Predigt beim Generalkonvent in Rotenburg/Wümme über Mt 28,16-20

Stadtkirche Rotenburg, 8. Juli 2015

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,
den Predigttext haben wir gehört. Matthäi am Letzten. Die Redewendung gebraucht man, wenn nichts mehr geht. Geld alle, Gesundheit am Ende. Dann ist Matthäi am Letzten.

In Wahrheit aber ist hier das Letzte das Erste. Das Ende ist hier ein Anfang, und was für einer. Wo in anderen Lebensbeschreibungen der Nachruf steht, hören wir hier Worte, die nach vorn weisen und die die Welt verändert haben wie kaum andere. Worte der Sendung, des Aufbruchs, der Bewegung: Geht – Tauft – Lehrt.

Für uns stehen die Worte nun am Anfang dieses Tages, wie geschaffen für ein Nachdenken über die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Wie kann das für uns heute aussehen: gehen – taufen – lehren?

Was gelingt? Tauffeste z.B., am letzten Samstag etwa mit 90 Täuflingen in Bremerhaven oder auch anderswo.
Was ist in der Krise? Die selbstverständliche Praxis der Kindertaufe etwa oder auch das Interesse an „Lehre“.
Wie können wir missionarische Kirche sein, wie ist zeitgemäße Kommunikation des Evangeliums möglich? Was kann für unsere manchmal ziemlich ortsfesten Gemeinden das Gehen bedeuten? Völker oder Milieus, zu denen wir gesandt sind und die von Jesu Lehre nicht mehr ganz viel wissen, gibt es weiß Gott genug direkt vor unserer Haustür. Eine vielfältig ausstrahlungskräftige, nach außen schauende, Grenzen überwindende und also missionarische Kirche wünsche ich mir.

Aber: Schon die gängige Überschrift „Missionsbefehl“ hat ja einen etwas militärischen Ton. Und ich möchte Sie heute Morgen nicht als erstes mit Aufforderungen und Imperativen begrüßen, also mit dem Gesetz. Nach Luther kommt in der Theologie ja alles auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium an, im Predigen auch. Das Evangelium ist frohe Botschaft, ist Wort der Freiheit, ermöglicht Durchatmen. Natürlich erwachsen daraus Verantwortung und ethisches Handeln. Aber das Evangelium darf nicht zur moralischen Druckverstärkung und zur Steigerung ethischer Apelle werden, auch nicht an Pastoren.

Also kein Missionsbefehl heute Morgen. Keine Programme, die immer ein wenig den Unterton haben: So wie ihr es macht, ist es noch nicht gut genug.

Ich möchte fragen: Worin liegt in diesen Versen heute das Evangelium, besonders für Pastorinnen und Pastoren?

Am besten stellen wir uns dazu einen Moment zu den elf Jüngern. Ich versuche mich ein wenig hinein zu fühlen, denn der Bericht bei Matthäus ist denkbar knapp. Einerseits war alles zu Ende. Der Prozess gegen Jesus war abgeschlossen, er war hingerichtet, und mit ihm alle Hoffnungen und Träume, die sie mit ihm verbunden hatten. Er war bestattet worden, das Grab war geschlossen. Die Jünger waren am Boden. Matthäi am Letzten.

Andererseits versinken die Jünger nicht in Lethargie. Sie haben sich von Jerusalem wieder auf den Weg nach Galiläa schicken lassen. Die Frauen haben sie auf Trab gebracht, denen Jesus begegnet ist. In Jerusalem gibt es Gerüchte und Krisendiplomatie um das angeblich leere Grab.

Zwischen Bangen und Hoffen, zwischen Resignation und Verwirrung stelle ich mir die Jünger vor. Und kenne solches innerliches Hin- und Her bei mir auch.

Und dann tritt Jesus tatsächlich unter sie. Er begegnet ihnen leibhaftig. Sie fallen nieder vor ihm. Und dann heißt es da: „Einige aber zweifelten.“ Diesen Zweifel mitten in der Ostergeschichte – den finde ich faszinierend.

