Predigt über Psalm 31,16 zum 600. Jubiläum der St. Pankratii-Brüderschaft

St. Cosmae Kirche Stade, 23.1.2014

Liebe Festgemeinde,
As slow as possible. Unter diesem Titel kann man im Dom zu Halberstadt einem einzigartigen Orgelkonzert lauschen. Dort wird ein Stück gespielt des bedeutenden amerikanischen Komponisten John Cage, der von 1912 bis 1992 lebte. Ein Stück eben mit der Tempoangabe „so langsam wie möglich“. Auf 639 Jahre angelegt ist das Stück, genau so lange gab es auch schon eine Orgel im Halberstädter Dom. Wir sind also in einer ähnlichen Zeitdimension wie bei der Gründung der Pankratii Brüderschaft: 600 Jahre plus x, die Brüderschaft hat ja vermutlich schon einige Zeit vor dem erstmals dokumentierten Jahr 1414 existiert. As slow as possible. Bei diesem Stück erklingt immer nur ein Ton bzw. ein Akkord für mehrere Jahre. Der nächste Tonwechsel ist für den 5. September 2020 angesetzt. Da können Sie zum 606. Jubiläum hinfahren.

Natürlich ist das kein Musikgenuss – ganz anders als das, was uns die VLG-Bläser und Martin Böcker heute so wunderbar spielen. Das Musikstück So langsam wie möglich ist eine Inszenierung, um Zeit bewusst zu machen. Es ist angesichts unserer schnelllebigen Zeit eine Gegendemonstration, ein Akt extremer Entschleunigung, ein Versuch der „Entdeckung der Langsamkeit“. Es ist übrigens auch ein Symbol des Vertrauens in die Zukunft. Welcher Konzertveranstalter plant sonst schon 600 Jahre in die Zukunft.

As slow as possible – das führt uns unser Leben in der Zeit vor Augen. Musik gibt es nur in der vergehenden Zeit – ein Ton nach dem anderen. Leben gibt es nur in der Zeit, im Vergehen der Zeit. Die Grundrhythmen gibt uns die Natur vor: Tag und Nacht. Die Jahreszeiten, der Lauf des Jahres. Normalerweise leben wir im raschen Takt von Augenblick zu Augenblick, von Tag zu Tag, ohne groß darüber nachzudenken. Manchmal wird uns die Zeit bewusst, schauen wir auf die großen Linien der Zeit, in denen wir leben: Zum Jahreswechsel, bei einem runden Geburtstag, einem Jubiläum. Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. dichtet Hugo von Hoffmannsthal im Rosenkavalier, wunderbar vertont von Richard Strauß. Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.

Heute feiern wir ein sehr besonderes Jubiläum. 600 Jahre St. Pankratii-Brüderschaft in Stade. Das ist ein Anlass zum Feiern. Und eben auch ein Tag zum Innehalten. Ein 600. Jubiläum lässt uns den Lauf der Zeit spüren und bedenken.

Viele empfinden heute, dass sich das Zeiterleben beschleunigt hat. Und dafür spricht auch sehr vieles. Früher lebte man in lan-gen Rhythmen, z.B. im Rhythmus von Saat und Ernte. Heute sind wir technologisch extrem beschleunigt, Kommunizieren in kürzester Zeit. Auto und Flugzeug, Handy, E-Mail, Twitter. Sofortige Reaktion ist möglich und wird erwartet, rund um die Uhr, rund um die Welt. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Telefon? Mit Wählscheibe vermutlich. Und wie viele Jahre Sie das hatten. Heute werfen die Hersteller jedes Jahr ein neues Handymodell auf den Markt.

Der Soziologe Hartmut Rosa hat ein Buch zum Thema „Beschleunigung“ geschrieben. Er beschreibt darin, wie unsere Gesellschaft immer mehr in die Beschleunigungsspirale gerät. Rosa sieht unsere Gesellschaft an einem kritischen Punkt angekommen, denn die zunehmende Beschleunigung gerät an ihre Grenzen. Der Soziologe spricht von einem „rasenden Stillstand“, wenn alle immer schneller handeln und sich auf neue Situationen einstellen müssen. „Wir sind am Rande der Erschöpfung und am Rande des Sinnvollen.“ Deshalb plädiert der Hartmut Rosa für „Entschleunigungsinseln“ oder „Entschleunigungsoasen“. „Große Leistungen in allen Bereichen entstehen, wenn Menschen nicht immer flexibel sind, sondern an etwas festhalten, weil es ihnen wichtig ist.“

Die Stader Brüderschaften mit St. Pankratii als der ältesten erscheinen mir als solche Entschleunigungsinseln. Sind sie nicht in sich ein Moment der Entschleunigung? Weil Menschen an etwas festhalten, weil es ihnen wichtig ist. Die Brüderschaften haben im allerbesten Sinn etwas Anachronistisches. Sie setzen mit einer lebendigen alten Tradition einen Gegenakzent gegen die Beschleunigungsspirale.

