Predigt zum Reformationstag 2022

Psalm 46: Eine feste Burg
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Stade, 31. Oktober 2022, St. Cosmae-Kirche

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

„Eine feste Burg ist unser Gott.“ Das Motto dieses Tages, das Lied dieses Tages, das Lied des Reformationstages. Die Kantorei wird das Lied im Anschluss singen. Gedichtet hat es Martin Luther nach dem 46. Psalm, und der ist uns heute als Predigttext vorgeben. Wir haben den 46. Psalm schon als Collage gehört. Ich lese uns einige Verse noch einmal:

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. … Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. Kommt her und schauet die Werke des HERRN, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet, der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt …  Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. (Ps 46,2-12 in Auszügen)

Starke Bilder sind das in diesem Psalm. Das Meer wütet und tobt. Die Berge sinken ins Meer. Krieg bestimmt die Welt. Ja, die Welt geht unter.

Starke Bilder, zu denen uns erschreckend viele Parallelen in der Gegenwart einfallen. Wütendes und tobendes Wasser – ich sehe die Bilder aus dem Ahrtal und weiß, dass wir noch viele solche Bilder sehen werden und höre die schlimmen Prognosen der Klimaforscher, die von Zerstörung der Erde reden, wenn wir nicht schnell gegensteuern. Und dann die Bilder von Krieg und Kriegsgerät und Feuer – das sehen wir zu unserem Entsetzen tagtäglich aus der Ukraine.

Starke Bilder. Starke, negative Bilder. Starke Gegenbilder aber auch. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Ein sicherer Wohnort bei Gott, wo fröhliches Leben möglich ist. Und die Hoffnung, dass am Ende Gott allem Krieg ein Ende macht: Er macht den Kriegen ein Ende in aller Welt, er zerbricht Bogen, zerschlägt Speere und verbrennt Streitwagen mit Feuer. Keine Gegenwartsbeschreibung, aber ein Hoffnungsbild. Wir brauchen solche Bilder, wir brauchen Gegenbilder gegen das, was belastet und die Seele herunterzieht, gegen – so der Psalm – gegen die großen Nöte, die uns getroffen haben.

Solche Bilder haben Martin Luther zu seinem Lied inspiriert: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Er hat es veröffentlicht als Lied zu Psalm 46, so steht es auch als Überschrift über dem Psalm in der Lutherbibel, aber überraschenderweise kommt die „feste Burg“ darin so ausdrücklich gar nicht vor. Luther hat die Vertrauensaussagen des Psalms in die Bilder gefasst, die ihm vor Augen standen. Und das war nicht zuletzt die Burg, die Wartburg, auf der er vor beinahe genau 500 Jahren in Sicherheit gebracht worden war, 1521/22, und wo er die Bibel übersetzte. Diese Burg wird ihm im Lesen des Psalms zu einem Bild des Schutzes durch Gott: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.

Das Lied hat dann seinen eigenen Weg genommen. Es hat ungezählte Menschen getröstet und gestärkt, es ist zu einem „Identitätsmarker“ geworden. Die lutherischen Christen in Ungarn etwa begrüßen sich bis heute auf ungarisch mit den Worten „Ein feste Burg ist unser Gott“. Aber das Lied ist auch ziemlich martialisch verstanden worden. Man hat es als „Kampflied“ der Reformation bezeichnet, als „Triumphmarsch“, ja als „Marseillaise“ der Reformation, oder gar als „Kriegslied des Glaubens“. Und natürlich war es dann auch ein antikatholisches Kampflied. Ich bin sehr dankbar, dass das überwunden ist und wir gemeinsam als christliche Kirchen die Reformation als Christusfest feiern und auch gemeinsam von unserem Gott singen, der eine feste Burg für uns ist.

Ich habe für diesen Reformationstag in Zeiten von Corona- und Russland- und Energiekrise einiges darüber gelesen, wie Martin Luther mit Krisen umging: Wie hat er sie für sich selbst bearbeitet, wie hat er als Seelsorger für Menschen in Krisen und Anfechtungen gewirkt?

