Predigt zum 20-jährigen Bestehen der Notfallseelsorge im Sprengel Stade, St. Cosmae-Kirche, 11. Juni 2017

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der PKW war verunglückt und so zerstört, dass nicht einmal mehr die Farbe des Wagens erkennbar war. Ein entsetzliches Bild. Die Feuerwehr wird alarmiert, die Feuerwehrleute rücken aus. Sie bergen den tödlich verunglückten Fahrer. Dabei stellen sie fest, dass es einer ihrer Kameraden ist, mit dem sie kürzlich noch zusammen gewesen waren. Was für ein Schock. Er sitzt tief.

Ein paar Wochen später ist Volkstrauertag. Nach Gottesdienst und Feier am Ehrenmahl sind die Vereine zusammen. Dabei auch der neue Superintendent. Die Feuerwehrkameraden winken ihn an ihren Tisch und fragen ihn: „Wer sorgt eigentlich für uns, wenn wir in seelische Schwierigkeiten bei unseren  Einsätzen kommen?“

Dies, liebe Gemeinde, ist einer der Geburtsmomente der Notfallseelsorge bei uns im Elbe-Weser-Raum. Der ehemalige Superintendent Siegfried Bochow erzählt diese Geschichte, sie geschah am Volkstrauertag 1996 in Dorum im damaligen Kirchenkreis Wesermünde-Nord. Es folgten Gespräche mit den Verantwortlichen bei der Feuerwehr, mit dem Landkreis und mit den Nachbarkirchenkreisen. Am 1. Oktober 1997 nahm die Notfallseelsorge im Landkreis Cuxhaven offiziell ihren Dienst auf.

So geschah das an vielen Orten in diesen Jahren. In Buxtehude hat schon 1995 ein Pastor, der zugleich Feuerwehrmann war, einen Arbeitskreis „Seelische Belastung in den Rettungsdiensten“ gegründet. Das ist, soweit ich sehe, die älteste Spur, auf die wir jetzt gestoßen sind. 1996 begann die Notfallseelsorge in Buxtehude, 1997 gab es sie dann für den ganzen Landkreis Stade.

Mancherorts gab es auch Widerstände. Altgediente Feuerwehrleute waren nicht überzeugt, dass man so etwas braucht. Und auch die Pastoren waren nicht alle begeistert.

Ein entscheidender, wenn eben auch nicht der erste Impuls war dann das Zugunglück von Eschede am 2. Juni 1998. 101 Menschen starben, eine große Zahl von Menschen war von dem Unglück vor Ort betroffen. Die evangelischen und katholischen Seelsorger des Kirchenkreises hatten gerade eine gemeinsame Konferenz und fuhren gemeinsam raus. Rund 80 Seelsorgerinnen und Seelsorger waren nachher im Einsatz. Mit einem Schlag war deutlich, wie unerhört wichtig diese Arbeit ist. Das war ein entscheidender Impuls, die Notfallseelsorge professionell zu organisieren, die ständige Erreichbarkeit zu gewährleisten. Und das wurde dann auch bei uns intensiviert. Nach wenigen Jahren war überall im Sprengel die Notfallseelsorge fest etabliert.

Erste Hilfe für die Seele, sie ist in Krisenzeiten, wenn sich ein Abgrund vor Menschen auftut, besonders nötig. Denn nach einem Unglück brechen sie auf, unweigerlich. Die Sinn- und Lebensfragen. „Die Gottesfrage kommt, wenn das Blaulicht aus ist“, so hat es mal einer genannt. „Hätte ich das Unglück verhindern können?“ - „Wie soll es jetzt weitergehen in meinem Leben?“ - „Warum haben wir uns nicht öfter gesagt, dass wir uns lieben und uns mehr Zeit für uns genommen?“ - „Gott, ich verstehe deine Wege nicht. Gibt es dich, wenn du solch ein Leid zulässt?“

In diesem Gestrüpp von Fragen da zu sein, sie auszuhalten, zuzuhören, manchmal auch nur zu schweigen, Menschen seelisch beizustehen, das ist die Aufgabe von Notfallseelsorge. Eine Kerze anzünden, eine Decke reichen, ein Gebet sprechen vielleicht. Die Seele versuchen zu wärmen, da wo auf einmal Eiseskälte herrscht. Notfallseelsorgerinnen und –seelsorger tun dies in fachlicher Ergänzung mit Rettungskräften, Polizei und Feuerwehr. Und sie stehen eben auch den Einsatzkräften zur Verfügung nach schweren Einsätzen – und sind beteiligt an der Ausbildung.

