„Ich schäme mich des Evangeliums nicht"

Christliche Glaubensgewissheit in einer multireligiösen Umgebung
Prof. Dr. Wilfried Härle, Vortrag beim Generalkonvent, 1. Juni 2106

Rotenburg/Wümme, 1. Juni 2016

Den Titel meines Vortrags bildet das persönliche Bekenntnis, das der Apostel Paulus im 1. Kap. Des Römerbriefs gegenüber der ihm persönlich noch unbekannten Gemeinde in Rom ablegt. Paulus begründet damit, warum er vorhat, in Bälde nach Rom zu kommen und anschließend nach Spanien weiterzureisen, um überall dort das Evangelium von Jesus Christus öffentlich zu verkündigen.

Zum Thema „Scham“ bzw. „Sich-Schämen“ enthält die Bibel aber nicht nur diesen Halbsatz aus Röm 1,16. An mehreren weitere Bibelstellen ist vom Sich-(nicht-)Schämen die Rede und zwar jeweils in einer tief- und weitreichenden Hinsicht. Drei dieser Bibelstellen will ich in ihrer biblischen Reihenfolge relativ an den Anfang meines Vortrags rücken, weil sie eine gute Grundlage für die anschließenden systematisch- und praktisch-theologischen Überlegungen zu unserem Thema bilden. Die vierte und letzte Stelle will ich mir dagegen für den Schluss meines Vortrags aufsparen, weil sie m. E. die schönste ist und sich (auch) darum gut für den Abschluss eines Vortrags eignet.

Wenn ich gerade sagte, dass ich diese drei Bibelstellen relativ an den Anfang des Vortrags rücke, so deshalb, weil es mir sinnvoll erscheint, dem noch eine kurze allgemeine Vorbesinnung über das „Sich-Schämen“ voranzustellen.

A  Vorüberlegungen zum Phänomen des Sich-schämens

Wer sich schämt, will in der Regel nicht gesehen oder angesehen und schon gar nicht angestarrt werden. Er würde am liebsten, wie wir gerne sagen, „im Erdboden versinken“.oder „sich in einer Ecke oder einem Mauseloch verkriechen“. Daran wird erkennbar, dass das Sich-Schämen daran hängt, dass wir uns mit etwas nicht identifizieren, es nicht als zu uns gehörig annehmen und anerkennen können oder wollen. Dabei ist immer eine forensische Situation vorausgesetzt. Ich meine das nicht nur im engen juridischen Sinn eines Gerichtsverfahrens, sondern im umfassenden Sinn eines Publikums, eines Gegenübers, eines oder mehrerer Zuschauer(s) oder Mitwisser(s) – und sei es nur ich selbst als Mitwisser (syneidesis, conscientia, Gewissen).

Wer sich schämt, wird oder ist von einem mehr oder weniger tiefreichenden Gefühl des Unbehagens ergriffen, das sich in vielen Fällen auch körperlich äußern kann, insbesondere durch Erröten, aber auch durch Schweißausbrüche, trockenen Mund, feuchte Hände, Zittern etc. Wir wissen vermutlich alle aus Erfahrung, wovon da die Rede ist. Diese körperlichen Symptome weisen darauf hin, dass man sich nicht willkürlich oder absichtlich schämen kann. Das Sich-Schämen stellt sich ein, es kann einen regelrecht überfallen, und was gäbe man oft dafür, wenn man das unterbinden oder abstellen könnte, weil man sich auch noch dafür schämt, dass man sich schämt und die anderen das merken.

Eines der treffendsten sprachlichen Äquivalente für Sich-Schämen ist die Aussage dass einem etwas peinlich ist. Darin steckt das Wort „Pein“, also „Schmerz“ oder „Qual“. Und ich habe den Eindruck, dass das Verb „peinlich sein“, insbesondere „voll peinlich sein“ (z. B. die eigenen Eltern in der Pubertät) einer der geläufigsten und verständlichsten Ersatzbegriffe für „Sich-Schämen“ ist, den wir in unserer Umgangs- und Jugendsprache haben.

