Betrachtung zum Weihnachtsfest

"Der Schwebende"
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Da schwebt er. Scheinbar schwerelos. Voller Energie. Konzentriert. Ernst. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schwebende#/media/Datei:Schwebender_Engel.jpg

Einen sehr besonderen Engel hat 1927 der Künstler Ernst Barlach geschaffen. Die Bronzeskulptur ist bekannt als „Der Schwebende“ oder auch als „Güstrower Ehrenmal“. Barlach schuf diesen Engel als ein Denkmal im Dom zu Güstrow für die gefallenen Soldaten des 1. Weltkriegs.

Er hat eine ganz eigene Aura, der Schwebende. Und ist dabei so ganz anders, als wir uns gemeinhin Engel vorstellen. Keine Flügel, kein Goldhaar, keine Harfe oder Posaune. Was aber vor allem ungewöhnlich ist: Augen und Mund sind geschlossen.

Von Engeln erzählen und singen wir in der Weihnachtszeit, sie stehen in unseren Weihnachtszimmern. Klein oder groß, aus Holz geschnitzt, aus Ton geformt, in Bronze gegossen. Die Botschaft der Engel an Weihnachten lautet „Fürchtet Euch nicht.“

Deshalb schätzen wir die Engel wohl so sehr. Deshalb sind sie gerade in diesem Jahr so wichtig, in diesem Jahr, in dem das Wort „Krisenmodus“ das Wort des Jahres ist. Zu Weihnachten schauen wir ja auch auf diese Krisen, unsere persönlichen wie die im Weltgeschehen, von dem wir selbst stets ein kleiner Teil sind. An diesem Heiligen Abend höre ich diese Worte der Engel besonders aufmerksam. Weil wir tröstende und stärkende Worte brauchen. Vielleicht auch, weil wir fragen, welchen Worten wir überhaupt noch trauen können. Da hinein spricht Gottes Engel: „Fürchtet euch nicht.“

Blicken wir dem schwebenden Engel von Ernst Barlach heute ins Gesicht, dann erkennen wir darin nicht nur die Trauer über die Getöteten vergangener Kriege. Für mich ist in diesem Gesicht auch die Trauer all der Menschen zu sehen, die in diesem Jahr unter Gewalt, Hass, Terror und Krieg zu leiden hatten und auch an Weihnachten weiterhin leiden.

Barlachs Engel strahlt für mich tiefen Frieden aus. Heute hängt er nach einer langen Geschichte wieder im Güstrower Dom. Die Nazis aber hatten ihn als entartete Kunst entfernen lassen. Er war ihnen zu friedlich, nicht kämpferisch, nicht heroisch genug.

Und doch ist er im Flug, strebt nach vor. Wohin ist er unterwegs? Sieht er mit geschlossenen Augen eine bessere Zukunft? Welche Kraft treibt ihn an? Die Hoffnung, dass wir Menschen auch zu Frieden, Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung fähig sind?

Oder sind seine geschlossenen Augen und der geschlossene Mund ein Zeichen dafür, dass Gott sich verbirgt, dass wir ihn oft nicht finden können in unserer Welt voller Schmerz, Leid und Tränen?

Ernst Barlach selbst hat das so formuliert: „Gott verbirgt sich hinter allem, und in allem sind schmale Spalten, durch die er scheint – scheint und blitzt. Ganz dünne, feine Spalten, so dünn, dass man sie nie wiederfindet, wenn man nur einmal den Kopf wendet." Seine Gotteserfahrung.

Leonard Cohen hat es ähnlich gesagt: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.” Dieses Licht scheint zu Weihnachten auf in unserer Welt. An einer ganz unscheinbaren Stelle – in einem Stall in Bethlehem.

So erzählt Barlachs schwebender Engel für mich schweigend davon, dass auch Leid, Unsicherheit und Angst bei dem aufgehoben sind, der alles Schwere in seiner Hand hält. Und dessen Licht durch die Risse hindurchscheint. Er erzählt davon, dass Gott diese Welt in seinen Händen hält. Auch an diesem Weihnachtsfest dürfen wir der Botschaft der Engel trauen: „Fürchtet euch nicht.“ Gott selbst ist in die Welt gekommen, damit es nicht dunkel um uns bleibt. Hoffnung und Trost für die Welt bringt dieses Kind, geboren in einem zugigen Stall.

Der Engel von Ernst Barlach bestärkt mich darin, Sorge und Angst nicht klein zu reden, aber trotz allem Gottes weihnachtlicher Botschaft zu vertrauen. Und so auf das zu schauen, was wir Menschen dazu beitragen können, dass weniger Furcht in der Welt ist, dass Frieden wird und Nächstenliebe sich ausbreitet.

Wenn sich der schwäbische Pastor Christoph Blumhardt von einem Menschen an der Tür seines Pfarrhauses verabschiedete, sagte er zu seinem Besucher an der Türschwelle: „Du, ich geb‘ dir einen Engel mit.“

Ich wünsche Ihnen Gottes tröstende, schützende, segnende Engel. Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest!

Ihr

Hans Christian Brandy
Regionalbischof für den Sprengel Stade