit dem Fahrrad nach Jerusalem machen können. Ich habe mit Begeisterung viel Neues gelernt auf den gut 60 Seiten des Katalogs über Pilgerreisen aus Norddeutschland nach Jerusalem. Nicht sicher bin ich mir seither, ob ich einen Fehler gemacht habe, dass ich in Jerusalem auf eine Pilgertätowierung verzichtet habe. In jedem Fall freue ich mich, darüber im Begleitprogramm der Ausstellung einmal erzählen zu dürfen.

Selbstverständlich ist das ja gar nicht, dass heute auch im protestantischen Bereich das Pilgern so hoch im Kurs steht. Die Reformation hat dem mittelalterlichen Pilgerwesen ein Ende gemacht, und zwar, weil sie ihm von innen her die Grundlage entzog: Der Glaube, dass man durch Wallfahrten den „Weg in den Himmel findet“, damit hat Martin Luther Schluss gemacht. Dagegen steht die von ihm wiederentdeckte Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben. Allein durch die Gnade Gottes, allein durch Christus ist der Mensch vor Gott angenommen und bejaht, dazu kann und dazu muss er nichts tun. Auch keine Pilgerfahrten. Die helfen dazu gar nichts.

Mir stellt diese Ausstellung vor Augen, dass man nicht zu schnell eine sozusagen kurzschlüssige Verbindung ziehen darf vom mittelalterlichen Pilgerwesen zu unserem heutigen Pilgerboom. Die religiöse Vorstellungswelt ist uns sehr fremd, und das gilt heute für evangelische wie für katholische Christinnen und Christen. Der ganze Gedanke der Verdienstlichkeit trägt gar nicht. Dass man gar für Geld andere mit Pilgerfahrten beauftragen kann, die dem eigenen Seelenheil zugutekommen – das war üblich damals, aber auf die Idee kommt heute zurecht niemand mehr. Und dass ein Mörder oder Totschläger eine Pilgerfahrt machen soll, wie alte Sühneverträge zeigen – das wäre pädagogisch vielleicht sinnvoll. Aber dass es zugunsten der Seele seines Opfers nötig wäre, ist uns ein sehr befremdlicher Gedanke.

Es kann nicht überraschen, dass Martin Luther 1520 – vor genau 500 Jahren – gefordert hat, „es sollten alle Wallfahrten beseitigt werden.“ Vom „Narrenwerk“ hat er gesprochen. Und das hatte eben eine gewaltige Wirkung. Immerhin gestand er aber auch zu, dass Wallfahrten als solche nichts Schlechtes wären, sondern nur dann, wenn man sie als religiöse Leistung versteht. Wenn einer „aus Lust“ pilgert, „Länder und Städte zu besehen, soll man ihm seinen Willen lassen.“

So haben wir auch in der evangelischen Kirche seit einigen Jahrzehnten das Pilgern wieder neu entdeckt. So wie ganz viele Menschen aus allen Konfessionen und auch viele Zeitgenossen, denen die verfassten Kirchen sonst fremd sind.

Was macht das Pilgern so attraktiv? Pilgern ist der Ausstieg aus der Spirale der Beschleunigung, in der wir alle stehen. Ein Ausstieg aus dem Überangebot an Konsum, das uns überfordert und zugleich innerlich nicht satt macht. Sich auf die Pilgerschaft zu begeben, bedeutet Reduktion, bedeutet, sich auf eine Konzentration des Lebens einzulassen – und das tut wohl. Weniger ist mehr - das gilt nicht nur für den Rucksack. Die Freiheit des Augenblicks zählt.

Pilgern ist ein ganz natürliches Geschehen: Der Mensch bewegt sich in dem ihm angemessenen Tempo. Eine Erfahrung, die gerade in Zeiten von stetiger Beschleunigung ein wahrer Luxus ist. Zugleich weist das Pilgern auf das christliche Verständnis des Lebens hin. Gerhard Tersteegen hat gedichtet – es ist zu finden im Evangelischen Gesangbuch: „Man muss wie Pilger wandeln, frei, bloß und wahrlich leer; viel sammeln, halten, handeln macht unsern Gang nur schwer. Wer will, der trag sich tot; wir reisen abgeschieden, mit wenigem zufrieden; wir brauchen’s nur zur Not.“  (EG 393, Strophe 4).

Man wird kaum übertreiben, wenn man das Pilgern selbst als eine kleine Reformation innerhalb der evangelischen Kirche beschreibt, eine Erneuerungs-Bewegung – im wahrsten Sinne des Wortes: Menschen machen sich auf den Weg, fragen neu nach den Grundlagen ihres Lebens und Glaubens, besuchen Kirchen und Klöster, machen allein oder gemeinschaftlich intensive Erfahrungen mit der Schöpfung, mit sich selbst, mit anderen und mit Gott. Und das alles in großer Freiheit, denn jeder und jede bestimmt selbst, in welchem Maß er sich körperlich auf den Weg macht und innerlich auf christliche Frömmigkeit und Glauben einlässt. Gerade darin ist das Pilgern eine sehr evangelische Form der Spiritualität. Und zugleich erfreulicherweise eine sehr ökumenische.

Als evangelische Kirche unterstützen wird das Pilgern und die Pilgernden. Eine Vielzahl von Pilgerwegen ist in den letzten Jahrzehnten entstanden, Pilgerbegleiterinnen und –begleiter wurden ausgebildet, Pilgerpastoren begleiten und koordinieren die Arbeit. In unserer hannoverschen Landeskirche betreiben wir einen Pilgerweg vom Kloster Loccum zu seinem Mutterkloster Volkenroda in Thüringen bereits seit dem Jahr 2005. Durch unseren Sprengel Stade und damit das Elbe-Weser-Dreieck führt mit Unterstützung der Kirchen seit nunmehr sechs Jahren der Radpilgerweg „Mönchsweg“.

Das Pilgern ist unserer eigenen christlichen Tradition tief eingeschrieben, aber eigentlich auch allem bewussten Menschen-Leben. Das Pilgern erinnert uns daran, dass wir alle auf der Wanderschaft sind durch diese Zeit. Und dass für jeden von uns diese Wanderschaft endlich ist. Dafür ist das Pilgern eine Einübung. Wir alle sind als „Pilger, Fremdlinge und als Gäste“ (Luther) auf dieser Welt unterwegs.

„Wege in den Himmel“ zeigt uns die Pilger-Ausstellung im Schwedenspeicher. Ich persönlich freue mich sehr darauf, die Ausstellung erkunden zu können. Ich danke allen Akteuren für die große geleistete Arbeit. Und ich wünsche allen Besucherinnen und Besuchern, dass der Wunsch der Ausstellungsmachenden in Erfüllung geht: Neue historische und spirituelle Horizonte zum Pilgern auch für uns moderne Menschen zu eröffnen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!