Predigt am Ewigkeitssonntag 2023

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Offenbarung 21, 1-5

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Für die Predigt hören wir auf eine der Lesungen für diesen letzten Sonntag im Kirchenjahr, den Toten- und Ewigkeitssonntag. Sie steht im vorletzten Kapitel der Bibel, Offenbarung 21:

1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Liebe Gemeinde,

Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, so hören wir. Auch in diesem Jahr sind viele Tränen geweint worden. Viele sind heute gekommen, um noch einmal zu denken an liebe und wichtige Menschen, die in diesen letzten zwölf Monaten von uns gegangen sind. Da sind viele Tränen geweint worden. Manche sind inzwischen getrocknet, manche auch noch gar nicht. Manche Trauer hat sich ein wenig gesetzt, andere ist noch immer oder jedenfalls immer wieder wie eine schmerzende Wunde.

Auch ich denke an liebe Menschen, an deren Grab ich in diesem Kirchenjahr gestanden habe. An meine Lieblingspatentante, die für uns wie eine Mutter war – 95 hat sie werden dürfen. Aber auch an einen meiner langjährigsten Freunde. Nur drei Jahre älter als ich war er. Krebs.

Jeder Mensch, an den wir heute denken, war einzigartig, jede Beziehung war einzigartig, jeder Abschied war einzigartig. Und auch jede Trauer ist einzigartig.

Als ich vor über dreißig Jahren mein Examen gemacht habe, haben wir noch gelernt, es gebe vier Phasen der Trauer. Eine erste Phase des Schocks, dann eine Phase der inneren Kontrolle, oft um die Beerdigung herum. Danach eine Phase der tiefen Trauer und Desorientierung, oft sehr schwer. Und schließlich eine Phase der langsamen Anpassung an die neue Lebenssituation. Heute wissen wir: So schematisch läuft das nicht. Trauerprozesse sind ganz individuell – jeder und jede findet eigene Wege, Trauer zu durchleben und auch zu zeigen. Und das darf so sein, es gibt nicht richtig und falsch. Nur zu einem wird es immer führen müssen, nämlich damit zu leben, dass dieser Mensch nun nicht mehr unter uns ist und wir ohne ihn oder sie leben müssen und auch leben können.

An diesem Tag bringen wir unsere Erinnerungen und unsere Trauer noch einmal vor Gott. Und auch alle unsere Gefühle, die manchmal auch widersprüchlichen und chaotischen Emotionen. Ganz viel Trauer. Ganz viel Dankbarkeit gewiss in Blick auf die vielen, die lebenssatt nach einem erfüllten Leben gestorben sind und die unser Leben reich gemacht haben. Aber auch Schmerz und Klagen über den Tod vor der Zeit. Manchmal aber auch Erleichterung, die man sich vielleicht nicht recht eingestehen mag, wenn es ein langer und schwerer Weg der Begleitung und Pflege war. Bisweilen auch Schuldgefühle. Aber auch harte Erinnerungen an Verstorbene; zu den Erinnerungen können ja auch Verletzungen gehören. Alle Gefühle gibt es. Alle Gefühle dürfen sein.

Viele Tränen sind geflossen. Manche sind getrocknet, andere fließen noch immer oder immer wieder. Da hinein hören wir nun diese Worte, diese einzigartige Verheißung Gottes: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Als christliche Gemeinde feiern wir den Totensonntag oder Ewigkeitssonntag in einer anderen Perspektive. Wir hören auf die Verheißungen der Bibel, die unsere Trauer und unser Gedenken in einen besonderen Rahmen stellen.

Diese Perspektive richtet sich einmal auf unsere Verstorbenen, auf jeden und jede einzelne. Der christliche Glaube schenkt die Zuversicht, dass sie nicht einfach fort sind, sondern dass sie bei Gott sind und bei ihm ewig leben. Wir begehen den Ewigkeitssonntag immer im Licht von Ostern. Das Grunddatum unseres christlichen Glaubens ist, dass Gott den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von den Toten auferweckt hat. Seither hoffen wir darauf, dass das Leben immer größer ist als der Tod. Auch für unsere Verstorbenen. „Gott hat Christus auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft“, sagt Paulus (1. Kor 6,14). Oder ganz einfach im Johannesevangelium, wo Jesus sagt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Das dürfen wir glauben für unsere Verstorbenen und einmal auch für uns.

Wie soll man sich das vorstellen? Ich denke, gar nicht. Die Bibel gebraucht viele verschiedene Bilder dafür. Paulus verwendet das Bild des Schlafes, aus dem man wieder aufgeweckt wird (1.Thess 4,13ff). Oder die Heilige Schrift spricht davon, dass in Gottes Haus „viele Wohnungen“ (Joh 14,2) auf uns warten. Für meinen Freund, den ich erwähnte, war das in seinem Zugehen auf den Tod ein großer Trost: Dass Christus uns durch den Tod vorausgegangen ist und dass dort bei Gott Raum ist, ein Raum zu leben. In der Hoffnung und Zuversicht auf diesen Raum bei Gott konnte er sterben.

