Predigt zu Kohelet (Der Prediger Salomo) 7,15-18

Predigt am 17. Februar 2019 in Agathenburg und St. Wilhadi, Stade

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

bunt ist schöner als einfarbig. Wir mögen es vielfarbig.

In der der Musik schätzen wir die Vielstimmigkeit. Zusammenspiele und Kontrast vieler Stimmen, das klingt viel reicher als nur eine Stimme.

Auch die Bibel ist bunt und vielstimmig. Die Bibel ist vielfältig, reich, auch widersprüchlich. Aber vielleicht nehmen wir das nicht immer so wahr. Vielleicht gibt es in unserer Verkündigung, in unseren Predigten manchmal eine gewisse Einfarbigkeit, einen kirchlichen Normalton, der keine Überraschungen mehr bietet.

Seit diesem Kirchenjahr haben wir eine neue Auswahl von Bibeltexten für unsere Gottesdienste, eine neue Ordnung für die Lesungen und vor allem für die Predigten. Eine Absicht war dabei, von der Buntheit und dem Reichtum mehr wiederzugeben als bisher. So kommen z.B. deutlich mehr Texte aus dem ersten Teil der Bibel vor, dem Alten Testament. Die Buntheit und Mehrstimmigkeit kommt dadurch jetzt mehr zur Geltung.

Das gilt besonders für den Predigttext von heute. Das ist ein Klang der Bibel, der bisher in der Gottesdienstordnung überhaupt nicht vorkam. Ein ganz neuer Klang. So heißt es in Luthers Übersetzung:

Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.
Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.

Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.

„Sei nicht allzu gerecht.“ Das steht in der Bibel. Nimm‘s nicht so genau mit den Geboten. Übertreib das verantwortliche Leben nicht. Das sagt nicht irgendein platter Ratgeber am Bahnhofskiosk, das sagt die Bibel, ich soll heute darüber predigen.

Der Chefredakteur unserer Kirchenzeitung hat geschrieben, er findet die Aufnahme dieses Predigttextes „nur peinlich“. Was hätten sich die Theologen bloß gedacht, die diesen Text reingeschmuggelt hätten. Ich finde, die haben sich eine ganze Menge gedacht. Jedenfalls regt dieses Bibelwort zu einer Menge Nachdenken an, schauen Sie doch mal, wie es Ihnen geht.

Das Ganze ist zu lesen im Buch des Predigers, so heißt die Schrift, im Buch Kohelet. Es ist die späteste Schrift im Alten Testament, ungefähr 250 vor Christus ist sie entstanden.

Dieser Prediger ist von viel Lebenserfahrung geprägt, aber auch von viel Ernüchterung. Hier hat einer schon viel gesehen, dem kann man nichts mehr vormachen. Und er macht sich selber nichts mehr vor: „Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.“ Alles ist vergeblich. Es ist, als versuchst du mit deinen Händen den Wind zu fangen. Das steht in der Bibel. Soviel dazu, die Religion würde einen Sinn des Lebens vermitteln. Hier jedenfalls nicht. „Leute, macht euch doch nichts vor“, sagt der Prediger.

Und wenn das so ist, was bleibt dann? Das, was die Leute heute auch machen. Fröhlich sein. Früh Angrillen im Jahr und dann lange durchhalten und ein schönes Bier dazu. In den Worten des Predigers: Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.

Das steht in der Bibel. Da steht nicht, hier jedenfalls nicht: „fastet und betet und versucht die Welt besser zu machen oder viel für die Nächsten zu tun.“ Hier steht: Genießt das Leben. Das alles ist aber kein Abfall von Gott. Nein: Sich über alles nicht so aufregen, fröhlich essen und trinken – das ist eine Gabe Gottes.

