Predigt in der Christvesper am Heiligabend 2022

St. Wilhadi-Kirche, Stade
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

ich beginne mit einigen Zeilen, die nicht von mir selbst sind: „Weihnachten ist die Zeit der Zeitenwende. In der dunklen Jahreszeit, wenn die Tage kurz und das Licht schwach ist, feiern wir das Licht, das in Jesus Christus in unsere Welt gekommen ist. Jesus ist das Licht, das in der Finsternis leuchtet und die Dunkelheit vertreibt.“

Diese Worte sind, wie gesagt, nicht von mir selbst. Sie sind von einem Computer. Seit Kurzem gibt es eine Internetseite, die man also normaler Computernutzer aufrufen kann und auf der einem Künstliche Intelligenz Texte schreibt: ChatGPT.[1] Als ich vorgestern mit meiner Predigt nicht so richtig vorankam, habe ich mich dort angemeldet und dann als allererstes auf der englischsprachigen Seite auf Deutsch eingegeben: „Schreibe mir eine Andacht zu Weihnachten über Zeitenwende“. (Zeitenwende natürlich, weil es das Wort des Jahres 2022 nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine ist und weil wir zugleich unsere Zeit nach der Geburt Jesu zählen und Weihnachten für eine ganze andere Zeitenwende steht.) Ich habe meine Frage also eingegeben – und der PC bzw. die Künstliche Intelligenz begann sofort, mir einen Text auf dem Bildschirm zu schreiben. Ich gestehe, ich bin beinahe vom Stuhl gefallen. Eine knappe DIN A 5 - Seite entstand da vor meinen Augen, Zeile für Zeile. Inhaltlich und formal durchaus brauchbar. Der Schluss lautet: „Lassen Sie uns also in dieser Weihnachtszeit dankbar sein für das Licht, dass Jesus in unsere Welt gebracht hat, und uns bemühen, dieses Licht in unserem Leben zu leben und weiterzugeben. Möge diese Zeit der Zeitenwende für uns alle eine Zeit der Freude, des Friedens und der Besinnung sein. Amen.“

Klar, das ist voller Floskeln und Phrasen. Aber es macht durchaus Sinn, es ist formal gut aufgebaut und natürlich finde ich auch Formulierungen, die andere und ich selbst benutzen. Das ist ja kein Wunder, dieses Computerprogramm arbeitet ja so, dass es Millionen von Texten im Internet auswertet und daraus neue zusammenstellt. Deshalb ist das Programm nicht wirklich kreativ, aber es kann Unmengen von Informationen sammeln und neugestalten. Das ist noch längst nicht perfekt, aber ich gestehe, dass mir etwas schwindlig wird, wenn ich darüber nachdenke: Wenn das heute schon ziemlich gut ist, was wird in zehn oder zwanzig Jahren möglich sein? Ist das eine Möglichkeit, dass wir dem aufziehenden Pastorenmangel begegnen, indem wir hier einen PC mit einem Lautsprecher auf die Kanzel stellen?

Übrigens, was das Programm noch nicht hat, ist Humor. Ich habe gefragt: „Kannst Du mir einen Witz zu Weihnachten erzählen?“ Antwort: „Gerne! Hier ist ein Witz zu Weihnachten: „Warum war der Weihnachtsmann immer so müde, wenn er Geschenke ausgeliefert hat? Weil er den ganzen Tag ‚Ho ho ho‘ gesagt hat!“ Daraufhin habe ich nachgehakt: Dieser Witz ist nicht sehr lustig. Hast Du noch einen? Antwort: Es tut mir leid, wenn der Witz nicht deinen Geschmack getroffen hat. Hier ist noch ein anderer Witz zu Weihnachten: „Warum hat der Weihnachtsmann keine Freunde? Weil er immer ‚Ho ho ho‘ sagt!“ Ich hoffe, dieser Witz bringt dich zum Schmunzeln. Na ja.

