›Gott im Antlitz des Anderen ...‹ - Gedanken zu den Gesichtern des Christentums.

Vortrag bei der Mitgliederversammlung der Stader Bibel- und Missionsgesellschaft, St. Wilhadi Stade, 21. September 2015, 19.00 h

Sehr geehrte Damen und Herren,

in der alten Kirche von Sandstedt, an der Weser gelegen im Kirchenkreis Wesermünde, gibt es schöne alte Bilder. Jahrhundertealte, wertvolle Abbildungen von Aposteln, ein Marienbild, im Hauptaltar natürlich ein Christusbild. Kunstgeschichtlich wertvolle und aussagekräftige Darstellungen.

Seit einigen Jahren hängen in der Kirche aber noch ganz andere Bilder. Im Rahmen eines Kunstprojektes hat der Bremer Künstler Peter K.F. Krueger zahlreiche normale Gemeindeglieder portraitiert. Diese ziemlich großen Porträts bilden inzwischen einen langen Fries, der sich durch die Kirche zieht. Konfirmanden, Seniorinnen, Kirchenvorsteherinnen, der Pastor. Die vielen Gesichter zeigen lebendige Gemeinde Jesu Christi. Nach evangelischem Verständnis sind wir ja alle Heilige: Gesichter des Christentums. Sie können sich das im Internet anschauen.

Gesichter des Christentums, Heilige aus aller Welt zeigt diese Ausstellung, und ich freue mich sehr, dass sie hier in Stade zu sehen ist und Sie mich eingeladen haben, im Rahmen der Mitgliederversammlung der Stader Bibel- und Missionsgesellschaft dazu etwas zu sagen. Das tue ich nun also unter dem Thema: „Gott im Antlitz des Anderen“. Ein Nachdenken zu der Ausstellung Gesichter des Christentums hier in St. Wilhadi.

„Gott im Antlitz des Anderen“. Das ist ein Thema von unglaublicher Aktualität: Sie drängt sich auf angesichts der Ereignisse und Bilder dieser Tage und Wochen. Deshalb dazu gleich mein erster Teil. Es folgen dann noch fünf weitere Teile:

1. Gott im Antlitz des Fremden und des Flüchtlings
Andere kommen in unser Land in einer Weise, wie es das so noch nie gegeben hat. Die Bilder, die wir aus ganz Europa sehen, haben eine Dramatik von historischer Dimension. In manchem rühren sie an das kollektive Gedächtnis von 1989 und für die älteren an 1945. Aber vieles ist eben auch ganz anders. Ja, unser Land hat intensive und gute Erfahrungen mit Migration und Flucht, und es ist wichtig, dass wir sie erinnern. Aber der gegenwärtige Strom von Flüchtlingen ist historisch einzigartig – was wir erleben sind Vorgänge von geschichtlicher Dimension, die uns verändern werden. Einzigartig ist auch die Welle der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft, die durch unser Land geht. Gewiss verbindet sich das auch mit berechtigten Sorgen und politischen und logistischen Herausforderungen, gewiss gibt es auch ekelhafte kriminelle Straftaten am rechten Rand – aber es dominiert doch ein eindrucksvoller gesellschaftlicher Konsens – von der Politik über die Medien bis zur Zivilgesellschaft - , dass wir Flüchtlingen, die auf abenteuerliche, oft lebensgefährliche Weise vor Krieg und Gewalt zu uns geflohen sind, hier würdig und gastfreundlich begegnen wollen.

Es gibt eine Welle des Engagements und der Hilfsbereitschaft in den Orten und Gemeinden, die ich großartig finde. Ich war vor einigen Tagen in Otterndorf, wo jetzt in einem Feriencamp ca. 600 Flüchtlinge leben. Es ist großartig, wie dort professionell in kürzester Zeit geholfen und auch improvisiert wird und wie ein unglaubliches Klima des Willkommens in der gesamten Bevölkerung herrscht. Als Kirche sind wir engagiert mit dabei. Ich danke allen Menschen, die sich hier – allermeist ehrenamtlich – einbringen.