Drei weitere wichtige Charakteristika von „Scham“ und „Sich-Schämen“ muss und will ich noch nennen, die von erheblicher Bedeutung sind:

Erstens: Das Sich-Schämen kann, aber muss sich nicht auf ein moralisches Fehlverhalten beziehen. Es kann z. B. rein ästhetisch bedingt sein (abstehende Ohren, Pickel Gesicht, eine körperliche Missbildung etc.) oder sie können auf ein unverschuldetes soziales Stigma verweisen (wie z. B. Armut.)

Zweitens: Dinge können zum Anlass unserer Scham werden, die gar nicht von uns ausgehen, sondern mit anderen Menschen oder Gemeinschaften zu tun haben, denen wir uns nur in irgendeiner Weise verbunden fühlen (z. B. der Alkoholismus der eigenen Mutter, das kriminelle Verhalten des Großvaters, der von unserem Volk verursachte Weltkrieg und Holocaust.) Man nennt das seit einiger Zeit „Fremdschämen“. Obwohl das oft Dinge sind, für die eine Person „gar nichts kann“, weil sie z. B. noch nicht gelebt hat, kann man sich trotzdem dessen schämen. Und das ist kein pathologisches Phänomen! Es war und bleibt m. E. ein großer Fortschritt in der Debatte über mögliche Kollektivschuld nach dem 2. Weltkrieg, als der Begriff „Kollektivscham“ in die Diskussion eingeführt wurde, um das mit „Kollektivschuld“ Gemeinte besser zu benennen.

Drittens: Schamgefühle können sich schließlich sogar auf positive Dinge beziehen, z. B. auf Leistungen, die man vollbracht hat und die nun aber (ohne eigene Zustimmung) veröffentlicht werden, und das kann einem voll peinlich sein.. Es kann sich auch auf etwas so Positives wie das Evangelium  schämen, weil es i n einer bestimmten gesellschaftlichen oder religiösen Situation eine Außenseiterposition darstellt, die von kaum jemandem geteilt wird.[1]

Das alles zeigt, dass die Gefühlsstörungen, die als Auslöser von Scham eine Rolle spielen können, umfassender, also weitreichender und wohl auch tiefgehender sind als diejenigen, die wir als „Schuldgefühle“ bezeichnen. Sie kommen auch in der individuellen Entwicklung des Kindes früher vor, sind also tiefer verankert als Schulderfahrungen und Schuldgefühle.[2]

Und damit sind wir nun so nahe an unserem ersten biblischen Text, dass es sich empfiehlt, die phänomenologischen Vorüberlegungen zu beenden, bzw.: abzubrechen und zu den biblischen Grundlagen überzugehen

B  Biblische Grundlagen

1  Paradies und Sündenfall (Gen 2,25 -3,1-11 und 21)

Über das Leben der ersten Menschen im Paradies vor dem Sündenfall erfahren wir durch die Bibel ausgesprochen wenig – genau genommen nur einen Satz, der aber für unser Thema höchst relevant ist: „Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht (voreinander).“ (Gen 2,30). Und dann geht es im nächsten Vers (Gen 3,1) gleich weiter mit der Schlange, die listiger („glatter“ und „schlauer“) war, also weniger an- aber mehr draufhatte (Bibel in gerechter Sprache) als alle Tiere auf dem Felde. Sie schafft es, die Menschen vom Vertrauen auf Gott abzubringen und für das Misstrauen gegen Gott zu gewinnen. Darin (und nicht bloß im Ungehorsam) besteht der eigentliche Sündenfall. Und danach lautet der erste Satz wieder: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ Wenn auch hier und im ganzen folgenden Text das Wort „Sich-Schämen“ nicht mehr vorkommt, ist doch offensichtlich von gar nichts anderem die Rede, wie wir an dem Verweis auf die entdeckte Nacktheit und an dem Versuch, die Blöße durch Feigenblätter zu bedecken unschwer erkennen. Das wird ja dann auch zum Anküpfungspunkt für das Gespräch Gottes mit dem Menschen. Der Vertrauensbruch Gott gegenüber äußert sich durch das Schamgefühl, nicht nur Gott gegenüber, sondern auch schon zwischen den Menschen. Sie sind zu Komplizen in Sachen Sünde geworden und das entfremdet sie in der Tiefe voneinander.

