Predigt zum Abschluss der Orgelrenovierung Oederquart, Ostersonntag 16. April 2017

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Die Music mit Gott ewig bleibt
Die andern künst sie all vertreibt,
Im Himmel nach dem Jüngsten tag;
Wird sie erst gehen in rechter Wag…

Diese Zeilen, liebe Gemeinde, stammen von Johann Walter, dem evangelischen Urkantor, dem Komponisten und musikalischen Berater Martin Luthers. Sie passen also bestens in dieses Jahr des 500. Reformationsjubiläums.

Warum ich sie hier zitiere? Um zu belegen, dass man eine bedeutende Orgel eigentlich nur zu Ostern einweihen kann. Und zwar deshalb, weil die Musik in die Ewigkeit gehört. Musik ist im Ursprung eigentlich die Musik der Engel. Der wunderbare vielstimmige Klang der Orgel bildet diese Musik ab und gibt sie wieder. Wenn wir Musik hören, wenn wir jetzt diese wunderbare Arp-Schnitger-Orgel hören, ereignet sich ein Einbruch der Ewigkeit, erleben wir ein Osterereignis.

Ich will noch einen Moment bei Johann Walters Gedicht bleiben. Es stellt nämlich einen Gedanken heraus, der für unsere lutherische Kirche sehr wichtig ist: Musik wird es auch in der Ewigkeit geben. Und nur die Musik. Die anderen Künste und Wissenschaften wird man dort im Himmel nicht mehr brauchen. Grammatik und Rhetorik – im Himmel werden sich alle ohnehin verstehen, mit der babylonischen Sprachverwirrung ist es zu Ende. Jura – es tut mir leid für die anwesenden Juristen: Jura wird man im Himmel nicht brauchen – es herrscht ewiger Friede. Medizin auch nicht, denn Krankheit und Schmerz wird nicht mehr sein. Auch die Theologie – uns geht es also nicht besser – wird man nicht mehr brauchen, denn wir alle werden Gott sehen, wie er ist. Nur die Musik, die Musik hat auch in der Ewigkeit Sinn. Davon sind unsere lutherischen Mütter und Väter, die um 1680 auch diese Orgel gebaut haben, überzeugt. Und so dichtet Johanne Walter 1538:

Im Himmel gar man nicht bedarf
Der Kunst Grammatik, Logik scharf,
Geometri, Astronomey,
Kein Medizin, Juristerei,
Philosophey, Rethorica.
Allein die schöne Musica,
da werden alle Cantores sein
gebrauchen dieser Kunst allein,
Sie werden all mit Ruhm und Preis
Gott loben hoch mit gantzem Fleiß. …
Solchs singen ewig nicht vergeht,
wie in der Bibel [Original.: in Apocalipsi] steht.[1]

Im Himmel werden wir alle Kantoren sein und in Ewigkeit Gott singen und ihn loben. Der Himmel wird voller Musik sein, auch voller Instrumente. Und so wird da auch die Orgel spielen, die so viele Instrumente in sich abbildet und vereint.

Im Himmel wird es Orgelrestaurierungen vermutlich nicht mehr geben. Hier auf der Erde aber brauchen wir sie, damit gerade die Orgeln etwas vom Klang des Himmels spielen können, auch wenn der Zahn der Zeit an ihnen genagt hat. Und so ist dies ein wunderbarer Festtag heute am Ostersonntag hier in Oederquart, liebe Gemeinde. „Kehdingens schlafende Königin“ ist wieder wach und lebendig, das erste eigenständige Werk des bekanntesten norddeutschen Orgelbauers Arp Schnitger ist wieder im ursprünglichen Zustand restauriert. Ich gratuliere Ihnen herzlich und bin außerordentlich erfreut und beeindruckt, dass wir heute den Abschluss der gesamten Restaurierung feiern können. Gerade vier Jahre ist es hier, dass ich einmal hier in Oederquart war im Rahmen der Visitation des Kirchenkreises. Damals war der erste Bauabschnitt im Blick, und das Ganze schien noch ein unsicheres Großprojekt für eine lange Zukunft. Und nach nur vier Jahren – ich kann Ihnen sagen, das ist für eine Sache dieser Größe zügig – ist nun das Gesamtprojekt abgeschlossen. Herzlicher Dank gilt allen, die dazu beigetragen haben.

Wir erinnern uns heute noch einmal in Dankbarkeit an Hans Oldenburg, der das Projekt bis zu seinem Tod auf seine “so besondere Art” gefördert hat. Danken will ich Rowan West und seinen Mitarbeitern. Ein großer Dank geht an alle Spender und Geldgeber. Und vor allem an den Förderverein und an Herrn von Uslar–Gleichen. Und schließlich gelten besonderer Dank und besondere Anerkennung unserem Kreiskantor und Orgelsachverständigen Martin Böcker, der ein Motor hinter dem Ganzen war.