Damit sind wir mitten in unserem Thema ›Gott im Antlitz des Anderen ...‹. Ja, gewiss gibt es eine Menge politischer Fragen zu diskutieren, und wir müssen als Kirche nach meiner Überzeugung auch den Raum geben, dass Befürchtungen und Fragen, auch kritische Fragen geäußert werden können.

Wer nüchterne Fragen stellt, darf nicht in die rechte Ecke gedrängt werden.
Aber angesichts der Menschen, die jetzt hier vor unserer Tür stehen, sind wir gefragt in unserer Mitmenschlichkeit und unserer Gastfreundschaft. Gastfreundschaft ist eine christliche Grundtugend. In der Ordensregel des Benedikt, die für das abendländische Mönchtum und für die ganze abendländische Kultur prägend geworden ist, heißt es etwa: „Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus. Allen erweise man die angemessene Ehre. Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Fremden zeige man Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen. Das Auftreten der Reichen verschafft sich ja von selbst Beachtung."

In den Armen und Fremden wird Christus besonders aufgenommen. Da haben wir es: Christus im Angesicht des Anderen…. Der Soziologe Heinz Bude sagt zu den guten Erfahrungen dieser Tage: „Wirkliche Gastfreundschaft hat einen spirituellen Grund, sie kommt von Herzen. Man bittet die Müheseligen und Beladenen herein, ohne lange nach Berechtigungen zu fragen.“ Es kommt jetzt also auch die christliche Grundierung unserer Gesellschaft zum Tragen, ganz gleich, wie bewusst oder oft auch unbewusst sie sein mag. Der Soziologe sieht eine spirituelle, aus dem Christentum kommende Gastfreundschaft wirksam.

Gleichviel - für uns Christen ist in der Tat das Wort Jesu Mt 11 tragend: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28). Aus dieser Barmherzigkeit leben wir, und sie geben wir weiter, in diesen Tagen sehr konkret. Und wissen uns dabei gebunden an das Wort, das schon in der hebräischen Bibel steht und das sehr klar die Ethik des ganzen Alten und Neuen Testamentes prägt: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“ (Lev 19,33f).

Also: Den Herrn als Gott anzuerkennen und den Fremdling aufzunehmen und sogar zu lieben – das gehört biblisch eng zusammen. Gottesliebe und Nächstenliebe sind nicht zu trennen. ›Gott im Antlitz des Anderen ...‹. Ja, ich bin gewiss, wir erkennen ihn in diesen Tagen besonders in den Gesichtern der Flüchtlinge vor unserer Tür.

Damit aber einen Schritt weiter: Zu unserer Ausstellung „Gesichter des Christentums.“

2. Gesichter des Christentums - gelebte Ökumene vor Ort

„Gesichter des Christentums.“ Unsere sehenswerte Ausstellung macht auf eindringliche Weise deutlich, wie viele Christenmenschen hier bei uns leben und jetzt weiter zu uns kommen. Aktueller könnte die Ausstellung gar nicht sein.

Als die Ausstellung konzipiert wurde, war die Brisanz in dieser Form noch gar nicht erkennbar. Vor genau zwei Jahren wurde sie in Osnabrück eröffnet, seither war sie in etlichen Städten unserer Landeskirche zu sehen.

Ihr Anliegen ist es, den Blick zu öffnen für christliche Schwestern und Brüder hier bei uns vor Ort. Ob Pfingstlerinnen aus Ghana, Katholiken aus Indien, Lutheraner aus Nigeria oder Orthodoxe aus der Türkei.

In den vergangenen Jahrzehnten haben nach Deutschland Zugewanderte die Vielfalt des globalen Christentums auch nach Niedersachsen gebracht. Diese kulturelle und konfessionelle christliche Vielfalt in unserem Land wird in dieser Ausstellung anhand von Porträts anschaulich. Man erkennt eine große Vielfältigkeit – und doch auch viel Verbindendes.

