Predigt St. Wilhadi Stade im Rahmen der Predigtreihe zu „Reformation – Bild und Bibel“ 25.10.2015

Predigt über 1. Korinther 13,12

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

In der Wüste lebt in einem Dorf eine Gruppe von Blinden. Eines Tages reitet ein großer König auf einem Elefanten vorbei. Die Blinden möchten das Tier kennen lernen und nähern sich neugierig. Einer von ihnen packt den Elefanten am Rüssel, ein anderer am Fuß. Einer fasst das Ohr, und wieder ein anderer lässt sich auf dem breiten Rücken des Elefanten nieder.

Als sie sich später austauschen, liegen ihre Schilderungen natürlich weit auseinander. Der eine glaubt, der Elefant sei ein Wasserschlauch – wie der Rüssel, ein anderer hält ihnen für ein Fächer – er hatte das Ohr betastet. Der das Bein befühlte, hält den Elefanten für eine behaarte Säule, und der auf dem Rücken saß, sieht in ihm einen Thron.

Diese sehr alte Geschichte ist eine Parabel über die Begrenztheit von Bildern. Kein Bild, das wir uns machen, gibt die ganze Wirklichkeit wieder. Bei jedem Bild, das ich mir mache, muss ich mich fragen, was ich da gerade vor Augen habe: das Ohr, das Bein. Sehr zweifelhaft, dass es der ganze Elefant ist. Eine heilsam ernüchternde Einsicht. Du kannst nicht denken ohne Bilder – aber halte Bilder nie einfach für die  Wirklichkeit. Eine heilsam klärende Einsicht gerade in einem Jahr, in dem wir die Bilder bedenken. „Reformation – Bild und Bibel“.

Der Mensch kann nicht leben ohne Bilder. Wir Menschen brauchen Bilder, um unsere Gefühle, unsere Empfindungen auszudrücken. Wir machen uns Vorstellungen, denn wir sind sinnliche Wesen. Unser Herz denkt und träumt in Bildern.

Die Kirche kann nicht leben ohne Bilder. Wie arm wäre sie ohne all die wunderbaren Bilder. Ohne die Erschaffung Adams durch den Finger Gottes in der Sixtinischen Kapelle. Ohne das Bild des Lucas Cranach in Wittenberg, auf dem der predigende Luther die zuhörende Gemeinde auf den gekreuzigten Christus verweist – die ganze  Botschaft der Reformation in einem Bild. Bilder haben immer auch gepredigt und gelehrt. Wir arm wären all unsere Kirchen ohne Bilder, wie leer die Museen ohne die christliche Kunst.

Auch der Glaube kann nicht leben ohne Bilder. Jesus spricht zu seinen Jüngern in  Bildern. „Ich bin das Brot des Lebens“ – ein Bild, das sofort eine Wirkung entfaltet, wenn man es einen Moment wirken lässt, es entfaltet eine Ansicht – Brot – , einen Geschmack, es ermöglicht Leben. In der Spur dieses Wortes feiern wir nachher das Abendmahl. Oder: Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Oder die Jahreslosung des kommenden Jahres. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Auch das ein Bild, das sofort Emotionen weckt und Erinnerungen.

Der Mensch kann nicht leben ohne Bilder. Die Kirche kann nicht leben ohne Bilder. Der Glaube kann nicht leben ohne Bilder. „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder“, sagt ein kluger Mensch des 18. Jh. (J.G. Hamann). Ohne  Bilder können wir nicht leben und nicht glauben.

Und zugleich: Vorsicht vor dem Bilde. Man kann Bilder manipulieren oder mit Bildern manipulieren. In den Zeitungen kommt das immer wieder vor. Wenn man den Ausschnitt verändert, sagt ein Bild plötzlich ganz anderes aus. Da zeigt ein Bild, wie ein bewaffneter Polizist scheinbar einen Verletzten bedroht. Wenn man aber einen größeren Ausschnitt wählt, sieht man plötzlich: die Polizisten drohen nicht, sie helfen. – Vorsicht! Das gilt für absichtliche Fälschungen, die natürlich verwerflich sind. Sehr pointiert kann man aber auch sagen: Jedes Bild lügt, denn es sagt nie die ganze Wahrheit, es zeigt immer nur eine Perspektive, einen Ausschnitt, es ist nicht die Wirklichkeit, sondern eine Darstellung, eine Konstruktion von Wirklichkeit. Jedes Bild ist nur ein Abbild.

