Predigt zur Eröffnung der Zeit für Freiräume

Predigt zur Eröffnung des landeskirchlichen Impulses " ... um des Menschen willen - Zeit für Freiräume 2019" - St. Petri-Kirche Buxteude, 6. Januar 2019

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Mit den Heiligen Königen gehen wir an diesem Tag zu dem Kind, liebe Gemeinde, das als Erwachsener die Welt verändert hat. Lasst uns hören auf eine der Geschichten, wegen derer die Erzählungen von dem Kind bis heute bedeutsam sind. Wir hören aus dem Markusevangelium im 2. Kapitel:

Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. (Mk 2,23-28)

„Das geht doch nicht.“ Das sagen die Leute zu Jesus. Jesus ist mit seinen Jüngern unterwegs. Seine Leute haben Hunger und greifen sich deshalb die eine oder andere Ähre und essen die Körner. „Das geht doch nicht“, gehen einige der Frommen dazwischen. „Heute ist Sabbat. Und nach unseren strengen Regeln für den Sabbat ist Ährenernten Arbeit und deshalb untersagt.“

„Das geht doch“, sagt Jesus. „Der Sabbat ist um den Menschen willen gemacht.“ Das ist Gottes Wille damit. Wer zu essen braucht, der soll sich das am Sabbat nehmen. Es geht um den Menschen. So hat es der König David auch gemacht. Als der mit seinen Leuten Hunger hatte und sonst nichts zu essen fand, haben sie sich im Tempel bedient. Eigentlich nicht erlaubt, aber völlig ok – um des Menschen willen.

„Das geht doch nicht“ – so hieß nicht selten die Reaktion, als wir in unserer Landeskirche die Idee aufbrachten, das Jahr 2019 zu einer Zeit der Freiräume zu machen. Wir, der Landesbischof und die sechs Landessuperintendenten und andere Verantwortliche in unserer Kirche, wir hatten die Anregung gegeben, einmal ein Jahr weniger zu machen oder Dinge ganz anders zu machen, Zeiten des Atemholens zuzulassen. „Das geht doch nicht“, sagten manche: Was wir tun, das hat doch alles seinen Sinn. Das ist wichtig. Die Arbeit in den Gemeinden muss doch laufen. Die Verstorbenen müssen doch beerdigt werden, die Gottesdienste gehalten, die Kinder in der Kita betreut werden. Die Arbeit in den Verwaltungsämtern kann doch nicht einfach liegen bleiben. Und außerdem: Wisst ihr eigentlich, was bei uns los ist? Wir kommen doch schon so kaum hinterher mit allem, auch mit allem was die Landeskirche uns immer neu aufhalst. Und nun sollen wir auch noch Freiräume machen, Pausen, weniger tun. Was denn noch alles? „Das geht doch nicht.“

Diese Einwände will ich ernst nehmen. Man muss das ernst nehmen, wenn Menschen für sich kaum Chancen auf Freiräume sehen, in Kindertagesstätten etwa oder in der Pflege.

Aber: Ich erlebe auch immer wieder, dass schon solche Gesprächssituationen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Freiräumen höchst fruchtbar sind. Ganz schnell entsteht ein Gespräch. Ist das denn wirklich so, dass bei uns gar nichts wegfallen kann? Ist wirklich alles völlig unverzichtbar? Wäre es nicht spannend, mal auszuprobieren, ob wir etwas weglassen können oder anders machen? Wenn man sich einmal diese zwei Fragen stellt: Was würde ich gern einmal weglassen? Und wofür hätte ich gern mal Zeit? Ganz persönlich? In der Kirchengemeinde? In meinem Beruf – da entstehen sehr spannende Gespräche.

Zum Impuls für Freiräume in diesem Jahr gehört ganz unbedingt, dass er sehr freiheitlich und freiwillig ist. Wer sagt: „Für mich ist das nichts“, der kann es lassen. Aber wer dem nachgehen will – irgendwelche Ideen entwickeln sich eigentlich immer. Auch wenn klar ist: Bei uns allen gibt es Pflichten, die erfüllt werden müssen, auch 2019, ohne Wenn und Aber.

Aber seien wir ehrlich: Nicht alles ist unentbehrlich. Manchmal finde auch nur ich selbst mich völlig unentbehrlich. Manchmal gibt es ja auch so etwas wie „Überforderungsstolz“: „Keiner ist so kaputt wie ich!“ Da kann es natürlich passieren, dass dieses Jahr das in Frage stellt. Das wäre durchaus beabsichtigt.

Man kann es übrigens auch derber ausdrücken. Mein Kollege aus Ostfriesland hat Türanhänger gedruckt, wie es sie im Hotel gibt. Da steht die Antwort drauf für ein allzu drängendes: „Du musst doch…“ oder „Ich muss doch noch…“: Auf dem Türanhänger heißt es schlicht: „Einen Scheiß muss ich“. Auch ein Motto für dieses Jahr. Gilt nicht immer, aber vielleicht doch öfter, als wir denken.