Ab meinem siebten Lebensjahr wuchs ich in einem Dorf im Großraum Hannover auf. Damals gab es in unserem Dorf unter 1000 Menschen genau eine italienische Familie. Und in meiner Schulzeit kann ich mich an genau einen Mitschüler mit Migrationshintergrund erinnern. Er stammte aus Indien und hieß Raj.

Das scheint Ewigkeiten zurück. Globalisierung findet nicht nur weltweit statt, sie prägt längst den Alltag hier bei uns. In jedem Dorf, in jeder Stadt. Jede Kleinstadt ist heute eine Weltstadt. Und jede Kita – viele Mitarbeitende aus Kitas sind heute da – ist ein kleines Welt-Kinder-Dorf. Ausdrücklich möchte ich Ihnen danken für die Integrationsarbeit, die Sie dort tun.

Ich finde wichtig, dass wir die Augen öffnen für Christen aus anderen Ländern in unserem Land. Das war wichtig vor drei Jahren, das ist es jetzt und aktuell noch mehr. Auf diese Weise nehmen wir weltweite Ökumene wahr, die weltweite Zusammengehörigkeit der einen Kirche Jesu Christi, in allen Ländern und Konfessionen. „Ich glaube an die eine, heilige, christliche Kirche“, bekennen wir im Glaubensbekenntnis. Diese Ausstellung macht diese Glaubensaussage anschaulich.

Die Kirchen tun einiges, um diese Zusammengehörigkeit zu stärken. Durch Missionswerke, die mit Partnerkirchen in Übersee zusammenarbeiten und z.B. Mitarbeitende dorthin entsenden, oder auch jugendliche Freiwillige. Meine Tochter ist so über das Hermannsburger Missionswerk ein Jahr in Südafrika gewesen und hat dort gute und intensive Erfahrungen gemacht, die ihr langfristig einen Blick für die Eine Welt gegeben haben.

Wir pflegen und erfahren weltweite Ökumene und Verantwortung für die eine Christenheit und die eine Welt in Partnerschaften von Kirchengemeinden und Kirchenkreisen. Da gibt es eine ganze Fülle im Sprengel; wir stellen sie gerade zusammen für das kommende Themenjahr 2016, „Reformation und die eine Welt“. Solches Hin- und Her ist wichtig. Reisen bildet – auch und gerade den Blick auf die gelebte Ökumene.

Nur: Darüber übersehen wir leicht, wie viele Christen aus aller Welt Ländern längst hier bei uns leben. Christinnen und Christen in Niedersachsen sind längst nicht mehr nur „Eingeborene“. Wir haben die weltweite Ökumene hier in Deutschland längst vor Ort. Wir müssen sie nur wahrnehmen und leben. Ich halte das für eine christliche und geistliche Aufgabe. Die Ausstellung „Gesichter des Christentums“ führt diese kulturelle und konfessionelle christliche Vielfalt anhand von Porträts vor Augen. Sie weist damit auch auf den Beitrag von Glauben und Kirche zur Integration.

Gesichter des Christentums ist eine Pfingstausstellung. Sie zeigt die Buntheit und Einheit des Leibes Christi. Sie beschreibt, in welcher Vielfalt und fröhlichen Verschiedenheit wir unseren Glauben in dieser Welt, eben auch in Niedersachsen, leben. Wir sehen in dieser Ausstellung Bilder von Menschen aus Kirgisien, dem Iran, Indien oder Serbien. Bilder von Menschen, die sich in Niedersachsen befinden und die unser Land und uns verändern.

Ich füge kritisch, selbstkritisch an: Verändern sie unsere Kirche genug? Sind wir als evangelische Kirche nicht zu weiten Teilen noch eine Eingeborenenkirche? Müssten wir uns da nicht mehr und weiter öffnen, damit Migranten auch in unseren Gemeinden zu Hause sein können? Ich bin sicher, wo das geschieht, ist es eine große Bereicherung.

Und: Im Blick auf die aktuelle Migration öffnet uns die Ausstellung den Blick dafür, dass eine große Zahl der Migranten, die zu uns kommen, Christen sind. Selbstverständlich gilt das Grundrecht auf Asyl für alle Menschen, gleich welchen Glaubens oder welcher Weltanschauung.