Und dann taucht das Schammotiv noch einmal (wieder ohne das Wort „Scham“) am Ende der Paradieserzählung auf (Gen 3,21), unmittelbar bevor die beiden armseligen Sünder von Gott aus dem Paradies vertrieben werden: „Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.“ Das Anrührende an dieser kurzen Aussage liegt für mich vor allem darin, dass Gott den gefallenen Menschen nicht bloßstellt, sondern selbst seine Blöße bedeckt und zwar nun mit haltbarerem Material, als es die von den Menschen verwendeten Feigenblätter waren. Man wird nicht sagen können, dass dieses Bedecken der Blöße (auch) schon „Erlösung“ ist; denn Sünde wird hier noch nicht vergeben. Dazu fehlt ja auch die Einsicht und Reue der Menschen, die stattdessen (siehe die Bernwardstüre in Hildesheim) die Schuld verschieben, auf die Frau, auf die Schlange, letztlich auf Gott selbst. Aber es ist eine anrührende Erhaltungsmaßnahme Gottes, der sich damit um die gefallenen Menschen kümmert und zeigt, dass er noch etwas mit ihnen vorhat.

Und dies alles wird in Gen 3 noch ganz und gar ohne die Worte „Sünde“ und „Schuld“ dargestellt – ausschließlich anhand des Paradigmas der Scham und des Sich-Schämens – und trotzdem ist genau dies der Vertrauensbruch Gott gegenüber, der die Wurzel der Sünde ist (siehe Jer 2,13). Denn „Sünde“ kommt von „Sund“. Sie bezeichnet also eine tiefe Trennung. Das ist sprachlich hier im Norden geläufiger als bei uns im Süden.

2  Das Gericht des Menschensohnes (Mk 8,38/Lk 9,26)

Es gibt in den synoptischen Evangelien und zwar bei Markus und Lukas eine Stelle über das künftige Gericht, von der Pannenberg in seiner Christologie[3] schon vor mehr als 50 Jahren im Anschluss an Bultmann, Bornkamm und Braun die begründete Vermutung geäußert hat, es müsse sich dabei um einen sehr frühen bzw. alten, mit größter Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgehenden Text halten. Dieses Logion lautet: „Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters  mit den heiligen Engeln.“ (Mk 8,38 par. Lk 9,26). Wieso spricht der Wortlaut dieses Logions für sein hohes Alter?  Pannenberg argumentiert – m. E. überzeugend – wie folgt: Jesus unterscheidet in diesem Spruch verbal „den Menschensohn als eine andere Gestalt von sich ... Das bildet das wichtigste Argument für das Alter des Spruches: Nach Ostern wäre eine derartige Unterscheidung zwischen Jesus und dem endzeitlichen Richter nicht mehr formuliert worden. Gerade die Ersetzung des Menschensohns durch das Ich Jesu in der Fassung von Matthäus [Mt 10,32f.] zeigt,  wie die nachösterliche Gemeinde den Spruch verstanden und umgebildet hat …“ Wer darin eine Abwertung Jesu gegenüber dem Menschensohn sieht, hat die Pointe dieser Aussage freilich missverstanden: Es geht – im Gegenteil – darum, dass das Urteil des Menschensohnes ganz daran gebunden wird, wie Menschen sich Jesus gegenüber verhalten haben. Und dabei wird alles konzentriert auf den einen Punkt des Sich-Schämens. Es besteht da offenbar eine Symmetrie oder Entsprechung zwischen dem Sich-Schämen der Menschen hier und jetzt gegenüber Jesus und dem Sich-Schämen des Menschensohn gegenüber den Menschen im Gericht Gottes. Das klingt fast nach einem für die Verkündigung Jesu völlig untypischen: „Wie du mir, so ich dir“. Aber ich vemute, dass damit nicht der Sinn dieses Wortes missverstanden wäre. Das Sich-Schämen ist ja nicht irgendein Vergehen, das dann mit dem Sich-Schämen in entgegengesetzter Richtung vergolten würde, sondern das Sich-Schämen ist das Zeichen dafür, dass die Beziehung und Gemeinschaft zu Jesus gestört oder gar zerstört ist. Mit dem, dessen ich mich schäme, will ich nichts zu tun haben, weil unsere Beziehung, wenn sie je bestand, nicht (mehr) besteht. Und dieser Sachverhalt wird dann im Gericht des Menschensohnes bestätigt, also aufgedeckt und offenkundig gemacht.[4]

