Predigt in der Christvesper am Heiligabend 2017

Stade, St. Wilhadi-Kirche, 18.00 Uhr

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

die ältere Dame ist allein und tief unglücklich. Ihr Blick fällt in das verlassene Zimmer der Tochter. Das Bild auf der Kommode mit einem Bild von ihr und ihrer Tochter hat einen Sprung im Glas. Bilder von früher steigen in ihr auf: Bilder von Streit und heftigen Konflikten, „ich hasse dich“ hört man in der Rückblende und sieht die Tochter aus dem Zimmer laufen.

Die Frau grübelt, denkt nach, sie leidet. Und sie macht sich auf den Weg. „Der Weg“ – so heißt der Zwei-Minuten-Kurzfilm denn auch. Der Weg ist beschwerlich. Sie muss durch tiefen Schnee stapfen. Auf einem zugefrorenen See bricht sie ins Eis ein. Man sieht wie sie unter der Eisdecke kämpft und nur mit letzter Kraft ein Loch zur rettenden Luft findet. Einem gefährlich knurrenden Wolf muss sie widerstehen. Im Gebirge steht sie vor einem tiefen Abgrund. Aber schließlich erreicht die Mutter das Haus der Tochter. Sie klingelt. Die Tochter öffnet. Ein gehauchtes „Hallo“ nur. Und dann fallen sie sich um den Hals. Versöhnung.

Im Film erscheint die Einblendung: „Wie weit der Weg auch scheint. Es ist Weihnachten. Zeit sich zu versöhnen.“

Und dann, liebe Gemeinde, kommt noch die eigentliche Pointe. Die habe ich selbst erst nicht begriffen, als ich zum ersten Mal von dem Film erzählte. Darauf mussten mich andere hinweisen und es war mir dann richtig unangenehm. Die Pointe besteht nämlich darin, dass das Haus der Mutter und das der Tochter auf demselben Grundstück stehen. Soweit der Weg auch schien. In Wahrheit waren es gerade dreißig Schritte über den Hof. Man sieht am Schluss diesen kurzen Weg im Schnee im Bild.[1]

Eine anrührende Geschichte, manche kennen sie. Das Ganze ist Teil der Weihnachtskampagne einer Supermarktkette. Es gibt auch Anzeigen und Plakate dazu. Eine richtige Versöhnungskampagne hat der Discounter zu Weihnachten 2017 gestartet. Auf den Plakaten wird zur Versöhnung aufgefordert, im Rheinland zum Beispiel zwischen Köln und Düsseldorf. Durchaus politischen Sinn macht das Plakat: „Hallo, England, wir lieben euch noch immer.“ „Hello Britain, we still love you!.“

Zur Kampagne gehört schließlich auch noch ein Gewinnspiel, bei dem man sich darum bewerben kann, eine Flasche Wein an eine Person zu verschicken,  mit der man sich versöhnen will. Der Wein ist aber durch einen Zahlencode gesichert. Öffnen kann der Empfänger die Flasche nur, wenn er vorher mit dem Auftraggeber gesprochen hat und von ihm den Zahlencode bekommen hat.

Natürlich, diese ganze Kampagne ist kommerziell. Aber sie ist richtig gut gemacht. Und sie trifft etwas Zentrales der Weihnachtsbotschaft. „Wie weit der Weg auch scheint. Es ist Weihnachten: Zeit sich zu versöhnen.“

Und so wie ich es erst nicht kapiert habe, so ist es wohl manchmal: Wir sehen gar nicht, wie kurz der Weg eigentlich wäre, sich zu versöhnen. Wie nah der Weg zum Nächsten, um wieder Frieden zu schließen, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, um Vergebung zu gewähren und zu geben.