Übrigens: Auch wenn es viele Indizien gibt, nach denen wir Zeit tatsächlich extrem beschleunigt erleben – die Klage ist auch nicht neu. Ihre Gedenkschrift berichtet über das Jubiläum 1914. Da hat der Regierungspräsident Grashoff ganz ähnlich geredet über die Brüderschaft. Gerade – so wörtlich – in der damaligen „schnelllebigen, stark nivellierenden Zeit sei es eine Notwendigkeit, dass solch alte Einrichtungen fortleben“. 1914. Da gab es noch kein Internet, keine Handys, wenig Autos und Telefone. Also, jede Zeit hat ihr eigenes Zeitempfinden.

Wie war das in der Zeit der Gründung? Im späteren Mittelalter haben Bruderschaften das kirchliche wie bürgerliche Leben erheblich mitgeprägt als eine eigene Form verbindlichen christlichen Lebens neben den Klöstern. Und von Anfang an hatten sie die Aufgabe, die sie in veränderter Form noch heute haben: Nämlich einerseits religiöse und barmherzige Aufgaben zu erfüllen, und zugleich gesellschaftlichen Anschluss herzustellen. Gemeinschaftspflege, Geselligkeit und fromme Wohltätigkeit waren im Mittelalter so wenig ein Gegensatz wie sie es heute sind.

Verändert hat sich manches. Eine wichtige Veränderung war, dass die Tätigkeit der Brüderschaften nicht mehr die Aufgabe hat, für das Seelenheil zu sorgen. Im Mittelalter war das so. Das hat die Reformation, gut 100 Jahre nach der Gründung, neu se-hen gelehrt. Seither ist klar: Niemand kann und muss vor Gott etwas verdienen, auch nicht durch Almosen und gute Werke. Als evangelische wie als katholische Christenmenschen bezeugen wir heute gemeinsam: Unser Leben ist Geschenk, und dass Gott uns bejaht, ist es auch. Wenn Christenmenschen Gutes tun, dann aus Dankbarkeit gegenüber Gott, als Frucht des Glaubens, nicht um Verdienste vor Gott zu erwerben. Wenn Christenmenschen Gutes tun, dann aus Verantwortung für den Nächsten. Verantwortung – das enthält das Wort Antwort – Antwort auf Gottes Anrede, auf die Zusage seiner Liebe und Freundlichkeit, die uns zugleich aufeinander weist und auf die Bedürftigen.

Damit bin ich beim sozialen und diakonischen Zweck der Brüderschaft, der sich im Kern nicht verändert hat. Der alte Zweck der Brüderschaft ist unverändert aktuell, der schon auf ihrem wunderbaren ältesten Silberschatz, dem Willkomm von 1637 genannt ist: Die Bruderschaft S. Pankraty genandt – fur die Armen aufgerichtet wolbekandt. Auch wenn im modernen Sozialstaat manches anders ist als im Mittelalter, so gilt doch das Wort Jesu: „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Mt 26,11). Und so gilt das Engagement der Brüderschaft noch immer den „verschämten Armen“. Und das ist gut so. Denn auch wenn unser Sozialsystem viele Not lindert – Gott sei Dank –, so gibt es doch viele, die an den Rand geraten, die gerade in der beschleunigten Gesellschaft nicht mithalten können, die sichtbar oder oft unsichtbar in Not geraten. Es ist großen Dankes wert, in welchem Maß Sie hier tätig sind. Mit etwa 750.000 Euro in den letzten 40 Jahren konnten die Pankratii-Brüderschaft helfen, etwa 20.000 Euro im Jahr. Das ist sehr beachtlich. Ich bin auch dankbar, dass Sie neben der nach wie vor aktuellen stillen Einzelfallhilfe auch mit diakonischen und sozialen Organisationen zusammenarbeiten, etwa mit der Tafel und der Brücke. So geschieht die althergebrachte Hilfe in moderner und zeitgemäßer Form. Das wird nachher beim Empfang ja seinen Ort haben. Ich sage schon jetzt Danke dafür.

600 Jahre St. Pankratii. Das führt uns den Fluss der Zeit vor Augen. Wir leben in der Zeit, in vergehender Zeit, nicht as slow as possible, sondern in einem unerbittlichen Zeittakt.

