Predigt im ökumenischen Gedenkgottesdienst zur Eröffnung der Gedenkstätte des Lagers Sandbostel Lagers

Predigt über 5. Mose 15,7 in der Lagerkirche Sandbostel am 29. April 2013

Gnade sei mit euch von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
Du sollst dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder (Dtn 15,7)
Das ist das biblische Losungswort für diesen Tag. Eine Erinnerung an Herzenswärme an diesem Ort der Erinnerung an Herzenshärte. Eine Erinnerung an die helfende Hand an diesem Ort, an dem Hände soviel Gewalt ausgeübt haben. Eine Mahnung zur Barmherzigkeit an diesem Ort der Unbarmherzigkeit.

Du sollst dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder und deiner armen Schwester. So einfach. So selbstverständlich scheinbar auch. Und doch so schwer - und für viele damals so unendlich weit weg.

Sandbostel, Sandbostel, trauriges Lager in Deutschland.
Hölle des Gefangenen und für ihn schlimmer als eine Strafkolonie.
Wird man jemals die schmerzliche Erinnerung an dich vergessen
Und das grausame Exil, das du uns hast fühlen lassen.

Sandbostel, Sandbostel, trauriges Lager in Deutschland.
Wird man jemals deine fürchterlichen Wachtürme vergessen.
Die unendliche Hecke aus Stacheldraht, aus der
Der Gewehrschuss des Boche [Deutschen ], der uns bewacht, herauskommt.
Verabscheute Silhouette, keiner anderen gleich,
Wird man jemals deine fürchterlichen Wachtürme vergessen?

Sandbostel, Sandbostel, du rufst unser Elend ins Gedächtnis zurück.
Wir werden nicht mehr daran denken, was der Krieg war,
Dass wir gelitten haben in unserem Exil.
Und wir werden deinen verabscheuungswürdigen Namen unseren Söhnen verschweigen.

Sandbostel, Sandbostel, trauriger Ort des Elends.

Nicht leicht auszuhalten sind diese Worte des französischen Kriegsgefangenen und Dichters Gaston-Henry Aufrère. Nicht leicht auszuhalten gerade für Menschen, die hier leben.

Nur zu verständlich, dass er nicht mehr erinnert werden wollte, dass er den Namen Sandbostel nicht mehr nennen wollte. Wie so viele auf allen Seiten die Erinnerungen an den Krieg später kaum ausgehalten haben und darüber nicht sprechen konnten.

Wir aber, wir dürfen nicht vergessen. Und wir dürfen nicht schweigen. Wir müssen uns und andere an das erinnern, was hier geschehen ist: Hunger, Durst, Krankheit, Seuchen, Zwangsarbeit, Erniedrigungen, Gewalt, Langeweile, Traurigkeit und Tod. Die perfide Hierarchie, die die Nazis etabliert hatten, die Italiener und besonders die sowjetischen Gefangenen ganz unten. Unfassbar, was man in den Berichten liest von den sowjetischen Gefangenen, wie sie völlig erschöpft, „wie Skelette“, sich schon von den Bahnhöfen hier ins Lager schleppten. Von 5,7 Mio sowjetischen Kriegsgefangenen der Deutschen haben 3,3 Mio nicht überlebt. Monströse Zahlen. Gewollter Tod durch eine Weltanschauung, die ganz ausdrücklich diesen Menschen ihr Menschenrecht aberkannt hatte, gewollte Vernichtung. Am Ende, 1945, die Menschen, die durch die Todesmärsche aus dem KZ Neuengamme hierher kamen, als ob man sie in der Mitte des Landes vor den heranrückenden Alliierten hätte verbergen können. Aber Tausende hat dieser Wahnsinn das Leben gekostet. In all diese verbrecherische Ideologie der Nazis war Sandbostel tief eingebunden.

Nicht leicht auszuhalten das alles. Aber es ist wichtig, dass wir erinnert werden und viele andere auch an diesem Ort.
In Sandbostel kommt man an wirklicher Erinnerung nicht so leicht vorbei. Weil man hier durch die erhaltenen Barracken jedenfalls einiges sehen kann, eine Anmutung, eine Vorstellung bekommt von dem, was hier geschah. Das unvorstellbare Elend sehen wir nicht. Aber was wir sehen, kann Kulisse sein, kann die Geschichten der Betroffenen leichter in unsere Vorstellung heben, die Bilder, die Erinnerungen, die Zeugnisse. Die neue Ausstellung führt all dies sehr eindrücklich und sehr gelungen, wie ich finde, vor Augen.