Ja, wir tun uns manches Mal schwer mit dem Glauben an Jesus, und viele Zeitgenossen allemal. Da ist dieser breite garstige Graben der Geschichte, von dem Lessing spricht. Da ist eine lange Distanz zu den Jesusgeschichten. Aber hier erzählt uns Matthäus von den Jüngern, denen Jesus als der Auferstandene unmittelbar begegnet. Was kann man sich mehr wünschen? Und - „Einige aber zweifelten“!

Wie oft haben wir den Missionsbefehl schon gesprochen, mit seiner Verheißung von Weite und Universalität: Alle Gewalt, alle Völker. Und dann hat man doch die Frage: Wieviel bringt das alles eigentlich?

Missionsbefehl hin oder her: Wir alle erleben über unsere gesamte Dienstzeit, dass unsere Kirche kleiner wird und eben nicht größer. Alle Reformprogramme können das nicht ändern, Rezepte dagegen gibt es offenbar nicht. Das ist und bleibt doch Anfechtung, temptatio. Etliche aber zweifelten.

Wie ist es mit dem Glaubenszweifel bei uns professionellen Zeugen? Gewiss, man kann und soll ihn nicht verschweigen. Aber beauftragt sind wir zur Verkündigung des Evangeliums, das Trost schenken und Vertrauen begründen soll. Das erwarten die Leute, jeden Sonntag, bei jeder Taufe, an jedem.

Und Sie, liebe Schwestern und Brüder, tun das ja - mit Überzeugung und Treue, ringen immer wieder neu den biblischen Texten Worte für die jeweilige Situation ab (und folgen damit ganz wörtlich dem Missionsbefehl). Die pastorale Existenz lässt dabei nicht viel Spielraum für die zweifelnden Stimmen in uns selbst. Aber es gibt sie doch: Etliche aber zweifelten.

Dieser Zweifel darf sein. Im Evangelium jedenfalls ist er benannt. Auch in die Ostergeschichte gehört der Zweifel.

Freilich: Jesus hält sich mit dem Zweifel auch nicht lange auf. Er organisiert keine Austauschrunde mit gestalteter Mitte, in der alle ihrem Frust mal richtig Raum lassen können und sagen, wie es ihnen jetzt geht, so nach Kreuz und Auferstehung. Jesus stellt ohne Wenn und Aber seine Verheißung gegen Enttäuschung und Zweifel der Jünger: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Er schickt sie sehr klar auf den Weg – ohne Debatte: Darum geht hin. Und er sagt ihnen zu. Ich bin bei euch alle Tage. Diese Worte sind Promissio, sie schaffen eine neue Wirklichkeit. Evangelium in Reinkultur! Nach diesem Matthäi am Letzten ist die Welt eine andere durch das große Ich bin bei euch. Und diese Botschaft ist uns als Ordinierten anvertraut.

In eine unglaubliche Bewegung werden die Jünger gestellt und wir mit ihnen. Aus der Ohnmachtserfahrung zu einer großen Weitung der Perspektive: Mir ist gegeben alle Gewalt. Gehet hin in alle Welt. Ich bin bei euch alle Tage. Kosmische Weite. Universalität des Glaubens.
Christusaussagen sind das, keine Beschreibungen der vorfindlichen Urkirche oder der Volkskirche und schon gar keine Umfragewerte. Und gerade darin liegt das Evangelium. Nicht wir müssen für den Missionsbefehl einstehen, er steht nicht mit unseren Erfolgen und fällt nicht mit Frusterfahrungen. Christus selbst steht dafür ein: Ich bin bei euch alle Tage. Mir ist gegeben alle Gewalt.

Ja, ihm, nicht uns. Deshalb bleiben Zweifel und – was noch mehr ist als gedanklicher Zweifel - Anfechtung.

Wissen Sie, was eine Fuckup-night ist? Sorry, aber es heißt wirklich so. Bei einer Fuckup-night kommen Menschen zusammen und erzählen sich ihre Pleiten. Vorzugsweise junge Unternehmer, die ein Start-Up an die Wand gefahren haben: Ein tolle Idee, kräftige Investitionen auf Pump, eine Menge Elan. Und: es ging grandios schief. Im Kultfilm Alexis Zorbas (irgendwie aktuell in diesen Tagen) heißt es nach dem Zusammenbruch der Seilbahn am Schluss: „Hast du schon einmal etwas so wunderbar zusammenbrechen sehen?“ Die Pointe dabei. Bei der Fuckup-night werden die Pleiten nicht erzählt, um sich gegenseitig runterzuziehen, sondern um sich gegenseitig zu ermutigen: Es darf auch schief gehen. Und man darf auch darüber reden. Aber, um dann neu anzufangen. Ziel ist Ermutigung.

