Christvesper 2015 St. Wilhadi-Kirche Stade

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott eurem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.   

Liebe Gemeinde,

eine Fahrt im ICE. Ich bin zufrieden in meine Lektüre vertieft. Nebenan klingelt ein Handy. Unwillig schaue ich auf, jetzt muss man wieder ungewollt zuhören bei irgendwelchen persönlichen und meist banalen Sachen, die man gar nicht wissen will. Ich mag das nicht. „Hallo“, meldet sich der Angerufene. Und dann: „Ach Mensch, das ist ja schön“. Zuhören. „Und, ganz gesund?“ – „Großartig.“ „Und wie geht es Sabine?“ – „Wie schön!“ - „3850 Gramm?“ „Da freue ich mich mit Euch. Herzlichen Glückwunsch.“

Die Nachricht von der Geburt eines Kindes. Lächeln liegt auf den Gesichtern der Mitreisenden. Jeder Grimm ist weg. Man kann nicht anders, als angerührt sein und sich mitfreuen.

Die Nachricht von der Geburt eines Kindes ändert alles. Neues Leben. Jedes Kind ist ein kleines Wunder. Jedes Neugeborene hat eine Aura um sich, das wunderbare Versprechen, dass das Leben Zukunft hat. In jedem unserer Kinder liegt ein großes Versprechen - das Versprechen auf mehr Menschsein, auf mehr Menschlichkeit.

Die Nachricht von der Geburt eines Kindes ändert alles. So ist es auch in der Heiligen Nacht. „ ... ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Auch da, ich bin mir sicher, hat sich ein Lächeln sich auf die Gesichter gelegt. Maria – erschöpft noch von der Reise und der Geburt – aber glücklich. Joseph. Noch immer irgendwie durcheinander – aber angerührt von dem kleinen Wurm, den er in die Krippe legt. Die Hirten, eher rauhe Gesellen von der Arbeit im Freien, verzaubert.

Sie alle haben einen weiten Weg hinter sich zum Stall. Aber sie alle werden von dem Kind angerührt, kommen zur Ruhe, werden verwandelt. Die Nachricht von diesem Kindes ändert alles.

Das wünsche ich Ihnen als erstes heute Abend, liebe Gemeinde, dass auch Sie zur Ruhe kommen bei dem Kind. Für viele war der Weg bis zu diesem Abend weit und oft auch anstrengend, vieles war zu bedenken und zu tun. Manche sind auch buchstäblich weite Wege gefahren, sind von fernen Wohnorten oder aus dem Studium gekommen. Jetzt sind wir zusammen an der Krippe des Kindes und können zur Ruhe kommen. Es ist Zeit. Es muss nichts mehr geleistet werden.

Ein Neugeborenes gebietet Ruhe. Ich habe im Advent einer jungen Pastorenfamilie zur Geburt ihres ersten Kindes gratuliert. Die halbe Stunde, die ich dort saß mit den Eltern und mit dem neugeborenen Menschenkind, das ich auf dem Schoß halten durfte. Diese halbe Stunde war vielleicht die friedlichste der ganzen Adventszeit. Ein Neugeborenes gebietet Ruhe und lässt zur Ruhe kommen. Möge es auch für Sie heute Abend so sein.

Die Nachricht von der Geburt eines Kindes ändert alles. Gilt das schon für jedes Kind, so gilt es besonders für das Kind in der Krippe in Bethlehem. In einem Kind kommt Gott zur Welt.

Normalerweise haben wir ja ein klares Gefälle. Von oben nach unten, von den Erwachsenen zu den Kindern. Von den Lehrenden zu Lernenden. So läuft das Bildungsgefälle.

Gott kann aber auch anderes. Wer, wenn nicht Gott, sollte nicht auch anders können? Zu Weihnachten zeigt er uns diese andere Perspektive, diese andere Richtung – sie geht vom Kind zu uns, von einem Kind zu den Erwachsenen. „Lasst euch von einem Kind erziehen. Lasst euch von einem Kind beschenken“. Das Kind in der Krippe wird ja nicht zu den Hirten, den Königen, den Menschen gebracht, um von ihnen, den Erwachsenen, etwas mitzukriegen, mitzunehmen oder erzogen zu werden.

