Predigt am Heiligen Abend 2019 in der Stader St.Wilhadi-Kirche

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

wie wird man ein Engel? Dem möchte ich kurz nachgehen.

Die sechste Klasse soll wie jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte aufführen. Der Lehrer hat sich als pädagogischen Impuls ausgedacht, dass die Kinder die Rollen untereinander per Wahl vergeben. Maria und Josef werden natürlich als erste gewählt. Auch die Hirten sind schnell vergeben, und auch die himmlischen Heerscharen, die Engel, sind begehrt. Allein die Rolle des fiesen Wirtes bleibt unbesetzt. Den will niemand spielen. Der Darsteller des Josef hat die rettende Idee: Er fragt seinen jüngeren Bruder. Diesen einen Satz „Wir haben hier keinen Platz!“ wird der Kleine schon fehlerfrei herausbringen.

Die Proben ab Mitte November kommen flott voran. Die Kulissen werden gezimmert, da spielt es sich gleich viel glaubwürdiger. Alles ist wuselig, aber gut.

Maria und Josef betreten die Bühne und schlurfen mit gesenkten Köpfen und müde zum Wirtshaus. „Ist hier noch ein Zimmer frei?“ Daraufhin ertönt die klare Stimme des Wirtes: „Aber gern!“ Josef geistesgegenwärtig zu seinem kleinen Bruder: „Du lügst!“ Darauf der Wirt: „Nein!“

Die Probe wird abgebrochen und kritisch reflektiert. So geht das natürlich nicht. Der Josef bietet seinem Bruder Prügel an, wenn er beim nächsten Mal wieder alles vermasselt. Der Lehrer fühlt sich pädagogisch gefordert. Er zeigt großes Verständnis für den kleinen Wirt. Aber er erklärt ihm den Unterschied zwischen wahrem Mitgefühl und der originalgetreuen Aufführung einer literarischen Vorlage. „Die Weihnachtsgeschichte geht nun mal so, das können wir nicht ändern.“

Man will es beim nächsten Mal noch einmal versuchen. Diesmal traut Josef seinem jüngeren Bruder von vornherein nicht über den Weg. Er geht mit Maria über die Bühne und fragt am Wirtshaus: „Hier ist doch bestimmt kein Zimmer frei, was?“ Darauf sagt der Wirt: „Doch!“

Die Darsteller sind der Ohnmacht nahe. Nach der Aufführung wird der ungeeignete Wirt in die Gruppe der Engel strafversetzt. Interessanterweise klingt sein „Gottes Sohn ist Mensch geborn“ am klarsten. Alle sind überzeugt, dass er endlich am richtigen Platz angekommen ist.

So, liebe Gemeinde, kann man ein Engel werden. Einfach mal aus der Rolle fallen. Einfach die alten Rollenmuster des Festhaltens und Habenwollens und Nicht-abgeben-wollens fahren lassen. Einfach den Mythos des Unbesiegbaren abgeben.

Könnte es sein, dass die Rolle des Wirtes in den Krippenspielen unseres Lebens überbewertet und überbesetzt ist? Die Rolle dessen, der andere abweist, der Angst hat zu kurz zu kommen. Statt Lebensfreude, für die wir so viel Anlass hätten, sitzt uns die Sorge im Nacken, dass es weniger wird, dass wir abgeben oder teilen müssen. Und dann, dann wird man wie der Wirt.

Da kann Weihnachten ein Anlass sein, das zu durchbrechen: Herz zu zeigen, offen zu sein für andere. Hinzuschauen, hinzuhören, zu fragen. Das lange verschobene Gespräch vielleicht nicht mehr wegschieben. Hineinspüren in das, was dem anderen fehlt. Wenn jemand sein Herz zeigt, dann kann es sein, dass er in den Engelchor versetzt wird.