In einem sind sich eigentlich immer alle einig:  viele leiden unter dem hohen Tempo. Das war ja der Grund, diesen Impuls zu setzen. Viele erzählen von hohen Belastungen, auch in der Kirche. Davon, dass Ehrenamtliche müde sind und die Hauptamtlichen sich stark unter Druck fühlen. Mehr Arbeit, viele Sitzungen. In manchen Bereichen große Strukturveränderungen.

Und diese Beobachtung passt in unsere Zeit. Immer mehr, immer schneller – so erleben sich viele. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat vor 13 Jahren ein Buch geschrieben zur „Beschleunigung“ – so der Titel –  unserer Gesellschaft. Immer schneller soll alles gehen. Ständig sind wir erreichbar, das Smartphone ist keine fünf Minuten beiseite, jede Mail soll sofort beantwortet werden. Der flexible Mensch muss auf alles zu jeder Zeit reagieren. Im beruflichen Leben muss man sich unerhört flexibel ständig anpassen. Und in der Kirche sind wir auch ständig dabei, uns selbst zu optimieren, jedenfalls versuchen wir es: Kirche als Organisation, die sich immer neu auf die Menschen einstellt, immer neue Angebote macht, immer wieder Originelles auf den Weg bringt. Eine gute Sache gewiss, aber verflixt anstrengend. Da geht manchem die Puste aus, einige werden sehr müde. Und manche, das wissen wir, werden krank – Burnout ist nicht zufällig eine der Krankheiten unserer Zeit. Das Fazit von Prof. Hartmut Rosa: „Wir sind am Rande der Erschöpfung und am Rande des Sinnvollen.“ 

Genau deshalb plädiert der Soziologe für „Entschleunigungsinseln“ in unserem Leben oder „Entschleunigungsoasen“. Genau darum soll es gehen in dieser Zeit für Freiräume 2019: Entschleunigungsinseln, Entschleunigungsoasen zu schaffen oder sich schenken zu lassen. Zeiten, etwas zu lassen, durchzuatmen, etwas mal anders zu machen.

Das ist sehr modern. Und es ist sehr alt. „Der Sabbat ist um den Menschen willen gemacht“, sagt Jesus. „Um des Menschen willen“ – das ist das Motto für dieses Jahr. Es erinnert uns an diese unaussprechliche Wohltat des Schöpfers, der den Siebten Tag zum Ruhetag erklärt hat, für die Juden der Sabbat, für uns Christenmenschen dann der Tag der Auferweckung Jesu, der Sonntag. Eine unaussprechliche Wohltat, was da 2. Mose 20 steht: „Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt."  Eine unglaubliche soziale Errungenschaft war das: Keine Arbeit, auch für Knecht und Magd, auch für die Migranten, der Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Sagenhaft aktuell. Und sogar das Vieh ist eingeschlossen, auch die ökologische Dimension ist schon im Blick. Alle Mitgeschöpfe sollen in den Genuss des Sabbats kommen. Was die Juden der Kultur der Menschheit durch den Sabbat und den Sieben-Tage-Rhythmus der Woche gegeben hat, ist überhaupt nicht zu überschätzen. Und wenn alle – ich spreche mich selbst kritisch an – konsequenter einen Tag wirklich Ruhe hielten: Vielleicht bräuchten wir dann kein Jahr für Freiräume. Es geht in diesem Jahr um eine Einübung darin, sabbatlich zu leben. Es geht darum, dem Leben ein heilsames Gleichgewicht, einen heilsamen Rhythmus zu geben.

Die Bibel verbindet die Wohltat des Sabbats mit Gott selbst. Sechs Tage hat Gott die Welt erschaffen, am siebten hat er geruht. Gott ist auf jeden Fall kein Workaholic. Die Vollendung der Schöpfung liegt nicht in der Arbeit, schon gar nicht in Hektik oder Erschöpfung, sondern in der Ruhe. Gott selbst ruht aus nach seiner Hände Werk. Sollten wir denn fleißiger als Gott sein wollen? Auch wir dürfen ausruhen, wir dürfen uns Zeiten der Entspannung und Muße gönnen. Gott selber tut es auch.

Für mich steckt hinter all dem eine Grundeinsicht unseres Glaubens: Unser Leben ist uns geschenkt. Unser Glaube ist uns geschenkt. Unser Richtigsein vor Gott ist uns geschenkt, wir sind allein aus Liebe bei Gott richtig. Dafür kann und dafür muss niemand etwas leisten. In dieser Welt kommen wir ohne das Leistungsprinzip nicht aus. Auch nicht in der Kirche, auch da brauchen wir leistungsstarke Mitarbeitende. Vor Gott aber gilt kein Leistungsprinzip. Vor Gott sind wir alle durch Christus aus Liebe Beschenkte – ohne all unser Zutun. Ich bin unendlich viel mehr als die Summe meiner Leistungen und Gott sei Dank auch als die Summe meiner Fehlleistungen. Das ist der eigentliche Freiraum des Glaubens. Dieses Jahr lädt dazu ein, das ernst zu nehmen und einzuüben.