Das atmet evangelischen Geist. Vielleicht brauchen wir auch mal eine Fuckup-night, in der wir uns von unseren Pleiten erzählen – wohl eher nicht im Plenum. Vom falschen Namen bei der Beerdigung, von den selbstgemachten Pleiten und Pannen, aber auch vom Ärger, den man als Projektionsfläche für ganz andere Erfahrungen Dritter abbekommt. Aber auch von den Enttäuschungen im Blick auf die eigenen Gemeindeaufbauvisionen und manch andere tiefe Ernüchterung. Das alles darf sein und zur Sprache kommen. Aber doch in der ganz anderen Perspektive. Ich bin bei euch alle Tage. Das ist Grund genug, immer wieder neu los zu gehen und zu lehren und zu taufen.

Ein Trost für alle Erfahrungen des Scheiterns. Luther nennt es temptatio. So bitter sie oft sein mag, sie erst lässt das Evangelium in der Tiefe erfassen, sie lehrt dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhafftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort ist.

Dann braucht es sicher auch know how und Konzepte. Aber vor allem, dass wir uns immer neu ermutigen lassen: Mir ist gegeben alle Gewalt. Ich bin bei euch alle Tage. Das ist Grund genug, immer wieder neu zu gehen und zu lehren und - eben zu taufen.

In der vergangenen Woche waren wir mit der Ephorenkonvent auf einer Reise in Potsdam. Auf der Hinfahrt haben wir die Kirche in Zerbst besucht. Wir kommen in die Kirche, einen stattlichen Zentralbau. Die Bänke sind heraus geräumt, darin steht ein großes Klettergerüst, mit sechs Meter hoher Kletterwand und diversen Seilen und Balken zum Hochseilklettern. Und im großen steinernen Taufstein liegen lauter Klettergurte.

Der Pastor erzählt uns: Es gibt gut 10 % Kirchenmitgliedschaft, 70 % der Gemeindeglieder sind über 65 Jahre alt. Ernüchternder geht es kaum, das reicht für manche fuckup-night. Eine volkskirchliche Grundversorgung auf den Dörfern haben sie weitgehend eingestellt (das ist bei uns sicher nicht angesagt). Aber sie wagen neue Projekte. Traditionelle kirchliche Sprache verbietet sich dabei, die versteht niemand mehr. Und so machen sie die Taufe deutlich an den Tragegurten: „Getragen wagen“, nennen sie das. Beim Abseilen legt man sich in seinen Gurt, ganz nach hinten, muss sich fallen lassen, sich komplett einem anderen anvertrauen. So kann man sich getragen fühlen. Dafür steht auch die Taufe: Ich bin von Christus gehalten.

Wir mussten schlucken. Geht das so? Aber da machen sich Leute auf den Weg, trotz wenig ermutigender Umstände. Sie gehen, sie lehren, sie taufen. Im Vertrauen auf das Wort dessen, der bei uns ist. Und bei Luther lese ich über die Taufe: Sie ist uns „eine Furt, eine Brücke, ein Schiff und Tragbahre in die Ewigkeit“ (Cl 1,207,26). Lauter Metaphern. Kein Zweifel: Wenn er ihn gekannt hätte, Luther hätte auch vom Klettergurt gesprochen.

Ich habe das mit dem Klettern ausprobiert. Es ist eine gute Erfahrung, sich so gehalten zu wissen. Ein bisschen verrückt ist es auch. Aber vielleicht ist gerade das das Evangelium für uns Pastorinnen und Pastoren. Ja, öfter sind die Wege ja auch halbwegs eben. Aber manchmal geht es die Wand senkrecht hoch und runter. Und ich bin gehalten. Von ihm, der uns zusagt. Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Amen.