Ich weiß nicht, wohin sich solche Künstliche Intelligenz entwickeln wird, was diese Programme uns an Arbeit abnehmen können und was gefährlich sein kann. Ich ahne aber, dass uns diese Fragen noch sehr beschäftigen werden und dass es unser Leben verändern wird – so wie Google unser Leben längst verändert hat.

Dass hier demnächst ein Computer stehen würde mit einem Lautsprecher, habe ich natürlich nicht ernst gemeint. Ich vermute auch, dass uns allen diese Vorstellung unheimlich wäre. Gerade an Weihnachten. Denn zu Weihnachten geht es doch um persönliche Begegnung. In den Corona-Jahren haben wir doch erlebt, wieviel uns fehlt, wenn die persönliche, leibliche Begegnung nicht möglich ist. Gerade zu Weihnachten sind die Begegnungen wichtig. Dass die Kinder nach Hause kommen, dass wir mit der alten Generation zusammen sind, dass Familien und Freude beieinander sind, auch dass wir gemeinsam Gottesdienst feiern, singen, die Atmosphäre der geschmückten Kirche erleben. Diese Gemeinschaft ist es doch, die uns anrührt, die Freude macht. Das kann kein Computerprogramm ersetzen.

Diese Fragen zu verstehen, dazu hilft in den letzten Jahren sehr die Soziologie. Der Soziologieprofessor Hartmut Rosa aus Jena hat Bücher über „Resonanz“[2] geschrieben, darüber, dass unser menschliches Leben darauf angewiesen ist, dass wir in eine schwingende und atmende Beziehung mit der Welt um uns herum treten. Wo das gelingt, erleben wir das Leben als gut und sinnvoll, wo nicht, als öde und leer.

Hartmut Rosa weist darauf hin, dass gerade Weihnachten ein großes Resonanzversprechen sei. Zugleich sei das auch gefährlich, denn dass Resonanz entsteht, das lässt sich nicht planen, nicht herstellen, nicht durch teure Geschenke und nicht durch die stilvollste Vorbereitung des Festes. Ich kann dutzende Geschenke bekommen, auch wertvolle, aber sie lassen mich ziemlich kalt. Aber das eine rührt mich an, etwa weil ich die Liebe dahinter spüre. Rosa sagt: „An Heiligabend ist die Erwartung am höchsten, bis 17 Uhr sind wir meist im Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, und dann wollen wir plötzlich und pünktlich ganz in Resonanz gehen mit der Familie, mit der Heiligen Familie und mit der Heiligen Botschaft noch dazu und, ehrlich gesagt, wissen alle: Nie ist die Entfremdung und das Konfliktpotenzial größer als genau zu diesem Zeitpunkt.“ Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie so etwas heute nicht erleben. Es hilft gewiss, die Erwartungen nicht zu hoch zu hängen und mit Gelassenheit und einigem Humor auch diesen Abend zu begehen.

Seit 2000 Jahren rührt Menschen die alte Geschichte von der Geburt Jesu an. Jahr für Jahr bringt sie etwas in uns zum Klingen. Was ist das? Einmal, glaube ich, ihr nüchterner Realismus. Eine Volkszählung – „dass alle Welt geschätzt würde“. Derselbe bürokratische Wahnsinn mit riesigem Aufwand wie heute. Und dann die sehr einfachen Verhältnisse. Ein junges Paar, dass sich auf den Weg gemacht hat. Schwanger, ohne ordentliches Quartier, eine Geburt in unsagbar primitiven Verhältnissen, wie es sie aber millionenfach auf dieser Welt gibt. Hirten, einfache Landarbeiter, als erste Zeugen. Nicht Hochglanz, sondern harter, schwieriger Alltag. Genauso rührt uns die Geschichte an. Und dann ein Neugeborenes. Dieser Aura, diesem Zauber eines kleinen Kindes kann man sich kaum entziehen. Einem Säugling zu begegnen, löst bei mir immer besondere Gefühle aus.

