Predigt zum Abschluss der Bonhoeffer-Tage

Tarmstedt, 26. April 2015

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen. Siehe Neues ist geworden… (2. Kor 5, 17) Der Wochenspruch dieses Sonntags.

Liebe Gemeinde,
am 5. April 1943 kommt die Gestapo. Seit Längerem war Dietrich Bonhoeffer in den Widerstand gegen Hitler eingebunden. Jetzt nehmen sie ihn gefangen und bringen ihn ins Gefängnis Berlin-Tegel. Ein Schock für ihn, den Professorensohn, vertraut mit Literatur, klassischer Musik, anspruchsvollen Gesprächen. Und jetzt Dreck, Gestank, Erniedrigung, in der ersten Nacht kann er nicht schlafen, weil in der Nachbarzelle stundenlang jemand weint.

Seinen Eltern, die sich natürlich Sorgen machen, schreibt er Beruhigendes: „Liebe Eltern! Vor allem müsst Ihr wissen und auch wirklich glauben, dass es mir gut geht. Was man sich gewöhnlich unter Haft als besonders unangenehm vorstellt, das spielt merkwürdigerweise tatsächlich fast keine Rolle…“

Für sich selber aber schreibt er ganz anderes auf einen Zettel: „Trennung von den Menschen, von der Arbeit, von der Zukunft, von der Ehe, von Gott. Ungeduld. Sehnsucht. Langeweile. Krank – tief einsam. [Gedanken an] Selbstmord.“ Und dann setzt er später dazu: „Überwindung im Gebet“. Man ahnt das innere Ringen.

Dietrich Bonhoeffer, einer der einflussreichsten Theologen des letzten Jahrhunderts, muss auch ein ungewöhnlich eindrucksvoller Mensch gewesen sein. Deshalb gelang es ihm, etliche vom Gefängnispersonal für sich zu gewinnen. Und die haben Texte und Briefe unzensiert aus dem Gefängnis für ihn herausgeschmuggelt.

Dadurch haben wir erstaunlich breiten Einblick in das, was er erlebt und gedacht hat. Er hat im Gefängnis aufregende Gedanken entwickelt, atemberaubende Ansätze einer neuen Theologie. Zugleich hat er begonnen, Gedichte zu schreiben, auch „Von guten Mächten“, das wir gesungen haben.

In beeindruckend vielfältiger Weise haben sich, liebe Gemeinde, die Bonhoeffer-Tage in den letzten Wochen Dietrich Bonhoeffer genähert. Bonhoeffer als Verlobter, als Christ, als Widerstandskämpfer, als Dichter usw. Dazu ganz viele verschiedene Formate für Junge und Alte. Großen Respekt möchte ich dafür allen Beteiligten ausdrücken, und großen Dank und Anerkennung besonders Pastorin Kalmbach aussprechen!

Heute im Abschlussgottesdienst – der Bitte folge ich mit großer Freude – soll es um das Gedicht „Wer bin ich“ von Bonhoeffer gehen. Lasst uns den Text hören:


Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Bonhoeffer sitzt mittlerweile seit 14 Monaten im Gefängnis. Es ist Sommer 1944, kurz vor dem erfolglosen Attentat auf Hitler. Bonhoeffer hat sich leidlich eingerichtet in der Einzelzelle 92 und wartet auf seinen Prozess. Ich finde beeindruckend, wie er nach außen hin souveräne Haltung bewahrt und darin für viele zur Hilfe wird. Aber noch immer ist die Spannung wie in den ersten Tagen, als er die Eltern beruhigt und zugleich in großer inneren Not ist: Wer bin ich? Was andere denken? Wie ich mich selber erlebe? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Und dann der letzte Halt: Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

Während manches, was Bonhoeffer im Gefängnis schreibt, sehr anspruchsvoll und auch etwas geheimnisvoll ist, findet man sich in diesem Gedicht leicht wieder. Mir jedenfalls geht es so.

Aber wir sollten nicht vergessen, dass es ein Gedicht aus einer Extremsituation ist, aus dem Gefängnis in Todesgefahr. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ – das wird ja vorzugsweise auf Postkarten mit romantischem Sonnenuntergang geschrieben. Das kann schnell ein falsches Idyll sein, wenn man die dramatische Situation in der Haft vergisst. Bonhoeffer sollte nicht zum Heiligen idealisiert werden, und auch vor Bonhoeffer-Kitsch muss gewarnt werden. Bonhoeffers Denken ist herausfordernd, es ist nicht geeignet für ein kuscheliges Wohlfühlchristentum.

Und doch – es ist großartig, wie etliche seiner Texte eine zeitlose Wahrheit haben und Menschen das Geheimnis des Glaubens erschließen. Darum nun fünf Gedankenkreise um „Wer bin ich?“

1. Wer bin ich? Einige der Schüler-Texte haben wir gehört. Die Lehrer haben ein Bild. Die Eltern ein anderes. Die Freunde auch. Das klang hier alles relativ freundlich.