Um die Vorläufigkeit von Bildern geht es auch im biblischen Wort für diese Predigt, es steht bei Paulus im 1. Korintherbrief, Kapitel 13, das überschrieben ist: „Das Hohelied der Liebe“. Darin heißt es: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Und der nächste Satz lautet: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild. Alle unsere Bilder sind vorläufig und höchst unvollkommen, sagt Paulus. Es sind immer nur Abbilder. Darum Vorsicht mit ihnen. Vielleicht versuchen wir alle immer wieder nur, uns ein Bild des ganzen Elefanten zu machen, und sehen nur einen Teil. Oder vielleicht erinnert mancher das berühmte Höhlengleichnis des Philosophen Plato. Wir alle sehen in einer Höhle stets nur Schatten an der Wand der Höhle. Nur weil wir nichts anderes kennen, halten wir das für die wirklichen Dinge. In Wahrheit aber sitzen wir mit dem Rücken zur eigentlichen Wirklichkeit, die wir nie direkt sehen. Wir sehen immer nur Schatten und Abbilder. Das ist nahe bei Paulus: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild.

Aber es geht hier nicht nur eine philosophische Einsicht, sondern vor allem ein höchst lebenspraktische: Vorsicht im Umgang mit Bildern. Sie sind stets nur ein Abbild.

Vielleicht ist das der Grund, dass an anderer Stelle die Bibel Bilder ausdrücklich verbietet, im Text der Zehn Gebote: Du sollst dir kein Bildnis machen. Sicher ist das erst einmal eine Form von Religionskritik, das Verbot, Götterstatuen oder ähnliches anzubeten. Aber man muss das Gebot auch weiter fassen: Mach dir kein festgelegtes Bild. Mach dir kein zu genaues Bild von Gott – Gott ist immer noch einmal ganz anders, er bleibt ein Geheimnis.

Du sollst dir kein Bildnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden ist, heißt es. Also: Mach dir kein fixiertes Bild von Gott, aber auch nicht von dem, was auf Erden ist. Mach dir kein Bildnis von den Menschen um dich herum. Leg sie nicht fest auf ein fixiertes Bild. Du siehst auch sie immer nur in einem dunklen Spiegel – deshalb Vorsicht mit Festlegungen, die dem anderen keinen Spielraum mehr lassen, er selbst zu sein, immer noch einmal ganz anders. Du sollst dir kein Bildnis machen von deinem Mann, von deiner  Frau. Auch nicht von deinen Kindern oder Enkeln, wie sie angeblich sind oder sein sollten. Und es soll sich auch keiner ein Bild von dir machen. Jeder weiß wie schwierig und quälend es  ist, wenn man einmal auf ein bestimmtes Bild festgelegt ist. Das soll nicht sein.

Vorsicht mit Bildern, denn wir sehen nur durch einen Spiegel ein dunkles Bild. Das ist eine Mahnung zu einem verantwortlichen Umgang mit Bildern für alle, die praktisch mit Bilder umgehen. Das gilt vor allem für Journalisten. Natürlich dürfen sie Bilder nicht fälschen. Aber auch die Auswahl von Bildern erfordert eine große Verantwortung. Welche Bilder etwa werden gezeigt angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsströme? Zeigt man chaotische Massen? Zeigt man einzelne Gesichter und erzählt ihre bewegende Lebensgeschichte? Giovanni di Lorenzo hat neulich beim Jahresempfang eindrücklich über die Macht der Bilder gesprochen. Und darüber, wie sehr sie emotional Einfluss ausüben, wie sie Haltungen und politische Positionen verändern können.

Übrigens. Ein verantwortlicher und vorsichtiger Umgang mit Bildern: Das geht in Zeiten von Facebook sehr viele an. Man kann durch nachteilige Bilder viel Schaden anrichten. Wer immer  Bilder veröffentlicht, gerade auch in den sozialen Medien, trägt eine hohe Verantwortung für andere oder für sich selbst. Denn jedes Bild ist nur ein Abbild, aber jedes Bild erzeugt eine Wirkung.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild. Damit muss ich zur eigentlichen Pointe bei Paulus kommen. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Paulus weist auf die zukünftige Verherrlichung bei Gott. Wenn wir bei Gott sein werden, dann sehen wir ihn von Angesicht zu Angesicht. Was für ein Bild! Dann ist da kein fleckiger und dunkler Spiegel mehr, dann ist Klarheit und Wahrheit und Liebe.