Die Erinnerung ist nötig. Es ist gut, dass dieser Ort nach seiner wechselvollen Geschichte auch nach 1945 – die inzwischen selbst ein Gegenstand der Geschichte ist – nun ein dauerhafter Ort des Gedenkens ist. Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung – so das bekannte jüdische Wort. Die Gedenkstätte in Sandbostel leistet für unsere Region einen unverzichtbaren anschaulichen Beitrag zu unserer gemeinsamen Erinnerungskultur.

Du sollst dein Herz nicht verhärten gegenüber deinem Bruder. Eine Erinnerung an Barmherzigkeit an diesem Ort der Unbarm-herzigkeit. Dabei: Auch Barmherzigkeit hat es ja gegeben. Man verliert hier jedes Schwarz-Weiß-Denken, hat mir eine Mitarbeiterin erzählt. Es gab Unmenschlichkeit und Menschlichkeit und auf allen Seiten und oft in komplizierten Mischungen.

Ein Rentner erzählt, dass er als Junge erlebte, wie russische Kriegsgefangene nach Brillit in ein Arbeitskommando kamen und verzweifelt nach etwas Essbarem suchten. „Nun fing es an, dass ich mit den Menschen Mitgefühl empfand“, erinnert er sich. Er brachte rohe Kartoffeln mit, wann immer er konnte. Die Russen hatten kleines Holzspielzeug gebastelt, um es gegen Lebensmittel einzutauschen. Solche Zeugnisse gibt es manche - von Hilfe, so gut es ging, von kleinen Taten der Barmherzigkeit. Gerade bei den Gefangenen, die auf Bauernhöfen eingesetzt waren, gab es wohl meist ein ordentliches menschliches Miteinander. Aber das alles stand eben doch unter den Vorzeichen einer alles erdrückenden unbarmherzigen Ideologie. Und das nicht nur heimlich, sondern ganz öffentlich. Immer wieder stand in der Bremervörder Zeitung zu lesen die Warnung vor menschlicher Nähe mit den „Fremdvölkischen“. Immer wieder – für Christen schwer zu lesen – wird auch betont, es sei verboten, gemeinsam zum Gottesdienst zu gehen. Die völkische Ideologie stellte sich über die biblische und für uns Christen verpflichtende Wahrheit, dass in Christus alle Grenzen von Völkern und Rassen überwunden sind. „Feind bleibt Feind“ hieß es in der Zeitung, und: „Wir müssen uns endlich allen Gefühlsüberschwang und alle Humanitätsduselei abgewöhnen“. - So spricht eine menschenverachtende Ideologie.

Du sollst dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder – so spricht Gott. So spricht die Stimme der Barmherzigkeit.

Sein wir also auf der Hut, immer wenn man uns vor „Humanitätsduselei“ o.ä. warnt oder auch vor „Gutmenschentum“ – wie es heute gern abwertend gesagt wird. Natürlich braucht Barmherzigkeit ein vernünftiges Augenmaß und den gesunden Menschenverstand. Aber beides muss wirklich der Barmherzigkeit dienen. Vorsicht, dass nicht unter einem Deckmantel Unbarmherzigkeit einzieht!

An eine böse Zeit werden wir hier erinnert. Wir waren und wir sind hier auch als Christen, auch als Kirche betroffen. Wir wissen heute, dass wir auch als Christen, gerade auch als Protestanten mutiger widerstehen, klarer Widerworte hätten sprechen müssen. Schon Ende 1945 hat der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland erschrocken bekannt: „wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Du sollst dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder und deiner armen Schwester. Worte der Weisung. Der Blick geht dadurch nach vorn. Gewiss, den Blick nach vor gibt es nicht ohne den Blick zurück. Aber Gottes Wort weist nach vorn, in eine Zukunft mit Gott und mit dem Nächsten. Der zweite der Texte, die wir zu Beginn des Gottesdiensts hörten und der von dem unsäglichen Leiden eines sowjetischen Gefangenen in Sandbostel erzählte, endete mit einem Hoffnungszeichen und einer Mahnung: Der Vater war mittlerweile 91 Jahre alt. Heute blickt er jeden Tag hoch zum Himmel und wiederholt, dass es nie wieder Krieg geben darf.
Diese ganz einfache Botschaft geht von diesem Ort aus: Lasst uns Menschen des Friedens sein. Lasst uns für Frieden und die Rechte aller Menschen eintreten und beten in aller Welt, in Syrien, in Israel und Palästina, in Korea und in Afrika. Lasst uns für Frieden eintreten aber vor allem auch vor der eigenen Haustür, in unseren Beziehungen, in unseren kleinen und großen Konflikten und Auseinandersetzungen. Lasst uns wachsam sein gegen alle Formen von Rassismus und Fremdenhass, gegen Feindschaft oder gegen Muslime oder gegen welche Gruppe auch immer.