Es gibt eine bekannte Szene in der Passionsgeschichte, in der dieses Sich-Schämen (auch ohne dass das Wort vorkommt) narrativ dargestellt wird: die Verleugnung des Petrus. (Mk 14,66-72 parr.) Von dem Gerichtswort aus Mk 8,38 unterscheidet sie sich durch Zweierlei, einerseits dadurch, dass das Sich-Schämen die drastische Form der Selbstverfluchung hat, und sie unterscheidet sich vor allem dadurch, dass es nach dem Sich-Schämen noch (bitterlich geweinte) Tränen der Reue gibt, durch die sogar noch diese Selbstverfluchung in Richtung „Vergebung“ geöffnet und umgelenkt wird. Das Sich-Jesu-Schämen und sogar die damit verbundene Selbstverfluchung muss also kein letztes, unvergebbares Faktum bleiben.

3  Das Bekenntnis des Paulus (Röm 1,16f.)

Und nun unsere Paulusstelle, der der Titel meines Vortrags entnommen ist: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ Unter den Römerbriefkommentaren, die im zurückliegenden Jahrzehnt erschienen sind,[5] ist für unser Thema der von Robert Jewitt (Romans, 2007) besonders interessant, weil er Röm 1,16 für den hermeneutischen Schlüssel zum ganzen Römerbrief hält. Ich gebe seine These ganz kurz wieder: Jewitt geht davon aus, dass Paulus den Römerbrief von Korinth aus schreibt, wo er mit den Konflikten zwischen Angesehenen und Verachteten, Reichen und Armen, Weisen und Törichten zu kämpfen hat. Er schreibe an die Gemeinde in Rom, von der er gehört habe, dass es auch dort Spannungen innerhalb der Gemeinde zwischen Juden und Griechen, Gebildeten und Barbaren, Starken und Schwachen, Überlegenen und Unterlegenen gebe. Diese Spannungen wolle er (mit theologischen Mitteln) überwinden. Zugleich wolle er die römische Gemeinde dafür gewinnen, ihn auf der geplanten Missionsreise nach Spanien zu den dort lebenden „Barbaren“ zu geleiten. An dieser Schnittstelle verweise Paulus indirekt aber deutlich auf das dominierende antike System von „Ehre und Schande“, das in sozialer, moralischer und religiöser Hinsicht gilt, das aber durch das Evangelium von Jesus Christus  in jeder Hinsicht überwunden ist. Zugleich sei dies ein Angriff auf den Gott-Kaiser-Kult, indem er der angemaßten Selbstvergottung des römischen Kaisers die wahre Inthronisation Jesu Christi zum „Sohn Gottes in Kraft“ (Röm 1,4) entgegensetzt.

Ich finde die These von Jewitt interessant, weil sie viele Details des Römerbriefs in neuem Licht und in ihrer Zusammengehörigkeit sehen lässt. Ich bin von der These aber nicht voll überzeugt. Dass das Evangelium das antike System von Ehre und Schande überwindet, ist m. E. überzeugend. Aber müsste Paulus dann nicht kreuzestheologisch argumentieren wie in 1. Kor 1 und 2? Die paulinische Begründung dafür, dass er sich des Evangeliums nicht schämt besteht im Römerbrief aber in dem Verweis darauf, dass das Evangelium eine Kraft Gottes ist, die den Glaubenden - Juden und Griechen gleichermaßen - zuteil wird. Das entkräftet aber das System von Ehre und Schande nicht, sondern überbietet es.

Aber in einer Hinsicht weist Jewitt sicher zu recht auf etwas hin: Wer von sich ohne konkreten Anlass sagt: „Ich schäme mich nicht“, ist sich jedenfalls dessen bewusst, dass es Gründe geben könnte, sich zu schämen. Und den in der Antike gängigen Wert- und Ehrvorstellungen wird das Evangelium von Jesus Christus jedenfalls nicht gerecht, sondern stellt sie in Frage. Und das ist eine Erfahrung, die nicht auf die antike Gesellschaftsordnung beschränkt ist, sondern die auch uns bekannt vorkommt und an der wir oft genug selbst Anteil haben und Anteil nehmen. Insofern stellt es eine gute Überleitung zum dritten, systematisch-praktischen Teil meines Vortrags dar, sich selbst zu fragen: Kann ich auch von mir sagen: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“? Und verhalte ich mich auch so?