Im Mai dieses Jahres hat unser früherer Landesbischof Prof. Eduard Lohse über genau diesen Text eine Bibelarbeit vor unserer Landessynode gehalten. Mit 91 Jahren. Vor sich hatte er nur das griechische Neue Testament. Mit fester Stimme sprach er und mit glasklaren, druckreifen Gedanken. „Jetzt sehen wir nur ein Abbild“, sagte er.  „So aber wird es in der himmlischen Verherrlichung nicht mehr sein. Dann werde ich volle Erkenntnis haben und werde transparent vor Gott stehen, werde ihm ins Angesicht schauen und ganz in seiner Liebe geborgen sein. Das Jetzige wird nicht schlecht gemacht oder bejammert bei Paulus. Aber wenn es um die  Vollendung geht – dann bleibt nur ein Wort: Die Liebe“. Es war eine eindrückliche, für alle unvergessliche Auslegung der biblischen  Botschaft. Und es war ein Vermächtnis: Sechs Wochen später ist Eduard Lohse gestorben.

Solange wir in den dunklen Spiegel sehen, sehen wir nur Bilder. Abbilder. Manchmal nur Zerrbilder oder nur Scherben. Und wir sehen viele schlimme Bilder. Bilder von beschädigtem Leben, von Menschen im Krieg und auf der Flucht, von kaputten Beziehungen. Nein, es ist nicht immer schön, was wir sehen, wenn uns und unserer Welt der Spiegel vorgehalten wird. Aber dahinter, sagt Paulus, dahinter wartet eine andere Wirklichkeit.

Jostein Gaarder, der bekannte norwegische Autor, bezieht sich in seinem Buch "Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort" exakt auf unsere Bibelstelle. Es handelt von Cecilie, einem Mädchen, das sterbenskrank ist und sein letztes Weihnachtsfest erlebt. Sie liegt in ihrem Zimmer, Weihnachtsgeräusche dringen zu ihr nach oben. Auf ihrer Reise auf den Tod hin lernt sie einen Engel kennen. Cecilie führt mit ihm Gespräche über Gott, die Welt und die beiden Seiten des Spiegels. Sie spürt das Sterben nicht, der Leser ahnt es. Sie fliegt mit dem Engel mit - und ist nun auf der anderen Seite des Spiegels.

Gaarders Buch endet so: "Etwas später flogen sie zum offenen Fenster zurück und setzten sich auf die Fensterbank. Beide blickten auf Cecilies Bett. Sie fand es seltsam, dass sie sich selbst dort liegen sehen konnte. Ihre blonden Haare waren über das Kissen gebreitet, und auf die Bettdecke des verstorbenen Kindes hatten sie den alten Weihnachtsstern gelegt.

"Ich finde mich schön, wenn ich schlafe", sagte sie. Der Engel hielt ihre eine Hand. Er blickte zu ihr hoch und sagte: ‚So, wie du hier sitzt, bist du noch schöner… Du siehst aus wie ein prächtig gekleideter Schmetterling, der von Gottes Hand losgeflogen ist‘, sagte er. Ein dünner Streifen Morgensonne zog sich über Schreibtisch und Boden." - Cecilie ist auf der anderen Seite des Spiegels. Auf unserer Seite des Spiegels können wir uns die Trauer der Eltern, die Tränen der Großeltern, den Kummer des Bruders vorstellen. Mit dem Tod hat sich für das Mädchen die Perspektive verändert. Das Stückwerk nimmt ein Ende, sie erkennt, wie sie schon immer erkannt war...

Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.

Am Anfang und am Ende steht die Liebe, die wir untereinander leben und mit der wir durch Christus geliebt werden. Liebe - zu ihr ermutigt uns Paulus, schon heute. Liebe allein lässt uns angemessen umgehen mit all den Bildern und Irrbildern, die wir voneinander haben. Lasst uns einander mit Augen der Liebe und der Barmherzigkeit anschauen. Das ist der einzig richtige Blick in den dunklen Spiegel.

Und diese Liebe hört nie auf. Sie bleibt in Ewigkeit, sie wird ihre Fülle und Vollendung erfahren, wenn wir in Gottes ewige Liebe eintauchen. Wenn wir im Tod mit Gott eins werden, brauchen wir nicht mehr zu glauben und  nicht mehr zu hoffen. Da sehen wir. Dann schauen wir die Wirklichkeit Gottes und kein Abbild mehr. Wir sind in Gott. Da gibt es keine Bruchstücke mehr, keine falschen  Bilder, keine Scherben, keine zerbrechenden Beziehungen, keine Boshaftigkeit, keine Tränen, keinen Tod. In Gott werden die Bruchstücke zu dem Ganzen zusammengesetzt, das wir jetzt noch nicht erkennen können.

Die Liebe bleibt. Weil wir bleiben. Der Glaube ist dann nicht mehr nötig. Die Hoffnung wird erfüllt. Mit Christus, bei und in Gott.

Amen.