Selbstverständlich gilt unsere Nächstenliebe und Hilfe allen. Aus Gründen des christlichen Glaubens ist es nicht möglich, die Hilfe auf Christen zu beschränken. Aber das steht nicht im Widerspruch dazu, dass wir besonders auch auf Christen schauen, für die ihre Flucht ja auch eine spirituelle, eine religiöse Not ist. Deshalb sind wir als Christen an die Christen noch einmal in besonderer Weise gewiesen.

Eindrücklich habe ich das im Sommer in Bremerhaven erlebt. Dort lebt jetzt eine Gruppe von syrisch-orthodoxen Christen, die aus dem Irak und Syrien geflohen ist. Sie leben bewusst auch als Christen zusammen. Ein Pastor unserer Kirche kümmert sich um sie. Neulich war ich dabei, als der syrisch-orthodoxe Bischof sie besuchte. Es war deutlich zu spüren, wie viel Kraft ihr Glaube, ihre Liturgie ihnen gibt in der notvollen Situation, in der sie sind. Sie haben alles verloren, Heimat, Hab und Gut. Oft sind sie von Angehörigen getrennt. Aber sie haben ihren Glauben. Das gilt es wahrzunehmen und nach Kräften zu unterstützen.

3. Die vielen Gesichter des Christentums - Einige Bemerkungen zur Ökumene
Als ich zur Schule kam, das war im katholischen Rheinland, da war der Schulbeginn so gelegt, dass unser Unterricht zu einer anderen Zeit begann als der der nahen katholischen Grundschule. Evangelische und katholische Kinder sollten nicht gemeinsam auf dem Schulweg sein. Und bekanntlich hängten die Katholiken am Karfreitag die Wäsche auf, um die Protestanten zu ärgern, und umgekehrt die Evangelischen zu Fronleichnam.

Gott sei Dank, längst ist Ökumene selbstverständlich geworden. Natürlich spüren wir noch immer die Differenzen, aber viel mehr sehen wir uns gegenseitig als Bereicherung und wissen, dass uns viel mehr verbindet als uns trennt. Man muss sich immer wieder einmal klar machen, wie viel sich geändert hat in der Gemeinschaft der Christen. Ich finde wunderbar, dass diese Ausstellung „Gesichter des Christentums“ das sichtbar macht.

Dankenswerterweise können wir sagen, dass die Ökumene hier vor Ort in einem hervorragenden Zustand ist. Das Miteinander mit der römisch-katholischen Kirche ist gut und herzlich und mit den Freikirchen allermeist auch. Für kommendes Jahr bereiten wir im Sprengel evangelisch-katholisch gemeinsam einen Praxistag für Kirchengemeinden und Pfarrgemeinden vor – ein sehr fruchtbarer Prozess.

Oder: die Kirchenkreise Buxtehude und Stade haben zusammen mit dem katholischen Dekanat Unterelbe einen Prozess über zwei Jahre gestartet, bei dem das 1200jährige Jubiläum des Bistums Hildesheim in diesem Jahr 2015 und das Reformationsjubiläum 2017 zusammen gefeiert werden. Ich finde das großartig, gerade weil mir wichtig ist, dass das Reformationsjubiläum in einem ökumenischen Geist gefeiert wird. Die Gesichter sollen sich freundlich einander zuwenden und nicht in Erinnerung an alte Auseinandersetzungen verhärten.

Wenn ich noch einen Moment „ins Angesicht“ der Schwesterkirche schaue, tue ich es auch als Vorsitzender der Evangelisch-katholischen Gebietskommission Norddeutschlands, einer nach dem II. Vatikanischen Konzil gegründeten Kommission aus Vertretern der Bistümer und Landeskirchen in ganz Norddeutschland. Dort haben wir natürlich viel über Papst Franziskus gehört und gesprochen. Ich nehme mit großer Mitfreude wahr, wie viel frischen Wind die katholischen Geschwister durch ihn erleben, wie viel Aufbruch, viel neue Diskussionskultur.