Eine erste Antwort kann uns das Lied selbst geben. Eine feste Burg ist unser Gott. Das Lied ist veröffentlicht worden im Jahr 1529. Wir wissen nicht ganz genau, in welcher Lebenssituation. Aber Luther kann es gut etwas früher, 1527/28, gedichtet haben. Und das war für Luther eine Zeit tiefer Krisen. In Wittenberg grassierte die Pest, viele waren krank, auch seine schwangere Frau Käthe. Die kirchliche und politische Lage war höchst angespannt. Die Türken standen vor Wien, genau in dieser Zeit wird zum ersten Mal auch ein Anhänger der Reformation um seines evangelischen Glaubens willen getötet. Luther selbst war krank, nierenkrank, das alles ging ihm „an die Nieren“. Und er war tief niedergeschlagen, er litt an Depressionen. In Briefen aus diesen Tagen Ende 1527 kann man das bewegend nachlesen. An seinen Freund Agricola schreibt er: „Ich bitte, lasst nicht ab, mich zu trösten und für mich zu beten, ‚denn ich bin elend und arm‘. Der Satan wütet mit all seiner Macht gegen mich.“ Und an Nikolaus von Amstorf schreibt er: „Wie es dem Herrn gefällt, so geschieht es, mein lieber Amsdorf, dass ich, der ich bisher alle anderen zu trösten hatte, nun selbst allen Trostes bedürftig bin. In meinem Hause ist allmählich ein Hospital entstanden [und dann nennt er all die Kranken]. So sind äußerlich Kämpfe, innerlich Ängste, und sehr bittere. Christus sucht uns heim. Ein Trost bleibt, den wir dem wütenden Satan entgegensetzen, dass wir wenigstens das Wort Gottes haben, um die Seelen der Gläubigen zu retten, wenn er auch die Leiber verschlingt. Darum befiehl uns den Brüdern und dir selbst, dass ihr für uns betet“

Ich finde es berührend, diese sehr offenen Worte über innere Not und Anfechtung zu lesen. Fremd ist uns, dass das Böse für Luther ohne jede Frage Wirken des Teufels ist, auch im Lied „Ein feste Burg“. Da ist Luther noch ganz Mensch des Mittelalters.

Aber wenn man weiß, in was für einer notvollen persönlichen Situation Luther ist, dann bekommt das Lied, das er dem 46. Psalm ablauscht einen ganz anderen Klang:

Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.

Auch wenn das Lied martialisch klingen mag, in Wahrheit ist es ein Trostlied gegen die Anfechtung, ein Ermutigungslied in der Krise.

Wenn ich frage: Was ist Luthers Rat und Luthers eigenes Bedürfnis in Krisen, so ist die Antwort sehr einfach. Einmal: Es ist das Gebet, das Gebet füreinander, das Gebet auch für unsere Welt. Und dann: Es ist sehr klar und einfach ein großes Gottvertrauen. Gerade in Krisen. Innerer Halt und innere Widerstandskraft kommen aus dem Vertrauen auf Gott:

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit' für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.

Gottvertrauen hat bei Luther immer einen Namen. Es ist das Vertrauen auf den menschgewordenen Gott, auf Jesus Christus. Das ist ein sehr spannender Spitzensatz: Fragst du, wer der ist? [Der Mann, der helfen kann] Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth … Luther identifiziert den Gott des Alten Testamtes mit Jesus Christus. Der Allmächtige, der Herr der himmlischen Heerscharen, ist greifbar und nah in Christus, dem Gekreuzigten. Der hat selber auf Golgatha alle Qualen erlitten und sie an Ostern überwunden. Auf ihn hofft Luther in Krisen. Auf ihn schaut er. Christus ist für ihn immer wieder das Gegenbild gegen die negativen und schlechten Bilder. In einer Schrift über das Sterben hat er ausführlich davon gesprochen, dass wir im Sterben nicht auf den Tod schauen sollen, sondern nur auf Christus. In ihm sehen wir Gottes Leben und Gottes Liebe.

