"Stille Nacht, heilige Nacht"

Andacht von Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Heiligabend in einem kleinen Dorf. Der junge Pfarrer Joseph Mohr eilt zur Christmette. Bei sich trägt er einen Liedtext, den er schon vor längerer Zeit gedichtet hat. Aber es fehlt noch die Melodie. Der Organist Franz Xaver Gruber steuert sie bei. So erklingt am 25. Dezember 1818, vor genau 200 Jahren, in der Nähe von Salzburg erstmals das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht.“

Durch eine reisende Musikerfamilie wird das Lied schnell bekannt. 1831 singen sie es in Leipzig, 1839 schon in New York. Zum endgültigen Durchbruch kommt es, als in Hamburg Johann Hinrich Wichern, der Begründer moderner Diakonie, das Lied in ein Liederbuch für seine Heimkinder aufnimmt.

Es gibt gewiss Lieder mit tiefgründigerem Text. Aber dieses rührt die Herzen an. Für viele Menschen auf der Welt ist gerade „Stille Nacht“ der Inbegriff von Weihnachten. In mehr als 300 Sprachen rund um den Globus wird davon gesungen, dass mit Christi Geburt etwas grundstürzend Neues geschehen ist: „Christ, der Retter ist da!“ Denn Gott kommt an unsere Seite als ein Kind: „Holder Knabe im lockigen Haar.“ Was für manche arg süßlich klingt, meint doch nur das Staunen darüber, dass Gott in seiner Allmacht in der Ohnmacht eines neugeborenen Kindes erscheint. Gott ist an unserer Seite, gerade in unserer Niedrigkeit.

Was so sehr zu Herzen geht, kann man missbrauchen. Zu Weihnachten 1942, als der deutsche Eroberungskrieg seinen schrecklichen „Höhepunkt“ erreicht hat, macht das Radio eine Zusammenschaltung von den entlegensten Orten der Front: aus Stalingrad und vom Atlantik, aus Nordnorwegen und Kreta kommen Weihnachtsgrüße. Und es wird zusammen „Stille Nacht“ gesungen. Für die Angehörigen zu Hause gewiss höchst bewegend. Und doch perverser Missbrauch eines Weihnachtsliedes.

Es geht auch anders. Schon 1914 erklingt „Stille Nacht“ in den Schützengräben des 1. Weltkrieges. Für wenige Stunden schwei­gen die Waffen. An der Westfront legen alliierte und deutsche Soldaten ihre Gewehre zur Seite und reichen sich die Hand. Erst summen sie, dann singen sie „Stille Nacht“, jeder in seiner Sprache.

Weihnachten unterbricht unsere friedlose Welt und zeigt, dass ein anderes Miteinander möglich ist. Ursprünglich hatte „Stille Nacht“ sechs Strophen statt der heute gesungenen drei. In einer hieß es ausdrücklich: Stille Nacht! Heilige Nacht! / Wo sich heut alle Macht / Väterlicher Liebe ergoss / Und als Bruder huldvoll umschloss / Jesus die Völker der Welt.

Schon das Lied sprach also davon, dass die Weihnachtsbotschaft allen Menschen gilt: Jesus umschließt die Völker der Welt. So kommt Gottes Liebe ans Ziel. Das ist auch die Botschaft der Engel: „große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“ Weihnachten verbindet die Völker: „Friede auf Erden“  

Mit seiner ruhigen Melodie und den schlichten Worten beschwört das Lied ein Bild herauf von einer friedlichen Welt. Es tröstet und weckt die Zuversicht, dass der Himmel für uns offensteht.

Mit unseren Weihnachtsliedern singen wir gegen eine Welt an, in der das Recht des Stärkeren gilt, Rassismus das Wort führt und Kriege an der Tagesordnung sind. Wir unterbrechen damit Hektik und Friedlosigkeit und singen etwas von Gottes heilvoller Gegenwart in unsere Welt hinein. Denn Gott selbst ist uns nahegekommen und überlässt seine Menschen nicht sich selbst.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein gesegnetes, friedsames und klangvolles Weihnachtsfest.

Landessuperintendent
Dr. Hans Christian Brandy, Stade