Darüber kann man sich nur freuen. Er hat starke Impulse gesetzt im Blick auf das Thema Armut und soziale Gerechtigkeit, auch zu ökologischen Fragen, und natürlich mit kräftigen Worten zu einer Reform des Apparates im Vatikan. Zuletzt hat der Papst auch Öffnungen in Ehefragen vorgenommen. Für evangelische Ohren hätte man sich da eher Weitergehendes gewünscht, aber an der Reaktion in der katholischen Kirche sieht man, dass das dort schon Anlass für eine Menge Diskussion liefert; da bleiben die Ergebnisse der Synode in Rom abzuwarten. Das alles sehe ich als evangelischer Christ mit hohem Respekt.

Aus evangelischer Sicht wird man freilich auch sagen können, dass sich in den uns unmittelbar betreffenden ökumenischen Themen noch nicht so viele getan hat. In der Frage der Anerkennung der Ämter und – für viele Menschen besonders wichtig – in der Möglichkeit eines gemeinsamen Abendmahls oder wenigstens der gastweisen Zulassung zum Abendmahl, da wünschen wir uns noch mehr Bewegung.

4. Gesichter des Christentums – von der Vielfalt der Gaben

Gott im Angesicht des anderen sehen – im Blick auf die Ökumene heißt das für mich: Die Gaben des anderen sehen im Rahmen der Ökumene. Paulus sagt ja: Es sind verschiedene Gaben; aber es ist "ein" Geist. Er braucht das Bild vom Leib Christi. Verschiedene Körperteile, alle sind wichtig, alle unverzichtbar, nur gemeinsam sind sie ein gesunder Leib, ein Organismus. Ein Bild von differenzierter Einheit.

Wer gesund leben will, das wissen wir, der muss auf seinen Körper hören, der muss seinen Leib wahrnehmen, muss spüren, was ihm gut tut, welche Ernährung er braucht, welche Bewegung, welche Ruhe. Leiberfahrung, Leibesübung – ein altmodisches Wort – ist nötig. Im Studium habe ich in Göttingen am Institut für Leibesübungen Fußball gespielt.

Diese Ausstellung ermöglicht geistliche Leiberfahrung und Leibesübung. Wir sehen und erleben uns als Glieder eines Leibes. Wir hören unsere Geschichten. Wir nehmen gegenseitig unsere Gaben wahr.

Das ist ja die Pointe: Jeder und jede bringt eigene Gaben ein, Charismen, also Gnadengaben Gottes. Jeder Mensch hat seine eigenen, unverwechselbaren und unverzichtbaren Gaben. Und jede Konfession, jede Kirche auch. Die Gaben ergänzen sich, nur gemeinsam bilden sie den einen Leib.

Für mich – ich sage das persönlich, jeder hat da eigene Erfahrungen – bringen die orthodoxen Geschwister besonders den Reichtum ihrer Liturgie ein, ihrer festlichen und bewegenden Gesänge. Die römisch-katholische Kirche steht mir für die Gabe der Gestaltung, der Konkretheit und Sinnlichkeit des Glaubens, auch die Sichtbarkeit einer weltweiten, globalen Kirche. Die Geschwister aus Afrika und Asien bringen oft eine große spirituelle Kraft mit, eine Begeisterung in ihren Gottesdiensten und Gesängen, die den ganzen Menschen erfasst. Die Freikirchen leben eine entschiedene, konsequente Frömmigkeit und stellen uns damit auch notwendige kritische Fragen. Die Reformierten erinnern an eine Konzentration auf das Wort Gottes. Wir Lutheraner stehen hoffentlich immer wieder besonders für die Erinnerung an die befreiende Kraft des Evangeliums. Und auch für besonders eindrückliche Kirchenmusik, die uns geschenkt wurde. Es sind verschiedene Gaben; aber es ist "ein" Gott, der da wirkt alles in allen.