Sondern umgekehrt: die Erwachsenen kommen zu dem Kind: die Hirten vom Feld, die drei weisen Könige. Und wir Menschen, heute noch, die wir uns zur Krippe aufmachen auch heute Abend. Und sie werden von dem Kind verwandelt, beschenkt, erzogen.

Eigentlich ist das die ganze Weihnachtsbotschaft: Geht da hin zur Krippe, lernt etwas, kapiert etwas, nehmt etwas von ihm mit, lasst euch von ihm verwandeln.

Bei näherem Hinsehen: Kinder haben ein Talent, uns Erwachsene zu erziehen. Fangen Sie bei den Tischmanieren an. Kinder bringen uns Tischmanieren bei. Weil sie uns so wunderbar kopieren. Kinder machen beim Essen nach, was wir machen. Deshalb benehmen wir uns bei Tisch besser, wenn Kinder dabei sind. Sie wissen schon: Messer ablecken und so etwas.

Kinder lassen uns erwachsen werden. Sie nötigen uns zu sorgen, zu planen, verantwortlich zu sein. Kinder machen wichtig, was wir denken. Sie bewegen uns, immer wieder über Gut und Böse nachzudenken, sie halten uns den Spiegel unserer erwachsenen Unarten vor.

Wie wir mit unseren alt gewordenen Eltern umgehen, so werden unsere Kinder es sich merken, wie man sich zu Eltern verhält. Ob wir Respekt haben vor der Einzigartigkeit des anderen, ob wir das Fremde für gleichwertig achten oder ob wir fremdeln aus Unsicherheit, das gucken sie von uns ab und halten es uns vor.

Schließlich auch: Kinder machen uns Erwachsene fromm. Bei ihrer Geburt staunen wir über die Schöpfung. Bei ihren Fragen müssen wir nachdenken über Gott und den Himmel… Es steckt ein großes Talent in den Kindern, uns Erwachsene zu erziehen!

Die Nachricht von der Geburt eines Kindes ändert alles. Gilt das schon für jedes Kind, so gilt es besonders für das Kind in der Krippe in Bethlehem. In einem Kind kommt Gott zur Welt. Ausgerechnet in einem Kind.

Ernst Bloch, der marxistische Philosoph, hat gesagt: Der christliche Glaube lebt vom Geheimnis der Kleinheit. Gott kommt an unsere Seite nicht im Mächtigen und Bedrohlichen, sondern im Wunder des Kindes. In ihm kommt uns die Liebe Gottes nahe.

Und in ihm ist begründet, dass Christen leben in der Liebe zum Kleinen, zum bedrohten und bedrängten Leben. Im Licht von Weihnachten kann es nicht anders sein, als dass wir schutzbedürftiges Leben besonders einstehen.

„Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt.“ Was für ein Adel für alle Windeln, die an und für sich alles andere als adelig sind (ich jedenfalls habe sie nie gemocht). Aber wenn die Gottheit in Windeln gewickelt war, dann liegt über der Pflege aller Menschen am Anfang ihres Lebens und an seinem Ende das Licht der Liebe Gottes.

Dazu eine Geschichte:[i] Im Himmel waren sie ratlos. Kein Himmlischer wusste mehr, was man mit den Menschen noch machen sollte. Die Irdischen waren für die Geheimnisse des Himmels taub und blind geworden, sie vergaßen, dass sie sterblich waren und ihre Lebensreise einen Anfang und ein Ende hatte. Sie hatten längst schon keine Sprache mehr für die himmlischen Dinge.

Da traten die Engel im Himmel zusammen, bildeten Arbeitsgruppen und berieten. Im Plenum stellten sie ihre Ergebnisse vor. Eine Gruppe empfahl eine Wiederauflage der Sintflut mit modernen Mitteln.