Ein weiteres Bild haben wir vorhin als Epistel gehört. Paulus gebraucht das Bild des Samens, der in die Erde gelegt wird und in neuer, ganz anderer Gestalt weiterlebt. Dieses Bild macht schön deutlich, dass es eine vollständige Verwandlung sein wird und nicht einfach irgendwie eine Verlängerung dessen, was wir hier kennen. Es wird ein unvergängliches Leben in Herrlichkeit sein. Ich zitiere noch einmal Verse von Paulus: So, wie aus einem Samenkorn eine Pflanze hervorgeht, so auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Herrlichkeit und Kraft, darauf dürfen wir uns freuen, sagt Paulus. Aber wie wir uns das vorstellen können – das bleibt verborgen, da soll man auch nicht spekulieren, jedenfalls nicht im Namen des christlichen Glaubens. Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., hat das einmal sehr schön ausgedrückt, wie ich finde: Wir können nur „ahnen, dass Ewigkeit nicht eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen ist, sondern etwas wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen. Es wäre der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt. Wir können nur versuchen zu denken, dass dieser Augenblick das Leben im vollen Sinn ist, immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden.“

Nun bin ich ausgegangen von der großen Vision in Offenbarung 21 von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Da richtet sich die Hoffnung der Christen nicht nur auf die Zukunft des Einzelnen, davon habe ich bisher gesprochen, sondern auf die Zukunft des Ganzen. Kleiner macht es die Bibel nicht, und ich will das nicht unterschlagen. Gott will eine neue, eine verwandelte Welt erschaffen, nicht auf dieser Erde, sondern in einer anderen Dimension. Ich will es nicht unterschlagen, weil ich glaube, dass diese Bilder uns große Hoffnung und Kraft geben können. Und zwar zum Leben hier und heute.

In Offenbarung 21 sagt der Seher Johannes, dass im Himmel, in Gottes Zukunft alle Tränen abgewischt werden und Not, Leid, Tod ein Ende haben. Darin liegt ein tiefer Trost! Wie viel Not sehen wir hier auf der Erde! Wir sehen die Opfer der Kriege in der Ukraine, in Israel, in Gaza. Wir sehen all die hungernden, verletzten, missbrauchten Kinder und können nur rufen: Herr, erbarme dich. Wir sehen unser Versagen mit Blick auf Leid, wenn Menschen krank sind, behindert, arm in unserem Land und können allzu oft nicht heilen. Nur den Schmerz können wir teilen und rufen: Herr, erbarme dich. Wir sehen das Sterben, den Tod, all den Schrecken, den er verbreitet und können allzu oft nur mitweinen und wenig trösten. Der Tod in der Familie, im Freundeskreis, er verbreitet Trauer und Schrecken. Das Elend im Großen, in der Welt insgesamt, es lähmt uns allzu oft. Uns bleibt nichts, als eine Hand zu halten und zu rufen: Herr, erbarme dich!

Der Glaube an Gottes zukünftige Welt aber macht uns Mut, dem Tod zu begegnen, der Verletzlichkeit des Lebens. So können wir Trauernde trösten, die Endlichkeit unseres eigenen Lebens nicht verdrängen, sondern annehmen, dass es begrenzt ist, vielleicht 70 Jahre währt, wie der Psalm sagt, den wir gebetet haben, und wenn es hochkommt, 80 Jahre.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Der auferstandene Jesus Christus selbst sagt: Siehe, ich mache alles neu. Natürlich, da sind wir heute nicht, vieles ist nicht neu, sondern verflixt alt und morsch. In unserer Welt, in unserer Kirche – auch da haben wir Probleme genug – in meinem und vermutlich auch in deinem Leben. Aber im Vertrauen auf die Zukunft unseres Gottes, der heute bei uns ist, müssen wir nicht mutlos sein, sondern können Tag für Tag tun, was möglich ist. Können einstehen für eine menschenfreundliche Welt, für Barmherzigkeit. Können uns engagieren für unsere Kirche und Gemeinde, auch in schwierigen Zeiten. Für eine Welt, in der sich das Leben von Menschen entfalten kann. Im Licht von Ostern, im Licht des Ewigkeitssonntags sind Christenmenschen Leute des Lebens, Leute der Nächstenliebe, Protestleute gegen den Tod.

Und so können wir leben in dem Wissen, dass unser Leben endlich ist, und doch in großer Zuversicht. Zu den Menschen, an deren Grab ich in diesem Jahr gestanden habe, gehörte auch unser früherer Landesbischof Horst Hirschler. Er ist wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Schon zehn Jahre vorher hatte er eine schwere Krebserkrankung überstanden. Er ging damit sehr offen und transparent um. Als er vor einigen Jahren 85 wurde, gab es noch einmal einen größeren Empfang. Zum Abschluss sprach Altbischof Hirschler selbst. Er zeigte uns eine Karikatur von Charly Brown und dem Hund Snoopy. Beide sitzen auf einem Steg und schauen versonnen auf einen See hinaus. Charly Brown sagt: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy.“ Und Snoopy antwortet: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht.“ Das ging uns sehr unter die Haut. Dieses klare Signal: Ich weiß, ich werde sterben. Aber bis dahin gibt es noch etliche Tage, da nicht. Da will ich mit euch leben.

So lasst uns leben. Im Wissen darum, dass wir endlich sind. Im traurigen und dankbaren Gedenken an unsere Lieben. Und in der noch größeren Zuversicht, dass Gott bei uns ist an allen Tagen unseres Lebens und auch im Sterben. Und dass wir auf Gottes große Zukunft zugehen.

Amen.