Was steht hinter dem allen? Etwas, was uns sehr modern vorkommen muss: Es ist Ausdruck einer religiösen Krise. Was früher überzeugt hat, das tut es jetzt nicht mehr. Es ist die Auflösung alter Ordnungssysteme. Früher hatte man doch jedenfalls manchmal gemeint: Wer fromm und gottesfürchtig lebt, dem geht es gut. Und umgekehrt, wer gegen Gott sündigt, dem geht es schlecht. Auch das steht in der Bibel „Die Gerechtigkeit des Frommen macht seinen Weg eben; aber der Gottlose wird fallen durch seine Gottlosigkeit.“ (Spr 11,5).

Aber das funktioniert eben nicht, sagt der Prediger. Ich habe doch alles gesehen in meinem Leben, sagt er: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. Es gibt Menschen, die nach Gottes Geboten leben und trotzdem elend umkommen; aber andere, die Unrecht tun und sich um Gott nicht kümmern, genießen ihr Leben bis ins hohe Alter.

Und das ist ja nun gewiss auch unsere Lebens- und Glaubenserfahrung. Ein so einfaches Ordnungssystem funktioniert auf jeden Fall gar nicht. Gott als die Macht, die dafür sorgt, dass es mir gut geht, wenn ich an ihn glaube und zu ihm bete. Das bricht zusammen, wenn eine ernste Krise im Leben kommt. Das hält den Realitätscheck nicht aus. Und der Prediger ist eben einer, der den Glauben dem Realitätscheck aussetzt.

Aber der Einbruch der bisherigen Ordnung geht noch weiter. Früher hatte der Glaube ziemlich klar gesagt, was gut ist und was schlecht. Davon ist gerade das Alte Testament erfüllt. Gottes Gebote werden eingeschärft. Gott will, dass wir gerecht leben, gerade gegenüber dem Armen. Die Propheten haben das immer wieder eingeschärft. Achtet das Recht, sorgt für Gerechtigkeit!

Da ist sich der Prediger längst nicht mehr so sicher. Er sagt jetzt: Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Übertreib es nicht mit der Gerechtigkeit, mach mal halblang mit dem anständigen Leben.

Das Gegenteil gilt auch: Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Schlag aber auch nicht über die Stränge!

Das ist ganz ausdrücklich das Votum für den goldenen Mittelweg: Übertreib es nicht, sei nicht zu rigoros. Lass aber auch nicht alles egal sein.

Ich kann damit eine ganze Menge anfangen. Vielleicht ist das auch eine Frage des Alters. Ich glaube, ich kann mit diesen Gedanken jetzt mit 60 mehr anfangen, als ich es mit 20 oder 30 gekonnt hätte. Damals habe ich das eher resignativ gefunden, zu lahm, zu wenig Elan, die Welt zu verändern.

Aber es ist doch eine Menge dran am Votum für den Mittelweg. Für das vernünftige Augenmaß, für den gesunden Menschenverstand. „Nichts im Übermaß.“ Das wussten schon die alten Griechen. Und so weiß es hier auch die Bibel. Nicht „entweder – oder“, sondern „sowohl - als auch“. Gut ist es, wenn du dich an das eine hältst und auch vom anderen nicht lässt.

Ein Votum für den Mittelweg und für das gesunde Augenmaß.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber es gibt manchmal so Bescheidwisser, die einem gehörig auf die Nerven gehen. Etwa wenn es um Ernährung geht. Da gibt es Leute, die genau wissen, was gut ist und was böse und die einem das ungefragt erklären, wie man vegetarisch oder vegan oder noch ganz anders leben sollte. Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise. Unser Bibelwort ist ein Wort gegen Selbstgerechtigkeit und Bescheidwisserei.

Jeder und jede soll das für sich entscheiden, aber ich glaube, Fragen der Ernährung und auch der Gesundheit sind Fragen, wo das – buchstäblich – gesunde Augenmaß, die vernünftige Ausgewogenheit sehr weit führt.

Dasselbe gilt oft in der Politik. Auch da erleben wir derzeit einen Trend zur Radikalisierung. Die sozialen Netzwerke tragen dazu kräftig bei – Debatten bei Facebook und Twitter neigen zur Radikalität. Die einen ziehen den Klimaschutz so extrem hoch, dass man eigentlich gar nicht mehr ins Auto einsteigen darf und auf jeden Fall nicht ins Flugzeug. Der nächste macht die Arbeitsplätze so stark, dass ihm der Klimaschutz egal ist oder er ihn gar leugnet. Und so weiter. Sie kennen das.

Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt. In der Politik und auch sonst nennt man das Kompromiss. Der wird heute gern verhöhnt: „Die Politiker immer mit ihren billigen Kompromissen.“ Ich halte das für falsch. Die Demokratie lebt von Kompromissen. Sie sind eine Kunst, statt dass sich einer mit Wucht gegen den anderen durchsetzt. Der Kabarettist Dieter Nuhr hat gesagt, „Den Zustand, mit Kompromissen zu leben, nennt man Zivilisation. Das ist der Nachteil, der dadurch entsteht, dass noch andere Menschen da sind“.

Unser Bibelwort heute ist ein Wort gegen Radikalismus.
Ein Wort gegen Rechthaberei.
Ein Wort gegen Alarmismus, der in jedem Moment die Weltgeschichte auf der Kippe sieht. „Mach mal halblang“. Das ist heute die biblische Botschaft. Tritt doch noch mal einen Schritt zurück. Hör auf die anderen Positionen, wo die vielleicht Recht haben…

Für den Prediger ist genau das ein Ausdruck des Glaubens: Wer Gott fürchtet, wird beidem gerecht. Nicht zu gerecht, nicht zu skrupellos, nicht schlau, nicht zu gedankenlos. Wer Gott fürchtet, der vermeidet die Extreme. Im Glauben leben, das heißt, aus der Mitte leben, aus Gott. Und das heißt auch, einen Blick für ein mittiges Leben haben.

Dieses Leben ist ein Leben im Vertrauen auf Gott. Die Gelassenheit des Predigers bringt ja auch zum Ausdruck: Es kommt nicht alles auf mich an, auf das, was ich tue und auch auf das, was mir nicht gelingt. So wichtig bin ich nicht. Wichtig ist Gott. Solche Gewissheit im Letzten gibt Gelassenheit im Vorletzten, wie Romano Guardini gesagt hat.

Natürlich – diese Einschränkung muss sein: Das ist nicht das einzige, was die Bibel zu sagen hat. Es ist eine Stimme in der Vielstimmigkeit der Bibel, und es ist nicht die Hauptstimme, es bleibt eine Nebenstimme. Aber auch sie ist Wort Gottes… Jedenfalls hat der Prediger es in das Buch der Bibel geschafft.

Natürlich bleiben auch die klaren Ansagen der Propheten. Natürlich bleiben die Gebote. Natürlich bleibt das klare Wort Jesu: Sucht zuerst Gottes Reich und seine Gerechtigkeit. Sucht entschieden den Weg der Gerechtigkeit.

Mein letzter Gedanke dazu: Auch beim Prediger steht das berühmte Wort. Alles hat seine Zeit: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, hat seine Zeit (Pred 3).

Nicht immer ist der Mittelweg richtig. Es gibt Zeiten und Situationen, da ist Klarheit und Eindeutigkeit gefragt, ohne Wenn und Aber. In Gefahr und größter Not, ist der Mittelweg der Tod, sagt ein altes Dichterwort.

Wenn es um Leben und Tod geht – da ist Entschiedenheit gefragt und nicht der Mittelweg, da muss man schnell und sehr klar sein. Wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken – da darf es keine Kompromisse geben bei der Frage, ob wir helfen müssen. Wenn es um Kindesmissbrauch geht – Null Toleranz.

Klarheit und Entschiedenheit haben ihre Zeit, immer wieder.

Aber nicht immer ist Extremsituation. Oft ist Alltag. Und deshalb: Auch der Mittelweg hat seine Zeit. Der Kompromiss, das abwägende sowohl - als auch, das gesunde Augenmaß. Heute ist Zeit für das Lob des Mittelweges und des Mittelmaßes.

Gott schenke uns die Weisheit, zu erkennen, wann Zeit dafür ist – und wann nicht.

Amen.