Zu Heiligabend erleben wir ja beides: Gemeinschaft und Trennung. Wir erleben, wie die Familien zusammenkommen, oft drei oder gar vier Generationen. Die großen Kinder sind oft von fernher gekommen. Verwandte und Freunde feiern zusammen und zeigen damit: Wir gehören zusammen. Schön ist das, das Wertvollste wohl, was wir haben im Leben. Unser Leben ist ja darauf angelegt, dass wir in der lebendigen Begegnung mit anderen leben, dass wir auf Resonanz stoßen, wie es der Soziologe Hartmut Rosa sagt, dass wir Menschen als Gegenüber haben, die in uns etwas zum Klingen und Schwingen bringen. Da bezeichnet der Soziologe die Familie als den wichtigsten „Resonanzhafen“. Ein solcher geschützter Ort für lebendige Beziehungen ist unverzichtbar. Man darf die Erwartungen daran nur nicht überfrachten. Und man darf natürlich nicht alte Bilder idealisieren. Bilder vom Zusammenleben und von Familie haben sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder geändert, Menschen leben auch in Patchworkfamilien aller Art. Und für alles Miteinander gilt: Es kostet auch Mühe, es sind immer wieder Wege aufeinander zu nötig.

Aber natürlich erleben wir auch die Brüche, zu Weihnachten besonders: Wo eine zu Weihnachten allein bleibt. Wo Menschen eben nicht zusammenfinden, wo unsichtbare Mauern aufgebaut worden sind, wo man keine Worte mehr findet oder niemand den ersten Schritt gehen mag. Oft sind die Dinge viel komplizierter als im Film, das ist keine Frage. Und doch leben wir vom Miteinander und es tut gut, Wege aufeinander zu zugehen. Neulich sagte mir jemand, der einen nahen Angehörigen zu Grabe trage musste: „Nun ist es zu spät zur Versöhnung.“ Wie schlimm ist es, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, den Weg zueinander zu finden. Da kann es ein sehr lebensförderlicher Impuls dieses Festes sein: „Wie weit der Weg auch scheint. Es ist Weihnachten: Zeit sich zu versöhnen.“ Und manchmal scheint der Weg nur weit und ist eben doch ganz nah, ich kapiere es nur nicht.

Das alles knüpft nun an die Weihnachtsgeschichte selbst an. Sie erzählt von dem Weg, von der Bewegung hin zum Stall, in dem das Kind zu Welt kommt. Schon am Anfang. Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa mit Maria, seinem vertrauten Weibe… So beginnt die Geschichte, mit dem Weg von Maria und Joseph nach Bethlehem. Ja, schon die Weihnachtsgeschichte zeichnet das Bild einer Familie als besonders wichtigem Raum, gefährdet, weil es keine Herberge gab, aber doch in besonderer Weise gesegnet.

Und dann der Weg der Hirten. Die Engel waren ihnen erschienen, auf den einsamen Feldern in der Nacht. Sie hatten ihnen erzählt von der Geburt des Kindes: „Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch große Freude. Euch ist heute der Heiland geboren.“  Und das setzt die Hirten in Bewegung. Da können auch diese sturmerprobten Kerle nicht einfach bleiben, wo sie sind. „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist.“ Weihnachten – das ist Zeit, sich auf den Weg zu machen, hin zu dem Kind. Lasst uns nun gehen… Darum geht es, sich innerlich auf zu machen hin zu diesem Geheimnis, zu diesem Kind.

Und dort finden die Hirten dieses sehr besondere Kind. Was hatten die Engel darüber gesagt? Siehe, ich verkündige euch große Freude. Euch ist heute der Heiland geboren. Das heißt ja: Gott hat sich auf den Weg zu uns gemacht. Zu seinen Menschen. Das ist das Geheimnis von Weihnachten: Gott macht sich auf den Weg zu uns, auf den Weg der Liebe. Gott macht sich auf den Weg, um Zerbrochenes zu heilen, um zu seinen Söhnen und Töchtern zu kommen und um neue Gemeinschaft mit ihnen zu haben. „Christ ist erschienen, uns zu versühnen“, so singen wir nachher in der dritten Strophe von "O du fröhliche. Das heißt ganz einfach: Gott will Gemeinschaft begründen, will die Resonanzachse zwischen uns und der Ewigkeit wieder zum Klingen bringen. Es ist Weihnachten: Zeit sich zu versöhnen. Das ist Gottes Bewegung selbst, Gottes Weg hin zu seinen Menschen. Weihnachten ist die große Versöhnungskampagne Gottes. Und das ganz ohne Zahlencodes. Ganz ohne Vorbedingungen.