Und die Rolle der Engel ist deshalb so wichtig, weil der Engel die wichtigste Botschaft zu verkünden hat: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, euch ist heute der Heiland geboren.“ Das ist nicht aus den Textbüchern, die wir so kennen. Die Überschriften dieser Textbücher kennen wir alle zur Genüge. Klimawandel und Brexit, Rechtsradikalismus und Verrohung im Ton in unserer Gesellschaft. Dieses Rollenbuch bleibt ja auch, mit all dem müssen wir uns nüchtern auseinandersetzen.

Was wir aber an diesem Abend hören, ist aus einem anderen, einem himmlischen Textbuch. Deshalb sagen es Engel. Das macht den besonderen Glanz und besonderen Zauber dieser Nacht aus. Einen Zauber, dem sich kaum jemand entziehen kann.

Der Engel, er spielt doch eigentlich die Hauptrolle. Er bildet die Brücke zwischen dem Himmel und der Erde. Er schickt die Hirten auf den Weg, er weist auf das Kind, das Kind in der Krippe. Und weil wir Menschen oft so schwer kapieren, gibt er uns die Deutung: Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.

Fürchtet euch nicht, sagt der Engel. Damit beginnt die Botschaft.
Als ob der Engel meine Seele kennt, meine Seele, die oft genug tickt wie der Wirt. ‚Kein Platz mehr!‘ ‚Das wird sowieso nichts!‘ ‚Das geht den Bach runter.‘ Als ob Gott meine Angst kennt. Ja, so ist es, sagt der Engel. Ich kenne deine Angst vor dem Dunkel, vor der unsicheren Zukunft, vor der Einsamkeit. Ich kenne deine Sorge, das Niveau nicht halten zu können. Ich weiß um deine Furcht, wie das mit der Krankheit weiter geht …

In dieser Nacht der Angst sagt der Engel: Fürchte dich nicht! Und ich frage: Warum? Wer gibt mir denn eine Garantie, dass alles gut geht? Und der Engel sagt: Das hab‘ als Zeichen: Da ist ein Kind geboren. Es ist da, wo es nicht hingehört. In einem Stall, in einer Krippe. Aber so ist Gott da, wo du deine Angst erlebst. Im Dunkel, im Niedrigen. Da wo man Gott so gar nicht erwartet, da ist er jetzt, und damit ganz genau bei dir. Eine Garantie gibt es nicht. Aber es ist ein Kind geboren. Das genügt, sagt der Engel.

Und darum die engelische Botschaft: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“

Freude - weil Gott an unserer Seite ist! Dahin möchte uns dieses Fest bringen. Wenn wir nachher O du Fröhliche singen und der Zimbelstern der Orgel einen goldenen Glanz darüberlegt – dann ist Weihnachten an seinem Ziel, und die Engel lächeln vermutlich vergnügt. Ich verkündige euch große Freude. „Geht doch“, sagen sie dann vielleicht.

In jedem Jahr ist ja irgendwie die Frage: Welche Rolle habe ich im Krippenspiel? Welche Rolle haben Sie an Weihnachten? Eine Hauptrolle? Joseph, Maria? Überzeugt und engagiert… Oder stärker distanziert vielleicht: Ein Hirte? Ich würde Sie gern heute für die Gruppe der Engel werben – und gern auch ohne den Umweg der Strafversetzung vom Wirt zum Engel.

