25 Jahre TelefonSeelsorge Elbe-Weser

Dialogpredigt mit Superintendentin Heike Burkert (Wesermünde) über Prediger 3,1-15, Langen, 13. Juni 2015

HB: Superintendentin Heike Burkert, Bad Bederkesa,
HCB: Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy, Stade


HB
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Heute hat Feiern seine Zeit. Und unser Vorhaben ist es, dankbar und fröhlich zurückzuschauen auf 25 Jahre TelefonSeelsorge Elbe-Weser. Schön, dass wir in dieser großen Runde zusammen sind.

Alles hat seine Zeit. Für Seelsorge braucht es Zeit und Menschen, die sich diese Zeit nehmen. Zeit zum Reden und zum Schweigen. Telefonseelsorge lebt vom Dialog, vom Zuhören und vom Sprechen. Beides je zur rechten Zeit zu tun, das ist das Besondere in der Seelsorge.

Zuerst sind große Ohren gefragt, damit der Mensch, der anruft, sich aussprechen kann. Man könnte auch sagen, den Worten muss erst einmal ein Raum angeboten werden, damit sie zur Welt zu kommen können. Geboren werden hat seine Zeit.

HCB
Geboren werden hat seine Zeit…; pflanzen hat seine Zeit. Vor 25 Jahren war es an der Zeit für die Telefonseelsorge, um geboren zu werden. Es gab Menschen, die die TelefonSeelsorge Elbe-Weser gepflanzt haben. Mit viel Energie, und gegen manche Widerstände. Ihrer gedenken wir heute in Dankbarkeit, ihrer Weitsicht und auch ihrer gewissen heiligen Bockigkeit. Zugleich danken wir allen, die sich engagiert haben in diesen 25 Jahren. Allen Hauptamtlichen, in der Verwaltung, in der Ausbildung und Supervision. Ganz besonders nenne ich hier Frau Huntemann-Clasen. Sie, liebe Frau Huntemann-Clasen, haben unsere Telefonseelsorge in diesen Jahren entscheidend geprägt und zu dem gemacht, was sie heute ist. Haben Sie Dank dafür!

Ein besonderer Dank gilt den Ehrenamtlichen. All denen, die sich haben ausbilden lassen, die regelmäßig die Dienste am Telefon und auch im Chat versehen, oft mit langen Fahrten, oft bei Nacht und am Wochenende, die regelmäßig Supervision und Fortbildung in Anspruch nehmen. Haben Sie Dank für Ihre Zeit, für Ihre Lebensenergie und Herzensenergie, die Sie in diese Tätigkeit einbringen.

Dank gilt auch allen Sponsoren und Spendern. Und besonders ist dem Förderverein TelefonSeelsorge Elbe-Weser e.V. großer Dank zu sagen.
Sie alle haben dazu beigetragen, dass die TelefonSeelsorge Elbe-Weser auch überregional einen richtig guten Ruf hat. Wir freuen uns darüber sehr und sind dankbar dafür, dass die Landeskirche dem jetzt auch dadurch Rechnung trägt, indem sie ihre Zuschüsse der tatsächlichen Leistung angepasst und also deutlich erhöht hat. Dafür möchte ich stellvertretend Ihnen, liebe Frau Kruse-Joost, herzlich danken.

HB
Alles hat seine Zeit. Seit 25 Jahren kommen alle Themen des Lebens bei der TS vor. Geboren werden und Sterben, Einreißen und Aufbauen, Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen. 28-mal dieser Rhythmus. Sieben Verse mit je vier Aussagen. Sieben - das ist die Zahl der Fülle, die Zahl, die alles umfasst – sieben mal vier Aussagen – so beschreibt der Prediger das menschliche Leben in der ganzen Vielfalt. Alle Höhen und alle Tiefen.

All dies begegnet Ihnen, als Mitarbeitenden am Telefon oder im Chat, immer wieder: Und was geschieht, sagt der Prediger, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen. Mit vielen Problemstellungen werden die Mitarbeitenden immer wieder auf's Neue konfrontiert – und es ist doch jedes Mal neu, weil jeder Mensch es auf eigene Weise erlebt.

Sie haben es in den Szenen anklingen lassen: Sie erleben Menschen in den normalen Wechselfällen des Lebens und in den Extremen, die oft besonders im Chat Raum und Zeit finden – dort wo ein Mensch nicht einmal seine Stimme preisgeben muss. Da werden Sie als Mitarbeitende mit Gewalterfahrungen konfrontiert, mit Verletzungen, mit Schuld. Sie hören am Telefon, Sie lesen im Chat, wie Menschen verfolgt werden von dem, was sie erlebt haben oder erleben. Sie begleiten Menschen in ihre inneren Gefängnisse.

Am Ende seiner Aufzählung sagt der Prediger: Gott sucht nach denen, die gejagt werden, die gehetzt werden – so wohl die richtigere Übersetzung anstelle von: Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.