Wir sehen: Das Lied „Ein feste Burg“ ist im Ursprung kein Triumphlied. Von der Karriere als Kampf- und Trutzlied sollten wir uns nicht täuschen lassen. Diese Entwicklung kam erst viel später. Für Luther war es das Trostlied einer angefochtenen Seele. Vielleicht kann es uns darin nahekommen und uns ansprechen am Reformationstag 2022, bei einem Fest in schwierigen Zeiten. Vielleicht können wir es hören als ein Lied des Widerstandes gegen das, was uns zusetzt. Und das brauchen wir derzeit. Unser Bundespräsident hat in seiner Rede vor wenigen Tagen gesagt: „Wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft.“  

Ich höre noch etwas auf Luther als Ratgeber in Krisen. Praktisch wird das, wenn Luther in Briefen Menschen gut zuspricht, die sich in Sorgen verzehren. Sorgen: Ein großes Thema in Krisen, damals wie heute. Ein Beispiel: Als das Augsburger Bekenntnis entsteht, 1530, darf Luther nicht mit zum Reichstag nach Augsburg, er steht ja unter der Reichsacht. Dort ist Luthers Schüler und Freund Melanchthon, der sich große Sorgen macht und in tiefen Ängsten ist. Ihm schreibt Luther: „Deine elenden Sorgen, von denen du verzehrt wirst, hasse ich von Herzen. Dass sie in deinem Herzen regieren, ist nicht der großen Sache, sondern unseres großen Unglaubens Schuld. Ich bete wahrlich mit Fleiß für Dich, und es tut mir weh, dass du unverbesserlicher Sorgenblutegel meine Gebete so vergeblich machst. Mächtig ist Gott, die Toten zu erwecken, mächtig ist er auch, seine Sache, wenn sie gleich fällt, zu erhalten, wenn sie gefallen ist, wieder aufzurichten, und wenn sie steht, fortzuführen. ... Wenn wir durch Gottes Verheißungen nicht aufgerichtet werden – ich beschwöre dich: wer anders ist denn auf der Welt, den sie sonst angehen sollten?"

Ein anderes Beispiel. Im Februar 1546, ganz kurz vor seinem Tod. Luther ist krank, lebensbedrohlich herzkrank. Aber er ist noch immer in aktiv, auf Reisen in seiner Geburtsstadt Eisleben, um Frieden zu stiften. Seine Frau macht sich natürlich größte Sorgen. Da schreibt er ihr, ermutigend, aber auch voller Humor und Ironie

„Der heiligen, besorgten Frau, Frau Katherin Lutherin, Gnad und Friede in Christo! Allerheiligste Frau Doktorin! Wir danken euch ganz freundlich für Eure große Sorge, vor der Ihr nicht schlafen könnt. Denn seit der Zeit, seit der Ihr für uns gesorgt habt, hätte uns beinahe das Feuer verzehrt in unserer Herberge, direkt vor meiner Stubentür. Und gestern, ohne Zweifel aus Kraft Eurer Sorge, wäre uns beinahe ein Stein in unserem heimlichen Gemache [die Toilette] auf den Kopf gefallen und hätte uns zerquetscht wie in einer Mausefalle. Der hatte im Sinn, Eurer heiligen Sorge zu danken, wenn die lieben Engel nicht gehütet hätten. … Dir ist nicht befohlen, für mich oder Dich zu sorgen. Es het im Psalm 55: 'Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der sorget für dich'.“

Und in einem Brief an seine Frau wenige Tage später, der wieder das Vertrauen auf Jesus Christus in die Mitte stellt: „Du willst sorgen für Deinen Gott, gerade als wäre er nicht allmächtig, der da könnte zehn Doktor Martinus schaffen, wenn der einzige alte ersöffe in der Saale oder im Ofenloch. Laß mich zufrieden mit Deiner Sorge; ich habe einen besseren Sorger, denn Du und alle Engel sind, der liegt in der Krippen und hängt an einer Jungfrauen Zitzen, aber sitzet gleichwohl zur Rechten Hand Gottes des allmächtigen Vaters; Darum sei zufrieden, Amen.''