C  Systematische und praktische Reflexionen

Die Unwillkürlichkeit der Scham

Das paulinische „Ich schäme mich nicht“ wirkt, vor allem wenn man das „ich“ betont, wie eine implizite Aufforderung, vielleicht sogar wie eine Verdächtigung, ein Vorwurf oder eine Anklage gegen andere. Da ist es gut sich an das ganz am Anfang über die Unwillkürlichkeit der Scham Gesagte zu erinnern.

„Schäm dich nicht!“ ist – im Unterschied zu „Schäm dich!“ –  kein sehr sinnvoller Imperativ. Wenn wir zu jemandem sagen: „Schäm dich!“, dann legen wir unsere Maßstäbe an sein Verhalten an und bringen damit zum Ausdruck, dass er unserer Ansicht nach (allen) Grund hat oder hätte, sich zu schämen. Ob der Angesprochene das auch so sieht und akzeptiert, bleibt offen. Das, was der Ausdruck: „Schäm dich nicht!“ meinen könnte, hieße vermutlich: „Du hast (in diesem Fall) keinen Grund, dich zu schämen.“ Auch da legen wir unsere Maßstäbe an, aber es könnte sich zeigen, dass wir gerade damit von irrigen Voraussetzungen ausgehen.

Deshalb ist es gut, wenn wir – wie Paulus – bei uns selbst bleiben. Und die Frage: „Schäme ich mich (gelegentlich, häufig, immer) des Evangeliums?“ halte ich für eine sehr sinnvolle heuristische Frage. Wir werden uns diese Frage – zumal als Pfarrerinnen und Pfarrer – kaum in kühler Distanz stellen können, sondern in irgendeiner Form der Betroffenheit, die naturgemäß auch mit unserer persönlichen und beruflichen Identität zu tun hat.

Darf ich mich als Christenmensch oder in meinem Beruf überhaupt des Evangeliums schämen? Diese Frage hat nun etwas Heilloses; denn das Sich-Schämen gehört jedenfalls nicht zu den Dingen, die man „darf“ oder „nicht darf“, die man „tun“ oder „lieber bleiben lassen“ kann, über die wir verfügen, so dass man sich vornehmen kann: „Ab heute (oder vielleicht doch lieber erst ab morgen) schäme ich mich des Evangeliums nicht mehr.“

Wenn ich eben sagte, dass die Frage, ob man sich als Christenmensch oder in unserem Pfarrerberuf überhaupt des Evangeliums schämen dürfe, etwas Heilloses hat, so möchte ich umgekehrt noch einmal sagen, dass die ehrliche Konfrontation mit der Frage: „Schäme ich mich des Evangeliums?“ zumindest etwas Verheißungsvolles hat. Sie leitet zur Aufrichtigkeit und zur schonungslosen Ehrlichkeit an. Und es wäre nicht das Schlechteste, wenn wir alle mindestens eine(n) Seelsorger(in) hätten oder wüssten, mit denen wir in aller Offenheit über unsere diesbezügliche Scham sprechen könnten. Das wäre eine Form des usus elenchticus evangelii.

2  Anzeichen für vorhandene und nicht-vorhandene Scham

Woran kann ein Mensch bei sich selbst erkennen, dass er sich des Evangeliums schämt?

Ich denke, primär daran, dass er schweigt, wo er reden müsste (Kurt Rommel: „Ich rede, wenn ich schweigen sollte, und wenn ich etwas sagen sollte, bin ich plötzlich stumm.“).[6] Das können Situationen sein, in denen ein „offenes Bekenntnis“ (EG 136,4 [„0 komm, du Geist der Wahrheit von Philipp Spitta]: „Es gilt ein frei Geständnis in dieser unsrer Zeit, ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit, … zu preisen und zu loben das Evangelium“) angesichts von Spott und verächtlichem Reden über Gott und den Glauben gefordert wäre.

Ich denke aber auch an die eindrückliche Aufforderung aus Sprüche 31,8: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“

Zu den Anzeichen des Sich-nicht-Schämens gehört für mich das Tischgebets bzw. das Sich-bekreuzigen im Familien- und Freundes- bzw. Kollegenkreis sowie in der Öffentlichkeit einer Kantine oder eines Restaurants.