So ist nun auch diese besondere Schnitger–Orgel wieder hergestellt im Konzert der weltweit einzigartigen Orgellandschaft, die wir hier auf wenigen Kilometern um Stade herum und generell in der Marschenlandschaft an der Nordsee haben. Was für ein Glück, dass unsere Vorfahren hier wohlhabend waren auf dem fruchtbaren Marschboden. Und was für ein Glück, dass sie die Kirchenmusik so geschätzt haben, dass sie das schöne Geld in eine wertvolle Orgel gesteckt haben. „Purer Luxus“ sei eine solche Orgel damals gewesen, sagt  Prof. Konrad Küster, purer Luxus, um Musik auf höchstem Niveau genießen zu können. Aber es war eben auch Luxus zur Ehre Gottes. Eine heilige Unvernünftigkeit lag damals und liegt heute in so einem Orgelprojekt. Manche haben ja gefragt, ob man hier in dieser sehr ländlichen Region 700.000 Euro in eine alte Orgel investieren muss. Aber eine Schnitger-Orgel stellt nun einmal eine kulturelle Verpflichtung dar, der man sich nicht entziehen kann. Es ist eben „Weltklasse auf dem Dorf“. Und: Dieses Projekt mit der „Marke“ Schnitger wird manche Menschen von weither nach Kehdingen führen, auch durch die vielen Angebote der Orgelakademie Stade. Vor allem aber: Diese heilige Unvernünftigkeit ist ein heilsames Zeichen und ein österliches: Es gibt eine andere Dimension in unserem Leben als nur das Vernünftige und Zählbare. Nur nach ökonomischen Zwängen funktioniert unsere Zeit wahrlich schon genug.

Prof. Küster hat in den letzten Jahren gezeigt, wie reich die Musikkultur hier in den Marschgebieten war in den zwei Jahrhunderten nach der Reformation, als auch diese Orgel gebaut wurde. Frömmigkeit und Kultur kamen zusammen in dieser Musiklandschaft. Dahinter stand immer die Überzeugung, dass unser Musizieren hier auf der Erde in den Himmel hineinreicht und mit ihm verbunden ist. So heißt es etwa in einer Predigt des Pastors Henrici zur Orgeleinweihung in Neuenkirchen, gerade 30 KM von hier: „Die ganze Christliche Kirche, sowohl die Triumphierende im Himmel als auch die Streitende auf Erden, teilt sich in zwei Chöre, den oberen und den Unteren. Jener tritt [figuriert] droben im Himmel auf, wir hierunten auf der Erden singen den Choral. Unser Musik soll sein ein Echo und Wieder-Schall der Himmlischen Musik. Wie der Papagei dem Menschen lernt nachschwätzen, so sollen wir auch  den Engeln … nachsingen. Die Engels-Musik soll unser Vorbild sein, damit sie auch Gott möge gefallen.“[2]

Der Vergleich mit dem Papagei ist nun vielleicht etwas despektierlich für unsere Schnitger-Orgel. Aber dass wir im Singen und Musizieren den Engeln und dem Himmel ganz nah sind – das ist doch ein schöner und ein österlicher Gedanke. Übrigens, dass das nicht nur ein Gedanke ist, sondern ein ausgewiesenes Konzept, dass sehen Sie auch an der optischen Gestaltung der Oederquarter Orgel: Die Farbe der Orgel geht über in die der Empore und der Kirche. Eine besonders gelungene Komposition, sie verweist uns – eben auf den Himmel.

Aber ist das nun nicht alles viel zu schön geredet? Es mag passen zur Freude der Orgeleinweihung und zu diesem Festtag. Aber: Wir leben nun einmal auf dieser Erde und nicht im Himmel, und das sehr spürbar. Darüber kann man sich vielleicht manchmal für einen Moment hinwegsetzen, hinwegziehen lassen, auch von der Musik. Aber es ändert doch nichts an den Realitäten.

In der  Welt erleben wir Terror und Kriegsdrohungen wie lange nicht. Wir können nur mit großem Ernst für den Frieden beten. Und wir erleben doch auch persönlich, dass wir nicht im Himmel leben. Aber gerade das gehört zu Ostern. Alle Ostergeschichten beginnen mit dem Weg zum Grab. Immer gehen die Frauen zum Grab, um den Gekreuzigten zu suchen. Der Tod ist nicht ausgeblendet, er gehört auch und gerade in die Ostergeschichte. Der Weg zum Grab – er gehört auch heute für viele unter uns zur ganz persönlichen Ostergeschichte. Der Weg zum Grab eines Menschen, den man hergeben musste. Der einsame Weg zum Grab einer zerbrochenen Beziehung. Zu dem Grab unserer inneren Verletzungen und Verhärtungen, zum Grab der inneren Traurigkeit. Der Weg zum Grab gehört zu Ostern, er gehört zu unserm Leben und zu unserem Glauben.