Nun soll man das Bild des Paulus nicht zu sehr idealisieren. Paulus gebraucht es ja nicht, weil in Korinth alles so großartig und harmonisch läuft. Nein, es gibt dort Konflikte. Da gibt es die, die die Zungenrede beherrschen. Sie geraten in Ekstase und sprechen so von Gott, dass es für andere wie Stammeln oder Lallen klingt, schwer oder nicht verständlich ist. Da gibt es einige, die weise reden, andere, die heilen, einige vollbringen Wunder, andere können unterscheiden und reflektieren, manche reden prophetisch usw. Leider sind sich die meisten nicht einig, sondern liegen miteinander im Streit. Die einen sehen sich als die besseren Christinnen und Christen, verurteilen und verdammen die anderen, weil ihnen etwas fehlt zum wahren, vollwertigen Glauben.

Es ist nicht schwer, auch dieses Bild auf die Ökumene zu übertragen. Auch da ist ja keinesfalls alles eitel Sonnenschein. Auch da nehmen wir Differenzen wahr, viele finden eben, es geht mit der Ökumene nicht schnell genug voran im Blick auf konkrete Fortschritte, etwa auf das gemeinsame Abendmahl hin. Ja, da sind noch weite Wege zu gehen. Aber es ist schon viel gewonnen, wenn wir in versöhnter Verschiedenheit – eine für mich grundlegende Formel - wenn wir in versöhnter Verschiedenheit einander intensiv wahrnehmen, wenn wir auch Differenzen erkennen, ohne zu urteilen und ohne Überlegenheit zu behaupten. Das war jedenfalls genau das Problem in Korinth.

Natürlich braucht es kritische Debatten. Aber es ist viel gewonnen, wenn wir einander wahrnehmen als Glieder am Leib Christi, wenn wir die Geschichten von einander hören, wenn wir einander also ins Gesicht schauen. Was macht euch aus? Was ist euch wichtig? Woran leidet ihr? Was habt ihr für Fragen an uns, auch kritische Fragen.

Diese Ausstellung lädt ein zu einer Entdeckungsreise, den Reichtum der Gaben Gottes zu entdecken. Keine Gabe, keine Kirche ist das Ganze. Es ist viel gewonnen, wenn wir uns einander offen ins Gesicht schauen, mit einem freundlichen Angesicht. Ich glaube, so wünscht sich unser Gott die Gesichter des Christentums.

Auf eins weise ich noch besonders hin: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle mit“, heißt es weiter bei Paulus. Christen werden heute in unerhörtem Maß bedrängt und verfolgt. Auch unter den Flüchtlingen sind ja ungezählte Christen mit schlimmen Erfahrungen: In Somalia oder Nigeria sind Massenermordungen an der Tagesordnung. Im Irak sind seit 2003 mehr als eine Million Christen vertrieben oder getötet worden, auch in Syrien werden Christen systematisch verfolgt.

Wenn das Angesicht des Nächsten uns in die Pflicht bringt, dann dürfen wir diese verfolgten Schwestern und Brüder nicht vergessen. Das gilt um der Verbundenheit im Glauben an Christus willen. Wir treten damit zugleich ein für ein elementares Menschenrecht, die Freiheit, die eigene Religion privat und öffentlich zu leben Es ist derzeit dringlich, dafür öffentlich und laut einzutreten, den bedrängten Christen in aller Welt solidarisch beizustehen und für sie zu beten.

5. Gesichter des Christentums – von der Macht und Magie des Gesichtes
Vor einigen Wochen hat ein Bild die Welt verändert und die Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen. Das Bild des dreijährigen Aylan aus Kobane in Syrien. Ein kleiner Junge, der nur drei Jahre alt werden durfte. Ein herzergreifendes Bild. Man sah den kleinen, leblosen Körper am Strand. Man sah auf anderen Bildern auch das Gesicht des Kindes.

