Predigt am Pfingssonntag 2021 in der Stader St. Wilhadi-Kirche

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Predigt über 1. Mose 11,1-9

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext für diesen Pfingstsonntag steht im 1. Buch Mose:

1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2 Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Babylon und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. 5 Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde. (Gen 11)

„Martin, Du bist noch stumm geschaltet.“ „Bitte das Mikrofon einschalten.“ „Du bist jetzt eingefroren.“ „Hier ist das Internet gerade ganz schlecht.“ „Wenn es nicht geht, dann schreib in den Chat.“ „Du, man versteht dich nicht.“

Menschen, liebe Gemeinde, verstehen sich nicht. Vor zwei Jahren hätte ich noch nicht gewusst, was das sein soll. Heute ist es für viele Alltag: Videokonferenzen. Begegnung und Gespräch über das Internet. Man sieht und hört sich auf dem Monitor – wenn es denn klappt. Das geschieht oft, aber eben nicht immer.

Für das Pfingstfest vorgegeben ist uns die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. Eine Ur-Geschichte der Menschheit. Sie bietet eine erzählerische Deutung dafür, dass Menschen sich nicht verstehen. Darin ist sie eine Gegengeschichte zur Pfingstgeschichte. In der Pfingstgeschichte verstehen sich alle Menschen aus allen Ländern. Darauf komme ich später.

Zunächst aber der Turmbau zu Babel. Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Das ist hier der Anfang. Alle Menschen haben nur eine einzige Sprache – mit ein und denselben Wörtern. Alle verstehen sich. Ein paradiesischer Zustand. So scheint es jedenfalls. Aber wir sind auch hier schon „jenseits von Eden“, die Menschen machen längst ihr eigenes Ding, gar nicht paradiesisch. Und so nutzen sie nach dieser uralten Erzählung ihr gutes Verstehen, um größenwahnsinnig zu werden. Erst sind sie noch Nomaden, sie ziehen umher. Dann aber werden sie heimisch – im Zweistromland, im heutigen Irak wohl. Sie brennen Ziegel – eine der grundlegenden Erfindungen der Menschheit auf dem Weg in die Sesshaftigkeit. Sie bauen eine Stadt. Dagegen ist erstmal noch nichts zu sagen, das wird auch nicht kritisiert. Aber dann kommt der Größenwahn. Die Stadt soll einen Turm haben, der bis an den Himmel reicht. Die Menschen kennen ihre Grenzen nicht. Es wird maßlos. Und das lässt sich ja ganz leicht bis in die Gegenwart feststellen. Unser Umgang mit unserer Erde, mit der Schöpfung, mit dem Klima. Aber auch der Umgang mit unseren eigenen Kräften, mit der Gesundheit des Leibes und der Seele – wie viel Maßlosigkeit.

Maßlosigkeit geht nicht gut – das erzählt die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Und sie erzählt es wunderbar. Da bauen die Menschen einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reichen soll. Darauf reagiert die Bibel mit Ironie. Ganz stolz sind die Menschen auf ihr Turmprojekt. „Das ist der Fortschritt“. „Wie herrlich weit haben wir es gebracht“, heißt es dann bei Goethe. Gott aber schaut sich das von oben an. Aber er kann es gar nicht richtig sehen. Viel zu klein, was die Menschen da machen. „Was ist das denn?“, fragt sich Gott. „Da muss ich mal runterfahren.“ Eine sehr alte Geschichte, die sehr menschlich von Gott erzählt. Voll Ironie nimmt sie die tollen Erfolge der Menschen aufs Korn. Gott muss sich das erst mal näher anschauen. Und dann die Konsequenz: Solange die Menschen eine Sprache sprechen, werden sie immer maßloser werden. Also macht Gott dem ein Ende. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, sagt Gott. Dann wird keiner mehr den anderen verstehen. So erklärt diese alte Erzählung, dass die Menschen in unterschiedlichen Sprachen sprechen und sich nicht mehr verstehen.

Unendlich viel kann diese Geschichte erzählen. Der Bau des Turmes bis an den Himmel – das lässt sich eben leicht beziehen auf gegenwärtige ökologische Krisen. Die Turmbaugeschichte ist immer wieder genutzt worden als Grundmuster der Zivilisationskritik. Das müsste man sehr behutsam bedenken.

Heute aber steht diese Ur-Geschichte als Deutung dafür, dass Menschen sich nicht verstehen, und nur dieser Spur möchte ich folgen. Dann wird keiner mehr den anderen verstehen. Das kennen wir. Zwischen Völkern und Sprachen. Als ich vor zwei Jahren lange u.a. durch viele Länder Rad gefahren bin: Was habe ich es bedauert, dass ich nicht mehr Sprachen kann, wie viel an Begegnung und Verstehen wäre da möglich gewesen.