Eine andere machte eine Feldanalyse auf Erden und berichtete: „Seit die Irdischen ohne Aufblick zu uns leben, wenden sie den Blick nur noch zur Erde. Sie arbeiten immer gegen den eigenen Schatten. Das gibt ihrer Arbeit etwas Dunkles und Endloses. Sie können sich nicht mehr recht freuen und sehnen sich doch danach. Wir wollen ihnen ein Fest bereiten und ihnen so auf Jahre hinaus Erinnerungen der Freude und Freiheit schenken.“

Eine dritte Gruppe hatte eine Langzeitstudie angefertigt und empfahl die Erziehung des Menschengeschlechts durch ausgewählte Vorbilder, die wie Leuchttürme unter ihnen sein und ihnen moralische Orientierung geben sollten.

Plötzlich wurde es still. Oberengel Gabriel war zu ihnen getreten. Er sagte nur zwei Worte: „Ein Kind!“ Und als ihn alle sprachlos anschauten, wiederholte er: „Er gibt ihnen ein Kind. Das ist seine Antwort auf ihre Entfremdung.“ Die Engel blieben aus Respekt vor dieser Entscheidung eine Weile still. Aber dann hagelte es Proteste. „Die wollen doch kaum noch Kinder. Kinder sind unerwünscht, stören, hindern die eigene Entfaltung. Durch ein Kind werden sie nicht verwandelt.“ Besonders die Mitglieder der Leuchtturm-Gruppe und die der Sintflut-Gruppe waren empört. Gabriel sagte: „Es soll diesmal anders sein. Er will den Himmel verlassen und als dieses heranwachsende Kind ihnen nahe sein.“

Ein älterer Engel stand kerzengerade und murmelte nur: „Sie werden ihn töten, dann wird er tot sein.“ Gabriel sagte leise: „Er will da durch.“ Laut aber sagte er: „Seht zu, dass das Experiment gelingt, es ist das letzte. Der größte Teil von euch bildet jetzt den Chor der himmlischen Heerscharen. Einige müssen los, um die Herzen einiger Menschen zu erreichen.“

So kam es, dass Maria ein wenig begriff und die Hirten etwas ahnten, dass Joseph sich wie ein Träumer vorkam und später der Hauptmann unter dem Kreuz verstand, dass Gott unser Bruder geworden ist.

Gott ist unser Bruder geworden in diesem Kind. Das ist die Botschaft von Weihnachten. In jedem Kind liegt ein Versprechen. In diesem Kind liegt ein besonderes, ein göttliches Versprechen. Gott selbst will an eurer Seite sein. Gerade da, wo ihr schwach seid, wo ihr verwundbar und verletzt seid. Jedes Kind bietet unverbrauchte Lebensmöglichkeit, birgt einen Neuanfang des Lebens. In diesem Kind liegt ein Neuanfang Gottes, der Dir sagt: Im Licht Gottes, im Licht von Weihnachten gibt es immer noch einen Weg nach vorn.

Martin Luther sagt darüber: „Diese Kind will geben, nicht empfangen. Es will eine leere und gelassene Seele, der menschlicher Rat nicht hilft. Wer viel Unglück und Leid hat, der ist würdig dieses Kindes. Wer mit Sünden und bösem Gewissen beschwert ist, der verlangt nach diesem Kind. Dies Kind ist für den, der fühlt dass ihm etwas fehlt“.

Dieses Kind will uns reich machen. Wenn die alten Maler Bethlehems Stall gemalt haben und wie die Hirten sich über die Krippe zu dem Kind beugen, dann haben sie den Hirten ein Leuchten, einen Lichtschein auf’s Gesicht gemalt. Sie wollten damit sagen: Wer dieses Kind ansieht, der kriegt einen Glanz ab, der fängt an zu leuchten, der kriegt einen Gottesschimmer.

Etwas von diesem Glanz, von diesem Leuchten, etwas von diesem Gottesschimmer wünsche ich uns allen zu diesem Weihnachtsfest.

Amen.


[i]       Gekürzt nach Horst Hirschler, Es leucht‘ wohl mitten in der Nacht. Weihnachtliche Entdeckungen, Göttingen 1999, 17-19