Aber genau da hinein trifft die Osterbotschaft, die den Frauen ein Engel sagt: „Ihr sucht den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“ Und damit ist alles anders. Für die Frauen, für die Jünger: Sie verstehen, dass die Geschichte Jesu nicht zu Ende ist, sondern dass sie weiter geht. Sie machen sich auf den Weg. Sie erkennen, dass gerade in seinem Sterben Gottes Liebe zu den Menschen ans Ziel gekommen ist. Sie verstehen aber vor allem auch: Das Leben ist stärker. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Nicht am Ende unseres Lebens, nicht in den vielen kleinen Todeserfahrungen, die wir machen. Weil Christus auferstanden ist, schickt der Engel die Frauen auf den Weg, als Zeuginnen der Auferstehung. Und das gilt uns auch. Der Glauben an den Auferstandenen gibt eine tiefe innere Kraft, sich immer wieder neu aufzumachen. Im eigenen Leben. Und hin zu den Menschen, die einen Zeugen des Lebens brauchen an ihrer Seite. Das Leben ist stärker! Dafür steht Gott selbst ein und mit dieser Botschaft schickt er seine Menschen und seine Kirche auf den Weg.  

Weil Jesus auferstanden ist und nur deshalb, sind damals die ersten Christen auch zusammen gekommen in Jesu Namen. Sie feierten Gottesdienst in seinem Namen und begannen auch, Lieder zu singen. Wir haben das Wort aus dem Kolosserbrief (3,16f) schon gehört: Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut, das tut im Namen des Herrn Jesus. Und das natürlich nur deshalb, weil Jesus von Gott auferweckt wurde und lebendig gegenwärtig ist. Alle Lieder der Christen, sogar die Passionslieder und die traurigen Lieder, verdanken sich der Auferstehung. Nur deshalb macht Singen im Namen Christi Sinn. Im Licht von Ostern wissen wir, dass Gott an unserer Seite ist, gerade auch in unseren Kreuzeserfahrungen, da wo wir uns verloren und schuldig und von Gott verlassen glauben. Ostern sagt: Auch da ist Gott an Deiner Seite. Das Leben ist stärker.

Alle Musik der Kirche ist immer Auferstehungsmusik, sie singt das Lied des Lebens in einer Welt mit so viel Tod, sie spielt uns etwas von der Schönheit des Himmels mitten auf diese Erde. „Das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist“, so dichtet Paul Gerhardt: „Das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist.“

Das gilt für alle Musik. Musik weist über sich hinaus und zieht uns nach oben. Schon immer haben die Menschen in ihr ein Abbild der himmlischen Ordnung gesehen, der kosmischen Sphärenmusik. Der Dirigent Bruno Walter sagt: Für manche Menschen wird der „oft als sinnlos und quälend empfundene Text des Lebens ... in der Deutung durch die Melodie als sinnvoll erahnt“. In der Musik erleben wir, was wir sonst oft vermissen: Schönheit, Ordnung, Harmonie. Darin erfahren wir etwas von der Freundlichkeit des Schöpfers und zugleich schon hier einen Abglanz der himmlischen Herrlichkeit. Das gilt für alle Musik, aber für die geistliche besonders, die den Trost und die Zuversicht des Glaubens zum Ausdruck bringt. Ich bin überzeugt, keine Osterpredigt kann uns die Botschaft der Auferstehung so ins Ohr und ins Herz singen wie die Musik, etwa wie in Bachs h-Moll-Messe, wenn das „Er ist auferstanden“ („et resurrexit“) angestimmt wird.

Ich schließe mit einem schönen Beispiel, das in der Frankfurter Allgemeinen von gestern zu lesen ist. Da schreibt Asfa-Wossen Asserate, ein Äthiopier, der in Deutschland lebt und bei uns als Buchautor bekannt geworden ist, über die Osterfeiern, die er als ähtiopisch-orthodoxer Christ in seiner Heimat gefeiert hat. Einmal feierte die ganze Familie an einem besonderen Wallfahrtsort, in Lalibela. Der Gottesdienst in der Osternacht dauerte wie üblich sechs Stunden – dagegen sind wir hier Waisenkinder. Asserate erzählt: Die Feier dauerte „bis drei Uhr morgens. Diese Feier hat uns so berührt, dass wir auch danach nicht schlafen konnten. So wurde wieder Feuer angeschürt und wir saßen um die wärmenden Flammen herum. Plötzlich ging mein Vater in sein Zelt und kam mit einem batteriebetriebenen Plattenspieler zurück. Er legte eine Platte mit Mozarts Krönungsmesse auf, und diese Musik verzauberte die Nacht. Aus den einfachen Hütten um uns herum kam die Menschen, legten sich schweigend ins Gras und lauschten gebannt. Ich war so fasziniert, das ich auf einen dieser einfachen Bauern zugegangen bin und ihn gefragt habe: ‚Warum seid ihr gekommen?‘ Er antwortete: ‚Weil wir diese göttliche Musik hören wollen.‘“[3]

Göttliche Musik kann man überall hören. Jetzt in besonderer Weise auch wieder hier in Oederquart. Sie ist ein besonderer Ausdruck der österlichen Freude. So möge sie auch hier für viele Menschen immer wieder zur Botschafterin des Lebens werden. Denn Christus ist auferstanden.

Amen.

[1] Nach Konrad Küster, Musik im Namen Luthers. Kulturtraditionen seit der Reformation, Kassel 2016, S. 50.
[2] Predigt Henricus Henrici zur Orgel in Neuenkirchen 1562, nach Küster, S. 57.
[3] FAZ 15.4.2017, 9.