In manchen Situationen ist schon der Besuch einer Kirche und die Teilnahme an einem Gottesdienst ein Zeichen dafür, dass ein Mensch sich des Evangeliums nicht schämt.

Ja, selbst eine so bescheidene Äußerung wie der Wunsch „Gottes Segen“ zum Geburtstag ist heutzutage schon erwähnenswert und wird meiner Erfahrung nach nicht selten als ein wohltuendes kleines Glaubensbekenntnis angenommen

Generell ist der freimütige Gebrauch des Wortes „Gott“ (und nicht nur das halbernsthafte Reden vom „lieben Gott“) und vor allem des Namens Jesu Christi außerhalb von gottesdienstlichen bzw. liturgischen Zusammenhängen für mich ein Zeichen dafür, dass ein Mensch sich des Evangeliums nicht schämt (oder es jedenfalls nicht zeigt).

Von zunehmender Bedeutung ist schließlich das Glaubenszeugnis in der interreligiösen Begegnung. Was das anbelangt, können wir von Muslimen (und ich meine nicht Islamisten) lernen, was die Unbefangenheit des Redens vom eigenen Glauben anbelangt. Ich bin der Meinung, dass es heute eine der vordringlichen Aufgaben der christlichen Kirchen und Gemeinden ist, das offene, ehrliche, sich über Konsense freuenden aber auch für Differenzen sensible Gespräch zwischen der Religionsgemeinschaften und Kirchen in unserem Land anzustoßen und längerfristig zu führen.

3  Möglichkeiten der Überwindung von Scham

Ich bleibe dabei: Scham ist ein Gefühl des tiefen Unbehagens, das sich vor einem Forum unwillkürlich einstellt und auf eine innere Unstimmigkeit im Blick verweist. Daraus könnte man schließen, dass wir gar nichts tun können, um das Gefühl der Scham zu überwinden, sondern dass wir ihm einfach ausgeliefert sind. Aber ich vermute aufgrund eigener Erfahrungen, dass das nicht generell und ausnahmslos gilt. Zwar gehorcht das Gefühl der Scham (wie alle Gefühle) weder unserem Denken noch unserem Wollen (so Luthers anthrologische Fundamentalerkenntnis), aber wir können das Schamgefühl in unserem Handeln und Reden gewissermaßen nicht zu Wort kommen lassen.

Ich erinnere mich da an den – nicht ungefährlichen – Rat, den Peter Böhler in der Mitte des 18. Jh.s seinem Freund, dem anglikanischen Priester John Wesley gab, als dieser mit großem Erschrecken entdeckte, dass ihm alles Gottvertrauen, also der Glaube an Gott fehle. Da gab Peter Böhler ihm den Rat: „Predige den Glauben, bis du ihn hast; und dann predige ihn, weil du ihn hast.“ Problematisch an diesem Satz finde ich das Reden vom „Haben“ des Glaubens, aber man kann das ja auch richtiger verstehen, dass der Glaube uns hat. Problematisch ist zweitens, dass das als eine Anleitung zur chronischen Heuchelei missverstanden und missbraucht werden kann. Ob das der Fall ist, wird man wahrscheinlich daran merken, ob der vom Glauben Redende so spricht, dass seine Hörerinnen und Hörer merken: Er ist selbst ein Suchender.

Trotz dieser zweifachen Problematik finde ich an Böhlers Rat den Gedanken gut, dass wir durch unser eigenes Reden, das in diesem Fall gewissermaßen unserem Glauben vorauseilt, auch uns selbst predigen können und sollen. Und wenn man es so formuliert, ist man bei der ganz elementaren und wichtigen homiletischen Einsicht, dass jede Predigt, die wir unseren Gemeinden halten, eine sein sollte, die zuvor der Bibeltext uns gehalten hat. Dann sind wir die ersten Hörer(innen), bevor wir zu Prediger(innen) werden.