Und ich? „Manchmal möchte ich von zu Hause weglaufen“, hat einer gesagt. Respekt vor dem Mut, das hier so offen zu sagen! Mal ehrlich: Viele von uns kennen Gedanken über sich, die sie nicht öffentlich sagen würden. Und das muss auch niemand. Niemand darf und muss alle Deine dunklen Gedanken kennen. Niemand muss um alle Schattenseiten wissen. Wie tröstlich aber zu wissen: Bei Gott sind sie gut aufgehoben. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

2. Wer bin ich? Bei Nürnberg gibt es ein Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium. Ein Schüler dort schreibt: „1400 Schüler quetschen sich durch die stickigen Gänge unserer Schule, verschmelzen zu einer großen einheitlichen Masse. Wo bleiben die Querdenker, wo die Individualisten? Die Devise ist klar: Fall nicht auf, pass rein, mach keinen Fehler. Unsere Schule ist nach Dietrich Bonhoeffer benannt, der folgende Worte an uns alle gerichtet hat: ‘Der größte Fehler, den man machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.’ Seine Worte haben nicht an Aktualität und Bedeutsamkeit verloren.“

Soweit dieser Schüler. Er hat etwas Wichtiges erkannt: Du musst keine Angst haben, Du zu sein. Du musst auch kein anderer sein wollen. Du darfst Du sein in aller Unvollkommenheit.

Diese Woche war zu lesen, dass Heidi Klums Sendung „Germa-nys next Topmodell“ nachweislich Magersucht gefördert hat. Junge Mädchen und Frauen quälen sich mit der Frage: Wer bin ich? Und wollen die Antwort: Ich bin so schön und so schlank wie ein Topmodell. Was für ein Wahnsinn… Freilich: Ich habe leicht reden, Topmodell ist für mich nicht so das Problem. Aber ich orientiere mich doch auch an Idealen und Leitbildern. Und leide darunter, dass ich so ideal nicht bin. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

3. Wer bin ich? Noch einmal das Bibelwort für diesen Sonntag: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen. Siehe Neues ist geworden. Paulus sagt: Im Glauben an Christus bist Du ein neuer Mensch. Da hast Du eine neue Existenzgrundlage. Deshalb darfst Du sein, der Du bist.

Dazu ein Brief Bonhoeffers aus derselben Zeit wie unser Gedicht, Sommer 1944: Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden (- und ich halte für möglich, dass er es geworden ist-); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. .. Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden. - dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.

Im Glauben muss ich nichts mehr aus mir machen, sagt Bonhoeffer. Sich mitten im Alltag Gott in die Arme werfen – das ist Glauben. Wer immer Du bist, was immer in Deinem Leben gelingt oder auch schief läuft: Du bist bei Gott geborgen.

4. Wer bin ich? Es gibt einen Bestseller dazu: Wer bin ich, und wenn ja wie viele? Biographien sind heute verflixt kompliziert. Menschen machen Veränderungen durch, viel mehr als vor Jahrhunderten und Jahrzehnten. Wer ist man da? Und viele leben eigentlich mehrere Leben gleichzeitig. Im Job ist er der erfolgreiche Geschäftsmann. In seinem Fitnessclub, da ist er gesellig und locker. Zuhause will er der treusorgende Familienvater und Ehemann sein. Aber manchmal ist er auch nur noch abgespannt und unnahbar. Im Urlaub – da hat er das Gefühl, ganz er selbst zu sein. Aber das ist halt immer nur kurz. Das Leben zerfällt in einzelne Stücke. Viele von uns kriegen es ganz gut zusammengehalten, trotz allem, aber es kostet viel Energie. Mancher bricht aus. Bei manchem zerfällt das Leben in Bruchstücke.

Ein Lied von „Ich und Ich“ drückt dieses Gefühl aus:

Ich bin seit Wochen unterwegs
Und trinke zu viel Bier und Wein
Meine Wohnung ist verödet
Meinen Spiegel schlag ich kurz und klein
Ich bin nicht der, der ich sein will
Und will nicht sein, wer ich bin

Und du glaubst, ich bin stark
Und ich kenn den Weg.
Mein Leben ist das Chaos
Schau mal genauer hin.


Das ist modernes Lebensgefühl und zugleich ganz nah bei Bonhoeffer: Einsames Fragen treibt mit mir Spott: „Ich bin nicht der, der ich sein will. Und will nicht sein, wer ich bin.“

Und dagegen: Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott! Im Glauben finden die Fragen nicht einfach eine Antwort. Aber sie sind aufgehoben. Ich kann bei Gott geborgen sein mitten in aller Unruhe, in allen Fragen, in aller Bruchstückhaftigkeit meines Bildes. Dann wirft man sich Gott ganz in die Arme

5. Wer bin ich? Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Du bist bejaht. In aller Bruchstückhaftigkeit. In all deinem Fragen.

Das ist nicht einfach ein banales „Du bist ok, wie Du bist.“ Es geht vielmehr um eine neue Existenzgrundlage in Christus. Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Wird ein Christ gefragt: wo ist dein Heil, deine Seligkeit, deine Gerechtigkeit? so kann er niemals auf sich selbst zeigen, sondern er weist auf das Wort Gottes in Jesus Christus, das ihm Heil, Seligkeit, Gerechtigkeit zuspricht.“

Ganz stark ausgedrückt hat das Martin Luther in seiner „Bereitung zum Sterben“: Christus ist nichts als lauter Leben. Darum sieh Christus an, der um deinetwillen von Gott ist verlassen ge-wesen … am Kreuz: Siehe, in dem Bild ist überwunden deine Hölle und deine ungewisse Zukunft gewiß gemacht. Darum laß dir das nur nicht aus den Augen nehmen, und suche dich nur in Christus und nicht in dir, so wirst du dich ewig in ihm finden."
Suche dich nur in Christus und nicht in dir, so wirst du dich ewig in ihm
finden.

Das ist nicht Sonnenuntergangsstimmung, sondern ein wahnsinnig steiler Satz, mit dem man so schnell nicht fertig wird. Schwarzbrot des Glaubens. Aber darin liegt die tiefste innere Freiheit eines Christenmenschen begründet.

Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur.
Amen