Was bleibt von unserer Zeit? Ich finde interessant, was wir an Quellen über die Anfänge der Brüderschaft haben. Das Buch zum Jubiläum dokumentiert es ja: Da findet sich nichts von wichtigen Reden der Brüder oder Ältermänner. Da gibt es keine Spur von den Predigten der Priester und Pastoren. Nein – was blieb, das sind die Rechnungen. Die harten Zahlen, sauber dokumentiert, die Unterstützungszahlungen und Einnahmen der Brüderschaft. Was bleibt, was zählt, das sind offenbar die konkreten Dinge, die geleistet werden.

Und was blieb noch, was ist erhalten in den ältesten Quellen? Das Totenbuch. Die Sterbelisten, die nüchtern die Namen der verstorbenen Brüder und Schwestern – beide sind genannt – der St. Pankratii-Brüderschaft verzeichnen. Ja, so wird es sein mit unserem Leben in der Zeit – am Ende wird unser aller Name in der Liste der Verstorbenen stehen, wie der so vieler im Laufe von 600 Jahren.

Das ist radikalste Zeiterfahrung: Unsere Endlichkeit. Unsere Lebenszeit hat Anfang und Ende. Auch daran erinnert ein solches Jubiläum.
Damit komme ich zu meinem letzten Gedanken über unser Leben in der Zeit. Ich halte mich an ein Wort aus Psalm 31: Meine Zeit steht in deinen Händen. Unter diesem Wort denke ich über die Zeit nach. Unsere Zeit – in Gottes Händen.

Unter diesem Wort schauen wir zurück auf die lange Zeit der Vergangenheit. So ist das Jubiläum zu allererst ein Anlass, Gott zu danken, für Bewahrung und Segen in all den Jahren, auch durch manche Krisen, Irrtümer und Gefährdungen hindurch.

Meine Zeit steht in deinen Händen. In Gottes Händen liegt auch die Zukunft. In diesem Vertrauen kann man getrost nach vorn schauen. Auch in einer Brüderschaft, die in sich ein Stück Vergangenheit bewahrt und doch zugleich immer in den Gegenwart lebt und leben will.
Mein Zeit steht in deinen Händen, das gilt auch für unser aller individuelles Leben. Mit dem was war und dem was kommt. Mit dem, auf das ich mich freue und mit dem, was mir Sorgen macht, und mancher trägt ja auch an einem solchen Tag persönliche Nöte und Ängste mit sich.

Meine Zeit steht in deinen Händen. Das ist ja ein Glaubenssatz, mehr noch: Ein Gebetssatz – und die Brüderschaft ist von ihren Ursprüngen her eine Gebetsbrüderschaft gewesen. Und auch das ist etwas sehr aktuelles. Meine Zeit – in deinen Händen. Meine Zeit gehört in die Beziehung zu Gott – nicht zu einer anonymen Schicksalsmacht, sondern zu dem Gott, der ein liebevolles Gegenüber ist, zu dem ich DU sagen darf. Voller Vertrauen sagt der Psalmbeter: Ich aber, HERR, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.

Gott kann ich anvertrauen, was mich belastet und ängstet, heute und morgen. Und ich kann ihm danken für alle erfüllte Zeit. Meine Zeit steht in deinen Händen – das Wort drückt eine große Geborgenheit aus. Ich bin in Gottes Händen geborgen wir das Kind in den Händen von Vater und Mutter. Das kann eine große innere Stabilität ge-ben, einen großen inneren Halt. Meine Zeit steht in deinen Händen – im Vertrauen auf Christus glauben wir das für unsere Lebenszeit und auch darüber hinaus. Auch im Sterben und im Tod noch sind wir in Gottes Hand geborgen.

In Gottes Hand steht die Vergangenheit wie die Zukunft. Und vor allem – das heute. Heute leben wir unter dem Segen unseres Gottes. Heute. Nicht in der sentimentalen Erinnerung an früher. Nicht in der Vertröstung auf Morgen. Und schon gar nicht im sorgenvollen und zaudernden Blick auf die Zukunft.

Heute ist Jubiläum. Festzeit, besondere Zeit, verdichtete Zeit. So wünsche ich Ihnen ein gutes, ein dankbares und besinnliches, dann auch ein fröhliches und ausgelassenes Jubiläum. Mit kräftig viel Papierwerfen beim Stiftungsfest, damit viel für die Armen zusammen kommt. Und Spaß machen soll es auch. Im Vertrauen auf Gott, der unsere Zeit in seinen Händen hält, lässt sich gut leben und auch feiern – und zuversichtlich in die Zukunft gehen.
Amen.