Ich bin sehr dankbar, dass sich dieser Zweig kirchlicher Arbeit so fest etabliert hat in den zurückliegenden Jahrzehnten. Notfallseelsorge ist ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages unserer Kirche geworden. 310 Einsätze gab es im vergangenen Jahr in unserem Sprengel; 196 Seelsorger waren aktiv. In der Mehrzahl der Fälle waren es Einsätze innerhalb eines Hauses, plötzliche Todesfälle häufig. Nur 20 % der Fälle waren außerhalb des Hauses, die natürlich oft dramatisch. Die 80 % im Haus, die in aller Regel nicht in der Zeitung stehen, machen auch deutlich: Notfallseelsorge ist eine modern organisierte Form von Seelsorge, die schon immer Aufgabe der Kirche war: Da sein, wenn etwa jemand plötzlich gestorben ist. Die Todesnachricht überbringen, den Menschen beistehen.

Immer wenn ich bei einer Kirchenkreisvisitation Begegnungen mit Polizei oder Feuerwehr oder einer Leitstelle habe, wird großer Dank geäußert für den Dienst der Notfallseelsorge. Was hier geschieht, ist ein Segen für viele Menschen. Und es wird in der Öffentlichkeit in besonderer Weise wahrgenommen. Daher gilt heute ein großer Dank allen, die in den 20 Jahren in der Notfallseelsorge mitgewirkt haben und heute aktiv sind. Das ist mit erheblichen Belastungen verbunden, gerade nachts. Man muss ständig stand-by sein, weiß nie, welche dramatische Situation wartet, wenn das Handy klingelt. Es ist kein Geheimnis, dass die Belastungen dazu führen, dass es immer auch mal Diskussionen gibt, ob und wie die Notfallseelsorge flächendeckend zu gewährleisten ist. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt in allen neun Kirchenkreisen feste Verabredungen haben, dass die NFS auf Dauer durch Beteiligung vieler sichergestellt ist. Haben Sie alle Dank dafür, die Sie dazu beitragen.

Notfallseelsorge kann immer nur in guter Zusammenarbeit und Kooperation mit anderen wahrgenommen werden, mit Rettungskräften, Polizisten, Feuerwehrleuten und Ärzten. Da ist viel entstanden in den letzten Jahren. An Vertrauen, an Erfahrung, an Professionalität, an gut entwickelter Koordination. Ihnen allen gilt großer Dank für Ihren oft schweren Dienst zum Wohl der Menschen. Und zugleich Dank für die gute Kooperation. Uns alle eint, dass wir Menschen, die von einem Augenblick auf den anderen ins Unglück gestürzt werden, beistehen und helfen.

„Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst“. Unter diesem Bibelwort aus dem Lukas-Evangelium feiern wir diesen Gottesdienst. Jesus erzählt dazu gewissermaßen zur Veranschaulichung die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Ein Mann ist unter die Räuber gefallen, nacheinander gehen ein Priester und ein Levit an ihm vorbei und helfen nicht – also Leute des religiösen Establishments. Dann kommt ein Samariter – ein Außenseiter –, sieht die offensichtliche Not und hilft. Er leistet Erste Hilfe, indem er die Wunden versorgt. Er hebt den Verletzten auf seinen Esel, bringt ihn in die nächste Herberge und gibt dem Wirt Geld, damit er den Verwundeten pflegt und betreut. Den Verletzten retten – versorgen – für langfristige Hilfe sorgen. Das alles als spontaner, als intuitiver Ausdruck der Nächstenliebe. Und zugleich als Anschauung für das Gebot Gottes: „Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst“. Ganz einfach. Und im Alltag dann auch nicht so leicht. In dieser Erzählung, die tief in unsere Kultur und unser Wertesystem eingegangen ist und sie bis heute prägt, steckt die  fundamentale Humanität, die alle leben, die für Menschen in Not da sind.

„Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr. So stand es über dem Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr in meinem Heimatdorf. In diesem Motto der Feuerwehren ist dieser Geist, dieser biblische Geist, unmittelbar zu spüren, und er gilt für alle, die dem Nächsten zu Schutz und Unterstützung tätig werden. Gottesliebe und Menschenliebe kommen sich darin ganz nah. „Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst“.

Dem Gemeinwohl zu dienen und sich dabei gleichzeitig frei denkend aktiv in seinen Arbeitsbereich einzubringen, das ist ein eigentümliches Verhältnis von Dienen und Freiheit. Es ist bei uns tief gegründet worden durch Martin Luther, durch die Reformation, deren 500. Jubiläum wir in diesem Jahr feiern. Luther hat klar gemacht: wir alle üben unseren Beruf aus auch als eine Berufung durch Gott her. Daher kommt im Deutschen das Wort „Beruf“. Berufen sind nicht nur Priester oder Mönche, so hatte man bis dahin gemeint, sondern jeder und jede tut in seinem weltlichen Beruf etwas zum Dienst am Nächsten und damit auch für Gott. „Die Magd, die morgens den Hof fegt, der Soldat, der für den Frieden sorgt, der Polizist, der im Regimente sitzt und Streit schlichtet, alle sind im Namen Christi am Werk – und tun ihren Beruf im Sinne einer Berufung zum Dienst an einer Allgemeinheit.“ 

Beruf findet da statt, wo Menschen für Geld arbeiten, aber auch, wo sie sich ehrenamtlich engagieren oder auch in der Familienarbeit. Luther hat sogar den Männern seiner Zeit empfohlen, sich nicht zu schade dafür zu sein, die Windeln ihrer Kinder zu waschen, auch das sei eine Form von Gottesdienst.

„Beruf“ hängt eng mit „Berufung“ zusammen. Und so verstehen sicher alle ihr Tun, die sich engagieren für andere, in der Polizei, der Feuerwehr, im Rettungsdienst oder im Krankenhaus, natürlich auch in der Kirche. Als etwas, das man mit tiefem inneren Engagement tut, als Berufung. So verstand auch Luther den Beruf , dass wir hier in der Welt dazu berufen sind, dafür Sorge zu tragen, dass der bedürftige Nächste und das Gemeinwohl durch unseren Arbeitseinsatz gefördert werden. Luther hat diesen Tätigkeiten im Alltag eine große Bedeutung gegeben, er hat sie „Gottesdienst“ genannt. Gottesdienst im Alltag der Welt. Gottesdienst, Dienst für Gott, ist überall, wo Menschen sich an ihrem Ort für andere einsetzen.

Umgekehrt heißt das aber auch: Gott handelt auf unserer Welt durch Menschen. Dazu ein kleine Geschichte: Ein sehr frommer Mann hat sich während einer Überschwemmung auf das Dach seines Hauses gerettet. Ein Feuerwehrmann kommt vorbei: „Steigen Sie ein, wir retten Sie!“ Der Mann antwortet: „Nein, Gott wird mir helfen!“ Dann steht ihm das Wasser bis zu den Beinen. Ein zweites Feuerwehrboot kommt vorbei und will ihn retten: „Nein, Gott wird mich retten!“ Noch ein drittes Boot kommt vorbei, als ihm das Wasser bis zum Halse steht. Aber der gläubige Mensch ruft wieder: „Ich glaube fest an Gott, er wird mich hier herausholen!“ Dann schlagen die Wellen über ihm zusammen. Er ertrinkt. Im Himmel angekommen, beschwert er sich bei Petrus: „Warum hat mich Gott nicht gerettet?“ Petrus antwortet gelassen: „Du Dummkopf, wir haben dir dreimal die Feuerwehr vorbei geschickt und du wolltest nicht ins Boot steigen!“ Gott handelt auch durch Menschen in dieser Welt.