Ich bin daher dankbar, dass der Kirchenkreis Bremervörde-Zeven ein Projekt auf den Weg gebracht hat: „Jugendliche werden Friedensstifter“. Dafür soll eine friedenspädagogische Fachkraft angestellt werden, die hier in Sandbostel und in der Freizeit-und Begegnungsstätte in Oese Konfirmandinnen und Schüler zwischen 13-16 Jahren zu Friedensstiftern ausbildet. Sie erleben diesen Ort und werden zugleich sensibilisiert für alle Formen der Gewalt heute, sie sollen praktische Möglichkeiten lernen, der Gewalt zu begegnen. Und das alles auf der Basis der biblischen Ermutigung und Verpflichtung zum Frieden.

Du sollst dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder und deiner armen Schwester. Herz und Hand sind gefragt. Unsere innere Einstellung, die in jedem Menschen einen Menschen nach dem Bilde Gottes sieht. Und das konkrete, praktische Handeln. Herz und Hand. Lasst uns eintreten für eine Kultur der Barmherzigkeit! Dazu verpflichtet die Erinnerung an diesem Ort, dazu verpflichtet uns vor allem die Weisung unseres Gottes. Vor über 800 Jahren hat der Pariser Philosoph, Petrus Abaelardus, geschrieben: „Eine Stadt wird von Barmherzigkeit zusammengehalten.“ Jedes Dorf, jedes Land wird zusammengehalten durch Barmherzigkeit. Ohne Barmherzigkeit, ohne praktisches Aufeinander – Acht haben, ohne Widerspruch gegen Unrecht zerfällt ein Gemeinwesen. Der katholische Theologe Paul Zulehner sagt: Wer bei Gottes Liebe eintaucht, taucht bei den Armen wieder auf.

Dieser Ort zeigt uns Abgründiges. Er zeigt, wozu Menschen fähig sind, zu welchen Grausamkeiten, zu welch abgründigem Verrat an der Gottebenbildlichkeit, die doch von unserem Schöp-fer allen Menschen mitgegeben ist, Menschen aller Nationen, Rassen, Regionen. An einem solchen Ort ahne ich den Sinn der Bitte des Vaterunsers: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Ja, die Versuchung des Bösen – hier wird sie sichtbar. Wo steht, dass sie nicht auch nach uns greifen kann, nach mir? Ja: Himmlischer Vater, erlöse uns von dem Bösen!

An diesem Ort haben, so scheint mir, Hochmut und Rechthaberei keinen Raum. An diesem Ort wird man leise und demütig. Dankbar, in Frieden leben zu dürfen, dankbar, in einem versöhnten Miteinander mit all den Völkern zu leben, die einst Feinde waren und aus deren Mitte Menschen hier gefangen waren.

Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sagt die Bibel (Klagel 3,22). Das ist unser Trost. Zu Gottes Barmherzigkeit nehmen wir Zuflucht an diesem Ort. Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. Gottes Barmherzigkeit weist uns in die Zukunft, in ein Leben in Frieden und mit der Verpflichtung zur Versöhnung. Für eine Kultur der Barmherzigkeit kann eintreten, wer aus der Barmherzigkeit Gottes lebt. Für den Nächsten eintreten kann, wer aus der Liebe Gottes lebt, die in Jesus Christus erschienen ist. Er ist die Mitte unseres Glaubens. In ihm ist Vergebung und Versöhnung. Er ist unser Friede. Lasst uns von diesem Ort gehen als Menschen der Barmherzigkeit und Zeugen der Barmherzigkeit Gottes.
Amen.