Dann aber auch: Das Wunder, dass diese Geburt anders als alle anderen ist. Da leuchtet ein besonderer Stern darüber. Da kommen Engel und bringen eine ganz neue Deutung: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr“. Mit diesem Kind kommt Gott selbst ins Spiel. Und dadurch werden neue Gefühle aufgerufen: „Ich verkündige euch große Freude“. Und weil das alles andere als selbstverständlich ist, dazu noch die andere Zusage: „Fürchtet euch nicht“. Das ist die Resonanz, auf die Weihnachten bei uns zielt: Dass wir befreit werden von den Ängsten um uns selbst. Und dass darüber eine neue Freude, eine große Freude entstehen kann. Weihnachten bringt eine neue, eine göttliche Resonanzachse in unsere Welt hinein.

Hartmut Rosa, der Soziologe, sagt: Religion gibt „eine Art vertikales Resonanzversprechen: Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung: … Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“

Ja, natürlich in diesem Jahr ist Weihnachten überschattet von der Zeitenwende, das wonach ich das Computerprogramm gefragt hatte. Der Ausdruck ist zum „Wort des Jahres 2022“ ernannt worden. Es besteht kein Zweifel, der 24. Februar hat sehr viel nachhaltig verändert. Für die Menschen in der Ukraine zu allererst, für die Millionen, die flüchten mussten. Und für uns auch, politisch, militärisch, wirtschaftlich - und vor allem auch in den Seelen der Menschen. All das liegt wie ein Schatten auch über diesem Weihnachtsfest. Niemand weiß, was noch auf uns zukommt. All das kennen Sie, ich muss es nicht weiter ausbreiten.

Aber in angespannten Zeiten haben Menschen schon immer die Weihnachtsbotschaft besonders gehört, hat sie bei ihnen besondere Resonanz ausgelöst, hat besonders getröstet, besonders Mut gemacht. „Fürchtet euch nicht!“ Jahr für Jahr erinnern wir an die eine Zeitenwende mit der Geburt Jesu, von der wir bis heute unsere Jahre zählen. Jahr für Jahr erinnert dieses Fest daran, dass Gott diese Welt nicht sich selbst überlässt und schon gar nicht den selbsternannten Herrschern, sondern dass Gott Herr der Welt ist. Und dass er diese Herrschaft so ausübt, dass er ein Kind wird. Gott übt Mitmenschlichkeit und ermutigt so uns zur Mitmenschlichkeit.

Ob uns diese Botschaft auch in diesem Jahr innerlich erreichen kann? Damit so etwas wie Resonanz entstehen kann, damit ich angerührt werden kann, ist es nötig, dass ich mich empfänglich mache. „Es braucht ein Sich-nackt-Machen, man muss sich berührbar machen, und das heißt immer auch, sich verletzlich machen. Und das ist natürlich super-riskant...“ (Rosa) Ob wir uns so öffnen können für die Botschaft von Weihnachten? Das Geheimnis von Weihnachten ist ja: Genau das hat Gott getan. Gott hat sich nackt gemacht, Gott hat sich verletzlich gemacht, wird ein kleines Kind. Super riskant. Aber gerade so kann das Geheimnis von Weihnachten uns anrühren, trösten, uns innerlich bewegen.

Und genau so kann Weihnachten uns verwandeln. Wo Resonanz entsteht, werden Menschen verwandelt. Wo Menschen durch die Weihnachtsbotschaft innerlich angerührt werden, da werden sie sich von Gottes Menschenliebe anstecken lassen und selbst Liebe praktizieren, wo immer möglich, im Alltag, durch praktisches Handeln, durch finanzielle Hilfe. Eine Resonanz von Weihnachten ist auf jeden Fall, dass nicht innere Abschottung, sondern Solidarität und Nächstenliebe Raum greifen. 

Dass solche Resonanz entsteht, dass kann einstweilen noch kein Computer, und ich hoffe eigentlich, dass das auch so bleibt. Es braucht Begegnung von Menschen, die lieben, verzeihen, verletzlich sind. Als ein solcher Mensch begegnet uns Gott selbst an diesem Abend.
Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten.

Amen.  

 

[1] https://chat.openai.com/chat

[2] Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 32016; Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, München 2022 (aus diesem Büchlein stammen die Zitate).