Nebenbei bemerkt: Luther wusste genau, dass zu solcher einer Aufgabe Mühe gehört und auch manchmal Beharrlichkeit. Zitat: „Die tun nicht recht, die ihr Amt, wozu sie ordentlich berufen sind, verlassen oder gering schätzen. Es ist zwar oft verdrießlich genug, ein Prediger, ein guter Familienvater oder ein Polizist zu sein, oder irgendein Amt treu und fromm ohne Zynismus zu verwalten. Aber man darf vor dieser Aufgabe nicht fliehen – sondern soll mutig hinzutreten. Denn Gott hat seine Berufe nicht eingesetzt, dass sie ohne Mühe sind!“

Dabei müssen wir uns als Menschen unser Lebensglück nicht durch unsere Arbeit verdienen, sondern wir wissen uns allein aus Gnade gerecht gesprochen – und das ist die bedeutendste Botschaft der Reformation! – allein aus Gnade dürfen wir uns als von Gott angenommen und geliebt wissen. Das ist die innere Freiheit, in der wir leben und unser Leben gestalten.

Das ist der tiefste Hintergrund aller Notfallseelsorge. Die tiefe Gewissheit, dass Gott da ist. Auch und gerade, wo wir in Grenzsituationen kommen, wie so oft in der Notfallseelsorge. Im „SPIEGEL“ dieser Woche war zu lesen: „Denn auf die ganz großen Fragen menschlicher Existenz hat auch die Wissenschaft keine Antwort. Woher wir kommen. Wohin wir gehen. Was das alles soll. Und wie die Zeit sinnvoll füllen zwischen Ankunft und Abgang. Wie die Bürden des Lebens meistern? Wie umgehen mit Hass und Verachtung, mit Katastrophen und Krankheiten, wie mit eigenem Versagen und Missetaten und dem Bösen in einem selbst. Und wie sich abfinden mit dieser verdammten Endlichkeit unserer Existenz.“  (SPIEGEL 6.6.17)

In vielen Situationen, denen die Notfallseelsorge begegnet, stoßen wir hart auf diese verdammte Endlichkeit unserer Existenz. Als Christinnen und Christen hören wir dabei auf die biblischen Geschichten, die davon erzählen, dass in Gott Ursprung und Ende eines jeden Menschenlebens geborgen ist. „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“, so betet der Psalm 139. „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, …, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefe … uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“, sagt Paulus im Römerbrief (Röm 8, 38f). Und am Ende der Bibel heißt es, dass Gott abwischen wird alle Tränen, denn es wird kein Leid und kein Geschrei mehr geben, denn Gott wird alles neu machen (Offb 21).

Für uns als Christenmenschen hat sich Gott in seinem Sohn Jesus Christus gezeigt, in diesem Menschen, in dem zugleich Gott war und der dennoch nicht den Weg ins Leiden gescheut hat, der all das geteilt hat, was uns Menschen auch begegnet: Leiden und Tod, Schmerz und Verzweiflung, Einsamkeit und Verlassenheit.

Weil Gott in seinem Sohn dies alles geteilt hat, deshalb vertrauen wir darauf, dass Gott auch bei denen ist, die als erste an der Unfallstelle eintreffen und noch nicht wissen, was sie erwartet. Bei den Einsatzkräften, die gegen die Zeit arbeiten und noch nicht wissen, ob es ihnen gelingen wird, jemanden lebend aus einem verunglückten Auto herauszuschneiden. Bei den freiwilligen Helfern, die sich in der Nacht vielleicht lieber umdrehen würden, statt sich einen Ruck zu geben und zum Feuerwehrhaus zu fahren. Bei denen, die Todesnachrichten überbringen müssen und dabei ihre eigene Ohnmacht und Trauer spüren. Bei den Seelsorgenden, die mit einem sehr klammen Gefühl ins Auto steigen.

Gott ist auch dann da, wenn es zu spät war, um Unheil abzuwenden, und auch, wenn etwas misslungen ist oder wenn dunkle Bilder  hochkommen.

In Gottes Liebe sind wir geborgen im Guten und im Bösen. Das ist der Grund für tätige Nächstenliebe. „Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst“ Das lasst uns weiter tun, zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Menschen. Dazu wünsche ich allen, die diesen Dienst am Nächsten tun, weiterhin Gottes Segen.

Amen.