Keiner wird den anderen mehr verstehen. Wo erleben wir das nicht noch?! Die Familie, die nicht zusammenkommen kann, nachdem die Mutter gestorben ist. Seit langem sind sie zerstritten. Sie reden schon lange nicht mehr miteinander. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

„Martin, Du bist eingefroren!“ Das gibt es derzeit nicht nur in Videokonferenzen. Das erleben gerade in dieser Coronazeit Menschen auch ganz anders. Sie fühlen sich wie eingefroren, weil es keine Begegnung mehr gibt, keinen lebendigen Austausch, der Energie schenkt. „Die Coronazeit hat mir meine Ressourcen abgeschnitten“, sagt mir jetzt jemand, „das, was meiner Seele Kraft gibt“. Und dann knickt bei mancher die Seele ein, ist belastet oder wird wirklich krank. Wie eingefroren. Das ist im Moment nicht selten. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

Auch in der Kirche erlebe ich das. Konflikte, Streit gar. Nicht-Verstehen. Da haben Leute einen Plan gemacht, ein ehrgeiziges Projekt, einen schön gemauerten Turm sozusagen, ziemlich hoch. Dann haben andere Fragen daran. Wollen das noch mal diskutieren. Und es gibt Kränkungen. Missverständnisse, Streit. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

Viel ernster noch: Da reden wir von unserem Glauben – und Menschen verstehen es nicht, und zwar weil sie die Sprache gar nicht mehr verstehen. „Gott“. „Glaube“. Viele Worte sind ganz fremd. Fragen Sie mal, was die Menschen mit „Pfingsten“ oder mit „Heiliger Geist“ anfangen können. So gut wie nichts. Eine Religionslehrerin, die mit jungen Auszubildenden in der Berufsschule arbeitet, hat mir gerade noch einmal erzählt, wie unverständlich unsere christliche Sprache für viele ist. Wie sie da übersetzen muss, nach allgemein verständlichen Worten suchen muss. Das ist schwer. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

Aber nun feiern wir heute Pfingsten. Und Pfingsten – das ist das Fest des Verstehens. So erzählt es die Pfingstgeschichte, die wir gehört haben. Das jüdische Laubhüttenfest 50 Tage nach dem Passah, unserem Ostern. Die entstehende christliche Gemeinde ist versammelt, sie werden erfüllt vom Heiligen Geist, von der Geistkraft Gottes. Sie fangen an zu predigen – und das Wunder geschieht: Menschen aus allen Ländern verstehen sie. Lang ist die Liste: Parther und Meder und Elamiter, Leute aus Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten… in Libyen und Römer, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unseren Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.

Das Ende der Sprachverwirrung. Keiner wird den anderen mehr verstehen - das ist überwunden. Alle verstehen, wie von den großen Taten Gottes gesprochen wird. Und weil das immer wieder geschieht, deshalb gibt es die Kirche Jesu Christi auf der ganzen Welt. Menschen aus allen Ländern und Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, verstehen sich und sind gemeinsam Kirche.

Das geschieht nicht immer. Deshalb gibt es das bis heute zuhauf: Keiner wird den anderen mehr verstehen. Aber wo der Geist Gottes wirkt, da entsteht Verstehen, da entsteht Gemeinschaft über Grenzen hinweg.

Wo der Geist Gottes wirkt, da werden Menschen gepackt vom Wort Gottes. Und nur, wo Gottes Geist wirkt und Verstehen im Kopf und mehr noch im Herz schenkt. Wo der Geist Gottes wirkt, da werden Menschen getröstet, weil ihnen Gottes Liebe und Gottes Nähe zugesagt wird, für die Jesus Christus steht.

Ich sprach davon, dass die Worte des Glaubens heute für viele eine Fremdsprache sind. Ja, das ist so, und das ist eine tüchtige Herausforderung für alle, die von Gott reden wollen und sollen. Wir sollen uns Mühe geben so gut es geht, ja. Aber ich glaube, ich selbst könnte gar nicht predigen, wenn ich meinen müsste, alles hinge von meinen Worten und meinem Sprachgeschick ab. Wer vom Glauben redet, darf darauf vertrauen, dass Gottes Geist selbst Verstehen schenkt und Menschenherzen berührt.

Ich habe in diesem Halbjahr viele Ordinationen, darf also viele junge Pastorinnen und Pastoren für ihren Dienst beauftragen und segnen. Mit großer Freude entdecke ich, wie unterschiedliche Begabungen sie haben, was für unterschiedliche Typen sie sind. Alle reden auf ganz verschiedene Weise von unserem Glauben an Jesus Christus. Einer hat eine sehr kluge Doktorarbeit geschrieben und den Glauben sehr scharfsinnig durchdacht. Eine andere hat ihren Ordinationsspruch als Tattoo auf ihrem Arm und ist völlig begeistert, in der Berufsschule mit Schülerinnen und Schülern vom Glauben zu reden, die die klassische Sprache eben nicht verstehen. Vielsprachig wird von Gott gesprochen – das ist nötig in unseren Zeiten. Überall, wo das gelingt - das sind für mich kleine Pfingstwunder.

„Man kann dich gerade nicht hören.“ „Du, man versteht dich nicht.“ Begonnen habe ich mit der hakenden Videokonferenz. Aber auch in Videokonferenzen und im Internet gibt es sehr viel Verstehen. Im Digitalen haben wir eine ganze neue Technik, wenn man so will, eine ganze neue Sprache gelernt in den letzten zwei Jahren. Durchs Internet werden Menschen erreicht für die Verkündigung des Evangeliums, die wir früher nicht erreichten. Auch das ist für mich eine Pfingstgeschichte. Neulich hatten wir eine Tagung, die nun nicht leibhaftig, sondern digital stattfinden musste. Zum Abschluss gab es einen Gottesdienst mit gemeinsamem Abendmahl. Anders, als es sonst gewesen wäre, waren Menschen aus etlichen Ländern dabei, aus Südafrika, Tansania, der Schweiz. Eine neue Form des Verstehens. Das war über das Internet eine sehr intensive, eine dichte und berührende Gemeinschaft. So wirkt Gottes Geist. Und so möge er weiter wirken unter uns. Damit viele Menschen sagen können: Wir hören in unseren Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. Amen.