In Hannover hat ein Redakteur der Zeitung die Probe gemacht und sich in einer großen Einkaufsgalerie als Engel anheuern lassen. Mit einem Engelkostüm angetan – ausgeliehen bei der Staatsoper und einer Kirchengemeinde – hatte er den Kunden Schokoladentäfelchen auszuteilen und einen schönen Advent zu wünschen. Da er sich, wie er berichtet, an der Bibel als maßgeblicher Fachliteratur orientiert hat, hat er den Menschen gelegentlich auch „Fürchtet euch nicht“ zugerufen. Seine Erfahrungen sind interessant: Erwachsene haben oft Mühe, sich etwas schenken zu lassen. Andere nehmen es aber auch gern. „Von Engeln nehmen wir immer was“, sagt eine ältere Dame. Ganz anders eine Frau, die ihren Ehemann energisch weiterzieht. „Der hat keinen Engel verdient“. Die größte Offenheit begegnet dem Engel bei den Kindern. Ihre Augen leuchten. Eine Siebenjährige gibt sich als Kollegin zu erkennen: „Ich war auch schon mal Engel.“ Der Journalist zieht am Ende das Resümee: Engel zu sein ist ein erfüllender Job. Und eine Lehrerin sagt ihm: „Ich glaube an Engel. Sie begegnen uns im Alltag ganz oft – als Leute, die uns helfen und uns mit einem Lächeln begegnen.“ So ist es, sagt der Journalist zum Schluss. Und dafür brauche man auch kein Kostüm.

Engel – das sind Boten Gottes. Für unser Denken sind sie meist weit weg. Die Aufklärung hat den Himmel ziemlich leergeräumt, das war nicht so hilfreich für den Glauben an Engel. Ein besonders aufgeklärter evangelischer Theologe hat im 19. Jahrhundert mal gelästert über „metaphysische Fledermäuse.“ Und im Staatsatheismus der DDR sollten die Engel bekanntlich „Geflügelte Jahresendfiguren“ heißen. Die Bibel allerdings – sie ist voll von Engeln. Und die Weihnachtsgeschichte auch. Martin Luther war überzeugt von ihrer Bedeutung: „Wenn uns Gott nicht die lieben heiligen Engel zu Hütern gegeben hätte, welche wie eine Wagenburg um uns lagern, so wäre es bald mit uns aus.“ Als Zeichen dafür schätzen viele Menschen Engel und verschenken kleine Engelfiguren. Es ist ein Zeichen: Gott möge dich bewahren. „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen.“ Der Wunsch aus dem 91. Psalm, er ist manchem liebevollen Geschenk heute Abend gewiss innerlich mitgegeben.

Um die Engel geht es dabei nicht (es spricht der neuzeitliche Protestant). Niemand will hinter die Aufklärung zurück. Es geht um die Wirklichkeit Gottes, die in unser Leben einbricht, die sich gegenwärtig macht. Und die unser Leben verändern und reich machen will. Dafür sind die Engel ein Symbol.

Engel – das sind Boten und Gehilfen Gottes. Und zu allermeist haben sie keine Flügel. Menschen, die etwas von der Freundlichkeit Gottes auf dieser Erde verbreiten. Menschen, die mein Leben etwas leichter machen, etwas glücklicher, etwas heiterer. Das sind Engel. Menschen auch, die Hassbotschaften und Intoleranz mutig entgegentreten. Ganz ohne Flügel. Und doch so, dass ein anderer hinterher sagen kann: Du bist ein Engel. Und wenn man das hört, ich bin mir sicher: Es wird einem warm ums Herz werden.

Zum Schluss: Die Rolle der Engel ist so wichtig, denn zur Weihnachtsgeschichte gehören die himmlischen Heerscharen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Die Weihnachtsgeschichte zielt auf das Lob Gottes. Dafür braucht es viele Engel. Eigentlich uns alle, gleich welche Rolle wir sonst spielen. Im Loben weitet sich das Leben über sich selbst hinaus. Es ist die Erfahrung einer tiefen und befreienden Zustimmung zu dem, der das Leben insgesamt in den Händen hält. Es ist der Glaube, dass es mehr gibt als wir erkennen, und dass Gott – allen widerstreitenden Erfahrungen zum Trotz – das Leben zu einem guten Ende führen wird.

Unser Gotteslob ist Echo der Engel. Wir stimmen ein in ihren weihnachtlichen Jubel. Vorspiel der kommenden Herrlichkeit Gottes. Und Freude darüber, dass Christus bei uns gegenwärtig ist.

Amen.