Immer und immer wieder verweist Luther in ungezählten Briefen Menschen in Krisen auf Christus, auf das Vertrauen in Gottes Liebe. Aber er macht das nicht nur steil und thetisch. Er buchstabiert das immer auch ganz lebenspraktisch durch und geht dabei durchaus empathisch auf die jeweilige Person ein. Und er kann in seiner Ermutigung in Krisen auch die Schönheit und Bedeutung der Schöpfung im Blick haben, das ist wunderbar menschlich und lebenspraktisch, etwa an Menschen, die mit Niedergeschlagenheit und Depression zu tun haben. So rät er einem jüngeren Fürsten, Joachim zu Anhalt, in seiner Schwermut möglichst fröhlich zu sein, zu reiten, zu jagen und sich um gute Gesellschaft zu bemühen: „Denn es ist doch ja die Einsamkeit oder Schwermut allen Menschen eitel Gift und Tod, besonders einem jungen Menschen. So hat auch Gott geboten, dass man solle fröhlich für ihn sein.“ Das alles ist für Luther unmittelbar Ausdruck der evangelischen Freiheit. Genuss der Schöpfung, des Essens, der Sexualität, das ist nicht mehr wie früher abgewertet.  Er schreibt: „Ist doch jetzt, Gott Lob, so viel Erkenntnis [des Evangeliums], dass wir mit gutem Gewissen können fröhlich sein und mit Danksagung seiner Gaben brauchen, dazu wie er sie geschaffen… hat.“

Einem anderen, Hieronymus Weller, schreibt er: „Sooft dich der Teufel mit diesen [schwermütigen] Gedanken plaget, suche sofort die Unterredung mit Menschen oder trinke etwas reichlicher oder treibe Scherze und Possen oder tue irgendetwas anders Heiteres. Man muss bisweilen mehr trinken, spielen, Kurzweil treiben, und hierbei sogar irgend eine Sünde riskieren, und dem Teufel Abscheu und Verachtung zeigen.“

Sehr lebenspraktische Ratschläge in der Krise. Such Dir Menschen. Und tu, was Dir guttut und was Dir Freude macht. Auch das ist nötig zur inneren Resilienz, für „Widerstandsgeist und Widerstandskraft.“ Sehr schön hat das die badische Landesbischöfin Heike Springhardt formuliert, die ermutigt, „hoffnungsstur und glaubensheiter“ zu sein in diesen Tagen.

Ein Letztes: Eins spielt in Luthers Ratschlägen eine besondere Rolle: Die Musik. Nichts hilft gegen Sorgen und Traurigkeit mehr als Singen und Musik. Ein Brief an den Hoforganisten Matthias Weller, von dem er weiß, dass er mit großer Traurigkeit und Depression zu tun hat: „Darum, wenn ihr traurig seid, und die Trauer will überhand nehmen, so sprecht: Auf! Ich muss meinem Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal (also auf der Orgel), denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Greift frisch in die Tasten und singet drein, bis die Gedanken vergehen ... Kommt der Teufel wieder und gibt euch Eure Sorgen ein, so wehret euch frisch und sprecht: Aus Teufel, ich muss jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen. Darum nichts besser, denn flugs ... dem Teufel auf die Schnauzen geschlagen ... also greift auch ihr in die Orgel, oder nehmet gute Gesellen und singet dafür, bis ihr lernet ihn spotten.“ Dem Teufel auf die Schnauzen zu schlagen, wenn er Sorgen und Angst eintreiben will. Den Kräften des Negativen und der Depression in getrosten Gottvertrauen entgegenzutreten, dazu trägt die Musik besonders bei. Sorgt für Euch für die richtige Musik in Krisenzeiten!

Darum nun genug der Worte, wir hören Gesang: „Ein feste Burg ist unser Gott.“

Amen.