Das hieße konkret, dass wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten das Herz fassen, auch dort von Gott, von Jesus Christus, vom Heiligen Geist, vom christlichen Glauben zu reden, wo uns das peinlich ist, um mit diesem tastenden Reden Erfahrungen, hoffentlich ermutigende Erfahrungen zu machen. Wie gut, dass wir in Gestalt des Vaterunser, der Psalmen und Gesangbuchlieder Texte haben, die wir in solchen Situationen nicht erst erfinden müssen, sondern die wir verwenden und unter die wir uns stellen können. Und wie gut, dass es mit der Sprachform des Passivum divinum, in der wir von Gott reden können, ohne das Wort „Gott“ zu gebrauchen, eine Möglichkeit haben, konkret und anschaulich von Gott zu reden, ohne Gottes Namen zu missbrauchen.

Ich kann mir vorstellen, dass es in all diesen Sprachformen gelingen kann, zugleich zu seinem Schamgefühl zu stehen und es im eigenen Reden oder Tun zu überholen.

Im Blick auf das gemeinsame Gebet (in der Ehe oder Familie, mit Freunden oder Kollegen) kam mir dabei folgende Idee: Wenn wir das Gefühl haben, dass wir nicht in der Lage sind, spontan, in eigenen Worten zu beten, während andere  dabei zuhören, dann könnte man sich einem solchen Gebet annähern, indem man – für sich alleine oder gemeinsam – darüber nachdenkt und sich austauscht, was, worum und wofür man gerne beten, Gott bitten oder danken möchte, wenn man es könnte. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die nicht beten können (der Apostel Paulus hat bekanntlich sich und seine Leser in Röm 8,26f. in gewisser Hinsicht dazu gezählt), die aber unbefangen und authentisch einander sagen können, worum sie Gott gerne bitten und wofür sie ihm gerne danken würden, wenn sie sich nicht dafür schämen, sondern es wagen würden. Vermutlich wird diese Vorform oder Vorübung des Gebets, wie ich das einmal nennen möchte, dann irgendwann in das Gebet übergehen oder kaum noch von ihm unterscheidbar sein.[7] Das ist bislang nur eine Idee von mir. Entstanden ist sie übrigens daraus, dass meine Frau und ich vor (oder auch nach) dem gemeinsamen morgendlichen Gebet manchmal eine kleine Überlegungs- und Sammelphase unter der Überschrift einlegen: Wofür und für wen woll(t)en oder müss(t)en wir heute unbedingt bitten und wofür danken? Da wir gewiss sind, dass Gott auch schon bei dieser Sammelphase gegenwärtig ist und „zuhört“, kommt dann gelegentlich die (rhetorische) Frage auf, ob das nicht schon selbst das Gebet (oder ein Teil desselben) war.

D  Die wohltuende Umkehrung des Themas

Es gibt zwei Aussagen aus dem Hebräerbrief, eine dritte aus dem Gesangbuch, (natürlich von Paul Gerhardt), in denen der paulinische Satz: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ zwar nicht verneint, wohl aber umgekehrt wird und damit noch einmal eine ganz andere Dichte und Tiefe bekommt.

1.) In Hebr 2,11 und 11,6 wird in ähnlichen, aber dann doch auch unterschiedlichen Worten gesagt, dass Gott bzw. Jesus Christus sich unser nicht schämt: In Hebr 2,11 heißt es von Jesus Christus: Er „schämt … sich auch nicht, sie [sc. gemeint sind diejenigen, die er durch seine Erniedrigung geheiligt hat] Brüder zu nennen.“ Und in Hebr 11,16 heißt es: „Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt [sc. gemeint ist das himmlische Jerusalem] gebaut“. Diese beiden Aussagen, die leider nicht zu den bekanntesten Bibeltexten gehören, stellen gewissermaßen unser Thema vom Kopf (wieder) auf die Füße. Sie können uns bewusst machen, was für ein abwegiges Szenario es ist, wenn Menschen sich Gottes schämen oder es auch nur für erwähnenswert halten, dass sie sich Gottes nicht schämen – als hätte Gott nicht unvergleichlich mehr Grund, sich unser zu schämen, statt wir seiner!?