In der TS geschieht genau dies: Menschen erleben, dass nach ihnen gesucht wird, in dem, was sie verfolgt und hetzt. Sie werden nicht allein gelassen.

Alles hat seine Zeit – auch das Telefonat oder der Chat. Sie legen den Hörer wieder auf, Sie beenden den Chat, sind Begleiter und Begleiterinnen auf Zeit.

Das allerdings zu jeder Zeit sieben mal 24 Stunden – Tag und Nacht. Alles hat seine Zeit – die Telefonseelsorge aber hat immer Zeit. Ganz besonders auch nachts. Großen Respekt dafür.

HCB

Alles hat seine Zeit. Gewiss. Das ist realistisch. Aber was der Prediger hier schreibt, sehr spät in der Zeit des Alten Testaments, vielleicht 200 Jahre vor Christus, ist es nicht auch arg nüchtern, beinahe schon hoffnungslos? Ist der Mensch hier nicht eingemauert in die Polaritäten des Lebens, ein Gefangener der Zeit? So meisterlich die Aufzählung sprachlich ist, intoniert sie nicht doch eine „Musik des Unabänderlichen“?

Leben und Sterben, Lachen und Weinen. Eins geht eben nur zurzeit. Ist der Mensch da nicht ein Spielball der Wechselfälle des Lebens? „Die Zeit ist Souverän, der Mensch ihr Sklave“, so ein Kommentar. Der Prediger bewege sich in einem „hoffungslosen Kreis.“ Puuh!

Und als einziger Ausweg dann fröhlich sein, essen und trinken: Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Also Kinder, regt euch nicht zu sehr auf über all die Wider-fahrnisse im Leben. Bleibt locker, esst und trinkt. Heute würde man wohl sagen: „Chillt mal“. Und das steht so in der Bibel, allen Ernstes?

Ich stelle mir vor – gewiss extrem zuspitzend –, das machen die Mitarbeiterinnen der Telefonseelsorge: „Sie haben Krebs? Machen Sie sich nichts draus. Essen Sie, trinken Sie, lassen Sie es sich gut gehen“.

Das geht doch gar nicht! Was sagt der Prediger denn da? Spaßgesellschaft als Ausweg aus der Sackgasse des Pessimismus? Das kann doch keine wirkliche biblische Botschaft sein, oder? Was machen wir damit, Frau Superintendentin?

HB
Na ja, für mich hat dieser Satz noch einen anderen Beiklang: in allem Auf und Ab, in Not und Bedrängung, brauchen wir auch ein Stück Normalität. Nicht um das andere zu verdrängen, sondern weil die Normalität, das Essen und Trinken, Halt gibt.

Der Prediger ringt ja offenbar um die Fragen: Was ist gut an dieser Fülle des Lebens? Ist es nur der hoffnungslose Kreis, den Du zitiert hast, oder gibt es mehr? Gibt es einen Sinn in all dem?

Diese Fragen begegnen direkt oder indirekt ausgesprochen auch den Mitarbeitenden der Telefonseelsorge immer wieder. Anrufende fragen: Warum muss ich das erleiden? Warum geschieht das gerade mir? Mein Mann war doch ein so guter Mensch, warum musste er das durchmachen? Warum gerade mein Kind?

All die Fragen dürfen sein. Es gibt keine einfache Antwort darauf – weder für den alttestamtlichen Prediger, noch für uns. Auch am Telefon gibt es keine einfache Antwort, sondern Menschen, die offene Fragen aushalten und behutsam auf der Suche nach dem Sinn mitgehen.

Alles hat seine Zeit, das klingt in diesem Zusammenhang für mich tröstlich. Alles darf sein: Lachen und Weinen darf sein. Geboren werden und ja, auch Sterben darf sein. Es gehört zur Ordnung des Lebens.
Und wie gut: Es darf auch alles zur Sprache gebracht werden in der Telefonseelsorge. Auch die Zweifel, die Fragen. Der Prediger weiß, dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut.

Da klingt an: es gibt einen großen Bogen, einen Zusammenhang, ein Aufgehoben sein in dem, was Gott wirkt.

HCB
Ja, wir müssen wohl genau hinhören. Der Prediger ist bei aller Nüchternheit nicht einfach ein Skeptiker und vertröstet uns nicht nur aufs Partymachen. Nachdem er 28-mal von der Zeit gesprochen hat, redet er von der Ewigkeit. Und er spricht von Gott, immerhin sechsmal. Ja, wir leben in der Zeit, mit allen manchmal unerbittlichen Abläufen. Und doch ist da ein anderer Horizont, der Horizont der Ewigkeit.

Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt. Für Seelsorgerinnen und Seelsorger ist es gut zu wissen, dass Gott mit im Bunde ist. Es kann entlasten, diesen Dritten mit hinein zu nehmen in die Gespräche – meist nicht laut, nicht predigend, aber im Herzen, in dem Bewusstsein, der Anrufende und ich, wir sind nicht allein. Wir stehen unter diesem großen Bogen, den Gott spannt, sind beide Teil seiner Geschichte, Teil der Ewigkeit.

Darin sind alle aufgehoben, die schönen und die leidvollen Erfahrungen. Auch wenn ich es manchmal nicht spüren kann: In jedes Herz hat Gott Ewigkeit gelegt, in das Herz jedes Anrufenden, jedes Mitarbeitenden, auch in jedes noch so bedrückte Herz. Was für eine befreiende Perspektive, in der unser Tun da steht!

HB
Wir wissen, die Zeit vergeht. Aber wir vertrauen darauf: Sie ist aufgehoben in Gottes Hand. Der Herr über die Zeit hält auch meine und deine Zeit in seinen Händen. Ich aber, Herr, hoffe auf dich: Du bist mein Gott. Meine Zeit steht in deinen Händen. So beschreibt es Psalm 31.
Er, der alles schön gemacht hat zu seiner Zeit, hat uns eine Ahnung davon gegeben, wie das Leben unter diesem großen Bogen sein kann. Wir spüren es in unserer Sehnsucht, wir erleben es in der Nähe zu einem Menschen (auch einem Fremden am Telefon), wir tragen es in uns in unseren Hoffnungen. Darum können wir begleiten, mit aushalten, uns mit freuen und wieder abgeben. Ein jegliches hat seine Zeit.

Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt und hat sich selbst in Raum und Zeit erfahrbar gemacht. Er wollte den Menschen nahe sein und zeigen, was es bedeutet, dass er nach denen sucht, die verfolgt und gehetzt werden.

Die Verfasser der biblischen Texte finden viele Formulierungen dafür. Eine lautet: Als die Zeit erfüllt war, sandte er seinen Sohn. Gott begibt sich in Raum und Zeit. Gott geht in die Begegnung mit uns Menschen, als Zuhörender und Heilender, als Leidender und Sterbender. Alles hat seine Zeit. Alles teilt Gott mit uns.

HCB
Und was ist mit dem nüchternen Pragmatismus des Predigers? Er ist eben nicht das einzige, was die Bibel zu sagen hat, und auch nicht das Zentrum.

Aber ich höre ihn als heilsam. Ein Ja zur Nüchternheit und zum gesunden Menschenverstand. Gerade auch für unsere Seelsorge. Wir müssen nicht immer die letzten Antworten haben. Wir müssen nicht immer die großen Sinnhorizonte aufmachen. In den kleinen Schritten zum Leben und im Leben, darin liegt Glück. Sie sind Gabe Gottes.

Odo Marquard, der kürzlich verstorbene Philosoph, hat zu einer „Diät bei der Sinnsuche“ geraten. Wir sollten, so der nüchterne Skeptiker, nicht immer die ganz großen Antworten suchen, sondern auf die kleinen Sinnerfahrungen, auf das Glück im Alltäglichen achten. Sinn und Glück im Leben, sagt er, „hängt mehr an den nächsten Dingen als an den letzten“. Manches Mal vielleicht eine gute Maxime für die Telefonseelsorge.

Natürlich lassen wir es uns als Christen nicht nehmen, von den letzten Dingen zu reden. Sie stellen einen unverzichtbaren Horizont dar für unser Leben und Sterben. Aber gerade wer um diesen letzten Horizont weiß, kann sich auch fröhlich und nüchtern dem Vorletzten zuwenden. Auch dem Essen und Trinken und fröhlich sein – wie wir es nach dem Gottesdienst noch erleben werden, wie schön!

Und in diesem Horizont ist das dann gar keine skeptische Lebenshaltung mehr: „Ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut, das ist eine Gabe Gottes.“ Sondern eine fröhliche und gelassene Zuwendung zum Alltag. Zu dem Alltag, in den uns Gott gestellt hat, in dem er an unserer Seite ist. Genau: Er ist „eine Gabe Gottes“. Nicht der Himmel auf Erden, aber das, was uns hier und heute aufgetragen ist. Nutze den Tag, carpe diem. Nutze ihn zum Wohl des Nächsten. Und auch zur Freude am Leben.

Es ist ein Segen, wenn die Telefonseelsorge dazu Menschen ermutigt. Wenn sie hilft, dem Alltag Stand zu halten, wenn sie hilft, über Unglück zu sprechen und kleine oder große Lichtblicke von Glück zu erfahren. Genau das ist eine Gabe Gottes. Und wenn es heute die Zeit ist zum Feiern und Danken – das auch.

Gott segne die Telefonseelsorge und alle mit ihr verbundenen Menschen auch weiterhin.

Amen.