Es gab eine Debatte, ob man diese Bilder zeigen darf. Ich glaube, man musste es. Weil diese Bilder die Gemüter erreicht haben, ganz anders als abstrakte Zahlen über Ertrunkene im Mittelmeer, an die wir uns schrecklich gewöhnt hatten. Das Bild des Kindes hat auch politisch etwas verändert. Es sorgte für Bestürzen und Mitgefühl, rüttelte Millionen Menschen wach. Der Macht des Bildes konnte sich niemand widersetzen.

In ähnlicher Weise bewegen uns jetzt die Gesichter der Flüchtlinge, die wir sehen. Ich gehe nun der Themenformulierung noch einen Moment nach und denke ein wenig über das Gesicht nach.

Das Gesicht ist ja etwas sehr Besonderes, etwas Einzigartiges. Am Gesicht erkennen wir uns. Und in aller Regel auch nur am Gesicht. Von hinten kann man einen Menschen kaum erkennen, beim Blick ins Gesicht sofort. Über das Gesicht nehmen wir uns gegenseitig unter Millionen von Menschen wahr. Das Gesicht ist öffentlich, jeder kann und soll es sehen. Und es ist zugleich sehr persönlich, Ausdruck der Individualität, der Persönlichkeit. „Das Gesicht ist ein Abbild der Seele", sagt Cicero. Am Gesicht, an der Physiognomie kann man manches erkennen, oft erzählt es kleine Lebensgeschichten.

Gesichter verbinden sich für uns aber auch mit unserer Geschichte. Das erste Gesicht ist beinahe immer die eigene Mutter. Jede Lebensgeschichte lässt sich erzählen als eine Geschichte wichtiger Gesichter, die uns geprägt haben.

Auch der Glaube eines Menschen verbindet sich mit Gesichtern. Wenn ich an die Geschichte meines Glaubens denke, dann sehe ich Gesichter vor mir. Menschen, die mich geprägt haben im Glauben. Das Gesicht meiner Mutter. Gesichter von Freunden, Pastoren, von Professoren im Studium später.

Welche Gesichter des Christentums haben Sie geprägt? Was waren die ersten, was sind die wichtigsten Gesichter für Ihren Glauben?

Und wenn wir an die Ökumene denken: Welcher Reichtum an Gesichtern! Ich erinnere mich an Begegnungen in anderen Kirchen. In Südafrika. In Russland. Unvergesslich ist mir ein Gottesdienst in Indien, in einem Dorf nahe dem Meer. Ich sollte predigen, hatte mich vorbereitet, die Predigt ins Englische übersetzt und noch mal Korrektur lesen lassen. Und dann saßen wir in einer kleinen Gruppe auf dem Fußboden eines Kirchenraumes, vor allem Mütter und Kinder. Diese Gesichter sind mir unvergesslich. Die mühsam auf Englisch vorbereitete Predigt ging gar nicht. Es war eine ganz andere Form der Begegnung und des Erzählens nötig. Und dann wollten sie, dass ich die Kinder segne. Diese Gesichter gehören für mich bleibend zum Gesicht meines Glaubens, zu meinem inneren Bild von Kirche.

Das Gesicht steht für Öffentlichkeit und Individualität einer Person. Lassen Sie mich diesen Gedanken noch einen Moment philosophisch untermauern. Das ist einen kleinen Moment etwas anspruchsvoller, ich versuche es aber verständlich zu sagen. Der französische Philosoph Emmanuel Levinas sagt : Das Gesicht des anderen verpflichtet mich. Er hat eine „Philosophie des Antlitzes“ entwickelt.

Jeder Mensch, jeder von uns ist durch den anderen, durch die Person und das Antlitz des anderen unvertretbar in Anspruch genommen. Im Angesicht des anderen wird mein Gefordertsein sichtbar, meine Verantwortung. Der andere hat in seinem Antlitz für mich einen absolut verpflichtenden Charakter.

Wenn ich gleichgültig unter dem Blick des Anderen vorbeigehe, sagt er, erleide ich so etwas wie einen Schock. „Die Beziehung zum anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst“. Und indem sie mich von mir selbst entleert, lässt sie mich Neues entdecken. Der Andere ist immer schon da; er begegnet als „Antlitz": als Verbot „Du sollst mich nicht töten", als Gebot „Du sollst mich in meinem Sterben nicht allein lassen".