Der Hebräerbrief trägt das aber nicht – wie ich eben andeutungsweise – im Ton der Entrüstung vor, sondern im Ton der Dankbarkeit: Wie gut und wie schön, dass Jesus Christus, sich unser nicht schämt, sondern uns seine Brüder und Schwestern nennt, und dass Gott sich unser nicht schämt, sondern für uns eine himmlische Heimat gebaut hat, in der wir ewig bei ihm sein dürfen. Das passt gut zu der ältesten eschatologischen Aussage des Neuen Testaments aus 1 Thess 4,17: „Wir werden bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.“

2.) Und dann gibt es in dem kostbaren Lied: „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) nicht nur das wunderbare Sterbegebet in den beiden letzten Strophen: Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir …“, sondern auch die 6. Strophe, die ich persönlich nicht ohne Rührung hören und singen kann: „Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht; von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht; wenn dein Haupt wird erblassen im letzten Todesstoß, alsdann will ich die fassen in meinen Arm und Schoß.“

Diese (unsere) Bitte an den Gekreuzigten, er möge uns nicht verachten, wenn wir bei ihm, bei seinem Kreuz stehen wollen, braucht keine Erläuterung und Kommentierung. Ich finde, sie verträgt nicht einmal eine Begründung. Sie spricht für sich.

                                               Prof. Dr. Wilfried Härle, Heidelberg/Ostfildern

 

[1] Ich wurde in der anschließenden Diskussion in Rotenburg gefragt, was aus meiner Sicht das Gegenteil von Scham bzuw. Sich-schämen sei, und ob ich dem zustimmen könne, dass „Stolz“ bzw. „Stolz-sein“  dieses Gegenteil sei. Ich habe darauf zurückhaltend geantwortet. Im Nachhinein wurde mir bewusst, warum. „Gegenteil“ kann entweder bedeuten das kontradiktorische Gegenteil, das immer dann wahr bzw. gegeben ist, wenn „Scham“ bzw. „Sich-schämen“ nicht gegeben  bzw. nicht wahr ist. In diesem Sinn ist Stolz für mich nicht das Gegenteil von Scham, wohl aber im Sinne eines konträren Gegensatzes. Der ist immer dann gegeben, wenn nicht beides zugleich wahr, wenn aber beides zugleich falsch sein kann, wenn es also „Weder-noch-Situationen“ geben kann.

[2] Siehe E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, 1955 sowie ders., Der vollständige Lebenszyklus, 1982.

[3] W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, S. 53f..

[4] Vielleicht erklärt diese Unterscheidung zwischen dem Sich-eines-anderen-schämen als Indiz einer tiefen Beziehungsstörung und der Treulosigkeit in einer Beziehung auch die merkwürdige Spannung, die in 2. Tim 2 zwischen V. 12 b und dem unmittelbar folgenden V. 13 besteht: „verleugnen wir, so wird er uns auch verleugnen; sind wir untreu, so bleibt er doch treu; denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“

[5] Dazu gehören folgende 11 in englischer, deutscher oder französischer Sprache: B. J. Malina / J.J. Pilch (2006);  R Jewitt (2007); F. Genuyt (2008); C. S. Keener (2009); W. Klaiber (2009); F. J. Matera (2010);  P. N. Tarazi (2010); C. K.Barrett (2011);  A. J. Hultgren (2011); C. G. Kruse  (2012);  und M. Wolter (2014).

[6] Siehe dazu insgesamt die Denkschrift der EKD: „Das rechte Wort zur rechten Zeit“, Gütersloh 2008

[7] In der Diskussion in Rotenburg habe ich die anwesende Pfarrerschaft um Reaktionen auf diesen Vorschlag gebeten und habe im Anschluss an die Veranstaltung zwei solche Reaktionen erhalten. Beide bezogen sich auf den Versuch, auf diese Weise im Konfirmandenunterricht an das Gebet heranzuführen, und beide waren positiv. Einer der beiden Versuche ist als Gemeinschaftsarbeit von Hilke Bauermeister, Julie Danckwerts, Richard Gnügge, Anne Störmer und Hanna Wagner unter dem Titel: „Das Gebet ist wie ein Schlüssel“ in der Zeitschrift Loccumer Pelikan 4/10, S. 180-185 veröffentlicht worden. Ich danke für diese ermutigenden Rückmeldungen und gebe sie hiermit gerne weiter. Der Versuch des Gebets im Potentialis ist offenbar für den Konfirmandenunterricht besonders gut geeignet, aber m. E. nicht auf ihn beschränkt.