Ja, manchmal scheinen Wege weit und manchmal sind sie auch weit. Da trägt der Film – einmal komme ich noch auf ihn – gewaltig dick auf: Die Frau bricht im Eis ein und ertrinkt beinahe. Sie begegnet einem grimmigen Wolf, steht vor einem tiefen, nebligen Abgrund. Ziemlich massiv das alles.

Aber das alles steht ja für Erfahrungen, die wir kennen. Manchem ist mehr als einmal ein Wolf begegnet in diesem Jahr: Ein grimmiges Gegenüber. Die Krankheit, die plötzlich das Leben bedroht, die alles verändert. Der Riss in der  Familie, wo vor kurzem noch alles heil erschien. Die berufliche Krise, wenn der Erfolg plötzlich ausbleibt und man aufs Abstellgleis rutscht. Die Einsamkeit des Alters, wenn man scheinbar nicht mehr gebraucht wird.. Von all den politischen Gefährdungen auf dieser Welt gar nicht zu sprechen, man könnte ja versucht sein, einige politische Wölfe mit Namen zu nennen.

Das fühlt sich manchmal buchstäblich an, als ob man unters Eis gerät, im Wasser zu ertrinken droht und kein Luftloch mehr nach oben findet. Und dann ist es eben auch so, als ob es keinen Weg nach vorn mehr gibt, sondern als ob sich da ein Abgrund auftut.

Die Botschaft von Weihnachten ist: Es gibt immer einen Weg. Aber nicht einfach, weil der Weg eigentlich ganz einfach und kurz ist. Sondern weil Gott selbst sich zu uns auf den Weg gemacht hat. Gott ist an meiner Seite, wo der Weg verbaut scheint, wo mich Wölfe bedrohlich anknurren.

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter… so heißt es im Bibelwort für diesen Heiligabend aus Jesaja 9: Die Herrschaft ist gelegt auf dieses Kind. Er ist stärker als die Wölfe dieser Welt, welchen Pelz sie sich auch immer angelegt haben, welche persönlichen oder politischen Gefahren uns feindselig anschauen. Fürchte dich nicht, das ist die Botschaft der Engel. Fürchte dich nicht, auch wenn dir Wölfe entgegen kommen. Fürchte dich nicht, wenn Du unter dem Eis zu stecken scheinst. Fürchte dich nicht, wenn der Weg nicht weiter zu gehen scheint. Die Weihnachtsbotschaft macht Mut, sich immer wieder neu auf den Weg zu machen.

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende…

Frieden will dieses Kind bringen. Den Frieden Gottes für uns Menschen, wie groß der innere Unfriede auch sei.

Und so will uns Weihnachten tatsächlich zu Menschen des Friedens machen. Zu Menschen, die sich einsetzen für Frieden, für Toleranz, eben für Versöhnung. Zu Menschen, die auch mal den ersten Schritt gehen, wo es Streit gegeben hat. Zu Menschen, die auf andere zugehen, die der Hilfe bedürfen, auf Geflüchtete etwa, gerade auch zwei Jahre nach der großen Flüchtlingswelle.

So lasst uns teilhaben an der großen weihnachtlichen Versöhnungskampagne Gottes. Weil Gott sich längst auf den Weg zu mir und zu dir gemacht hat, deshalb ist es wahr: Wie weit der Weg auch scheint. Es ist Weihnachten: Zeit sich zu versöhnen.

Amen

[1] https://www.youtube.com/watch?v=nszB5ElQd3M