Der Sabbat ist um den Menschen will da, sagt Jesus. Das ist Gottes ursprünglicher Wille: Gottes Menschenliebe, um des Menschen willen… In der Geschichte geht es darum, dass sich eine gute Regelung verselbständigt hat: Die Regelung für den Sabbat. Dann wird sie zum Joch, dann schränkt sie Lebensmöglichkeiten ein, statt sie zu fördern. Dann sagt sie: „Das geht doch nicht.“ Jesus sagt: „Das geht doch“, das soll und das muss um Gottes willen gehen – um des Menschen willen.

Ja, vieles, was wir tun, hat seinen guten Sinn. Die monatliche Sitzung und die wöchentliche Dienstbesprechung, die Arbeitsroutinen im Beruf und auch die Abläufe zuhause. Das hat alles seinen guten Sinn. Aber es kann sich verselbständigen – wie die Sabbatregeln – es kann der leblose Ablauf des immer Gleichen werden. Alles ist dann so festgezurrt. Ein Kirchenvorsteher sagte mir neulich: „Wir kommen so selten zu dem, wofür wir eigentlich mal angetreten sind.“

Hier wünsche ich mir Zeiten für Freiräume. Haben wir in diesem Jahr den Mut zu Unterbrechungen.

Wie kann das aussehen? Da gibt es keine Einheitsrezepte. Ich ermutige Sie zu eigener Kreativität und Phantasie. Jeden und jede für sich. Wo könnte Ihr Freiraum sein? Vielleicht zehn Minuten am Morgen oder Abend zum bewussten Atmen, zum Innehalten und den Tag bewusst anschauen vor Gott. Vielleicht durch einen Pilgerweg, einen Tag, eine Woche oder auch länger (so etwas habe ich selber im Sommer vor). Jemand hat sich vorgenommen, am Abend nach 18.00 Uhr und am Sonntag keine dienstlichen Mails mehr zu lesen und zu schreiben. Jemand will versuchen, so weit wie möglich ohne Plastikverpackungen auszukommen – ein ökologischer Freiraum.

Wo könnte der Freiraum sein als Gemeinde, als Kirche? Ich habe mit Freude gehört, dass es schon konkrete Ideen dazu in St. Petri gibt, eine gemeinsame Woche der Stille nur mit gemeinsamen Andachten und Essen – aber ohne andere Aktivitäten. Im katholischen Bistum Osnabrück haben wir eine Methode gelernt: Für eine Sache, die neu gemacht wird, fallen zwei Dinge weg. Die eins zu zwei Regel. Andere Gemeinden öffnen einfach die Kirche zu gemeinsamer stiller Andacht. Oder in jeder Sitzung wird eine Stunde freigeräumt für ein Bibelgespräch. Lasst uns gemeinsam fragen: Ist es eigentlich alles um des Menschen willen, was wir tun? Die Sitzungen, die Projekte, die Papiere. Oder versuchen wir es mal anders – und schauen, was dann passiert.

Zum Schluss: „Das geht doch nicht“, hat ein von mir geschätzter kluger Mensch gesagt, als er zum ersten Mal von der Idee hörte. „Denn wenn das publik wird, dann wird die Öffentlichkeit uns auslachen: Ihr in der Kirche, ihr könnt euch solche Späße wohl leisten…“ Inzwischen machen wir ganz andere Erfahrungen. Verantwortliche aus der Politik und leitende Leute aus der Wirtschaft fragen sehr interessiert nach. Denn sie erleben ja auch, dass das „Immer schneller, immer mehr“ ein Riesenproblem ist. Es hilft niemandem, auch der Wirtschaft nicht, wenn Leute ausbrennen. So hoffe ich sehr, dass unsere Zeit für Freiräume in diesem Jahr auch einen Impuls geben kann für unsere Gesellschaft. Was ist in unserer Gesellschaft gut „um des Menschen willen“ – auch in der Arbeitswelt?

Zum Schluss noch ein Text mit einem Augenzwinkern. Er stammt von einem Pastor, der eine diakonische Einrichtung leitete, und ist über 100 Jahre alt (Martin von Gerlach, 1904):

 „Mit Kirchenbann soll belegt werden....
 wer die Nacht zum Tag macht
 wer nicht mehr mit seinen Kindern spielt
 wer aus Zeitgeiz nicht an die See oder in die Berge will
 wer sich für unentbehrlich hält
 wer sich immer gleich ärgert
 wer kleinlich wird
 wer kaum noch zu sprechen ist
 wer bei allem dabei sein will
 wer sich aus Ehrgeiz etwas auflädt
 wer nichts abgeben mag
 wer sich auf ‚Im Dienst verbraucht zu werden‘ etwas einbildet
 wer Neues anfängt, ehe das Alte beendet ist “

Nein, Kirchenbann soll es keinen geben in diesem Jahr, ganz bestimmt nicht. Aber die Ermutigung zur heilsamen Besinnung. Was tut uns gut? Denn Freiräume sind Gottes guter Wille für uns, an die Jesus uns erinnert: Der Sabbat ist um den Menschen willen gemacht.

Amen