Diese Begegnung, als „Schock“ erlebt, reißt das Ich aus dem Schlaf der Selbstgewissheit. Durch das Antlitz des anderen werden mir die Augen neu geöffnet. „Das Antlitz spricht“ zu mir. Und auf diese Weise, im Antlitz des anderen, fällt gleichsam Gott ins Denken ein. Im Antlitz jedes Anderen sehe ich eine „Spur“ des Unendlichen, jedes Gesicht eines Menschen hat einen absolut verpflichtenden Charakter. So der Philosoph Levinas.

Ein etwas abstraktes Zitat noch, das zu den Gesichtern des Christentums passt: „Die Epiphanie (Erscheinung) des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu Antwort. Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewusst… In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit oder Diakonie, wie im 53. Kapitel des Buches Jesaja.“ Soweit Levinas.

Der Philosoph erinnert an Jesaja 53, das Lied vom leidenden Gottesknecht, der für die anderen leidet: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“ Die frühen Christen haben darin Jesus Christus als den Gekreuzigten wiedererkannt, für uns das tiefste Bild aller Liebe zum anderen.

Schließlich: Gott im Angesicht des Anderen. Für Christen schließt der Gedanke besonders an Mt 25 an, wo Jesus sich in einzigartiger Weise mit dem anderen, mit dem Bedrängten identifiziert. Eine ganz besondere Form der Herablassung Gottes: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben“, sagt Jesus. Christus im Angesicht des Hungernden! Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Und von besonderer Aktualität: Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.

6. Das Angesicht Gottes
Gesichter des Christentums. In Sandstedt an der Weser große, farbige Portraits. Hier bei uns anschauliche Lebensgeschichten von Christen aus aller Welt.

Auch wenn diese Ausstellung weitergezogen sein wird. Ein Gesicht des Christentums wird bleiben, das Gesicht des Christentums: Das Angesicht Jesu Christi, des Auferstandenen, auf das wir auch in dieser Kirche schauen. Im Angesicht Jesu Christi sehen wir das Angesicht Gottes, sagt Paulus. Wir sehen die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi, 2. Kor 4,6.

Gewiss, wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen, in der Kirche, sehr menschlich, sehr fehlerhaft, noch immer gespalten. Aber in dieser Kirche haben wir doch den Schatz der Herrlichkeit Gottes, die uns anschaut im Angesicht Jesu Christi. Von seinem Glanz fällt Licht auf jedes andere Gesicht, das vertraute Gesicht wie auf das des Fremden. Jedes Gesicht sehen wir im Licht des Angesichtes Gottes.

Die Bibel spricht ja immer wieder vom Angesicht Gottes. Es steht für Gottes Zuwendung zum Menschen, für seine Beziehung, die er zu uns haben will. Der Gott der Bibel ist nicht ein Es. Nicht eine anonyme Macht. Gott ist Person. Wenn er sein Angesicht abwendet, davon sprechen die Psalmen, dann wird es düster. Darum betet Psalm 69: Verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte, denn mir ist angst; Oder Psalm 104: Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie… Aber wenn er uns sein Angesicht freundlich zuwendet, dann gelingt Leben, dann können wir sagen mit Psalm 100: Kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!

So wie menschliche Beziehung geschieht, wenn Menschen sich intensiv ins Angesicht schauen lassen, so will Gott Beziehung mit uns. Das ist der tiefste Grund aller Ökumene: Gott selbst schaut auf uns. Das verbindet uns. Und das verpflichtet uns füreinander.

Gottes Angesicht als Quelle des Lebens und lebendiger Gemeinschaft: Einzigartig drückt das der Segen aus, mit dem wir jeden Gottesdienst beschließen. Der priesterliche, der aaronitische Segen. Bilder von unglaublicher Intensität, wenn man sie einmal meditiert. Mit dieser Segensbitte möchte ich schließen: Der Herr segne dich. Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.