Christvesper St. Wilhadi Stade 2014

Heiligabend

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott eurem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
Heiligabend. Ein besonderer Abend, dem man sich kaum entziehen kann, selbst wenn man ihn schon oft erlebt hat. Ein Abend der Erinnerungen - an die eigene Kindheit, an die Zeit mit den Kindern. Ein Abend der Begegnung, die Kinder sind nach Hause gekommen, die Familien kommen zusammen. Und wer allein ist oder wo dieses Jahr einer fehlt – das spürt man besonders an diesem Abend.

Ein Abend der Erwartungen, der sehr unscharfen vielleicht, ein Abend der Hoffnungen, auch der Befürchtungen. Selten spüren und empfinden wir so intensiv, was unser Menschsein ausmacht. Weihnachten ist ein Fest des Menschseins und – Gott gebe es – der Menschlichkeit.

Dazu eine kleine Geschichte.
Putin hat geweint. Schon im Sommer stand der Bericht im Stader Tageblatt. Wladimir Putin hat geweint. Beim Empfang seines mongolischen Amtskollegen sind ihm die Tränen gekommen, als die Nationalhymne gespielt wurde. Ganz menschlich hat ihn die Rührung ergriffen. Ausgerechnet beim knallharten Putin, der uns in diesem Jahr großen Anlass zur Sorge und kritischen Fragen gegeben hat mit seinem Kriegsgebaren. Ausgerechnet bei Wladimir Putin, der gern mal Tiger oder Wale jagt, der sich mit bloßem Oberkörper auf dem Pferd fotografieren lässt, der frauenverachtende Chauvi-Sprüche heraushauen kann, eben dieser Putin hat Gefühle gezeigt.

Nur – das durfte keiner sehen. Das russische Staatsfernsehen hat die Tränen herausgeschnitten. Hier – so wörtlich der Zeitungsbericht: „Hier fürchtet man sich vor der Menschwerdung Putins.“ Diese Formulierung war der Grund, weshalb ich den Artikel im Sommer ausgeschnitten und zu meiner Weihnachtssammlung gelegt habe. Das russische Fernsehen fürchtet sich „vor der Menschwerdung Putins“.

Menschwerdung – das ist ja, was wir heute feiern. Es ist das Geheimnis von Weihnachten: Gott wird Mensch. „Gottes Sohn ist Mensch geborn“ (EG 29), singen wir. Oder mit Paul Ge-rhardt: „Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute. Gottes Kind, das verbindt, sich mit unserem Blute“.

Die Mächtigen dieser Erde scheinen Menschwerdung bisweilen zu scheuen. Der erwähnte Zeitungsartikel fährt dann noch fort und nennt ein paar Politiker, von Gerhard Schröder bis Peer Steinbrück, die öffentlich geweint hätten und nun weg vom Fenster seien. Wer Schwäche zeige, könne sich in der Politik nicht halten. Schlimm wär’s.

Die Mächtigen dieser Erde scheinen Menschwerdung bisweilen zu scheuen. Wenn aber Gott Mensch wird, dann erweist sich darin seine Menschenliebe, sie feiern wir heute. Gott will zu uns kommen als ein Mensch.

Dann adelt das aber auch das Menschsein. Das Menschsein ist gewürdigt dadurch, dass Gott einer wird wie wir. Wenn Gott Mensch wird, dann ist das das Größte, was über uns Menschen gesagt werden kann. Dann befreit uns Weihnachten dazu, Menschen zu sein und nichts als Menschen.

Es gab Theologen, die haben die Pointe von Weihnachten darin gesehen, dass Gott Mensch wird, damit wir Menschen etwas göttlicher werden. Der Kirchenvater Athanasius, um 300, hat das so gesehen: „Das Wort Gottes wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden".

Dass wir Gott näher kommen, etwas heiliger werden, etwas gottgemäßer – das muss nicht schlecht sein. Aber die Pointe liegt für mich doch noch mehr darin: Gott wird Mensch, damit wir Menschen sein können und nichts als Menschen. Menschen in allen Gefährdungen und in aller Würde.

Gott wird Mensch, dir Mensch zugute. Gott wird Mensch, damit wir Menschen sein können. Ich schaue mit diesem Blick auf die Weihnachtsgeschichte. Was erzählt sie von uns Menschen und von unserem Menschsein?

Mit einer Volkszählung geht es los. Alle Welt wird geschätzt, deshalb müssen Maria und Joseph nach Bethlehem. Wir Menschen sind viele. Das muss man organisieren, und da müssen die Verantwortlichen wohl auch irgendwie mal durchzählen, um zu planen, wie viele Schulen man braucht oder um das Geld gerecht zu verteilen. Aber wer zählt, bekommt auch Macht. Die Zählung damals war die allererste, heißt es.

Und heute? Wer zählt uns eigentlich mit welchem Interesse? Heute muss sich keiner mehr nach Bethlehem aufmachen, heute zählen Google und NSA und andere, wenn wir nicht sehr aufpassen, was wir tun, wo wir uns bewegen, was wir einkaufen, welche Krankheiten wir haben. Was mag es heißen, dass Gottes Geschichte der Menschwerdung mit einer Volkszählung beginnt?

Nein – Lukas 2, die Weihnachtsgeschichte liefert keine direkte Antwort auf das Big Data Problem, natürlich nicht. Aber sie erzählt davon, dass jeder Mensch eine Würde hat, weil Gott einer geworden ist wie wir. Und sie erzählt davon, dass Gott Mensch wird, damit wir Menschen sein können und nichts als Menschen.

Das verwehrt Menschen jeden Anspruch auf Göttlichkeit, auf Letztansprüche. Menschen dürfen sich nicht aufschwingen zu Herren über den Menschen. Nicht durch Macht, auch nicht durch Informationsmacht, dadurch, dass sie sich alles transparent machen. Und schon gar nicht durch Ideologien, die den Einzelnen einem Weltbild oder einer gewalttätig gewordenen Religion unterordnen.

Wo Menschen Letztbestimmer werden über Menschen, wird es immer unmenschlich. Deshalb ist es wichtig – und das muss auch empfinden, wer mit dem Glauben selbst nichts anfangen kann –, dass kein Mensch sich die Rolle Gottes anmaßt und Gott und Mensch, Letztes und Vorletztes unterschieden bleiben.

Aber weiter: Sie hatten keinen Raum in der Herberge... Wir feiern heute ein Kind, das in einer Notunterkunft zur Welt kommt. Ein Flüchtlingskind. Erschreckend aktuell ist die Weihnachtsgeschichte. In diesem Jahr gibt es so viele Flüchtlingskinder wie lange nicht, in den Flüchtlingslagern im Libanon, anderswo und auch in unserem Land. Als ein solches Kind kommt Gott zur Welt. Unglaublich eigentlich. Er hat nicht die bürgerliche Normalität gewählt, in der zu leben wir es gewohnt sind. Gott wird Mensch, damit wir Menschen sein können und nichts als Menschen. Menschliche Menschen.

Wenn Gott mitmenschlich wird, wie sollten wir nicht Menschen der Menschlichkeit sein, und das gerade gegenüber Flüchtlingen, Menschen, die der Zuwendung in besondere Weise bedürfen.

Nein – Lukas 2, die Weihnachtsgeschichte liefert keine direkte Antwort auf die Frage, wie die EU ihre Flüchtlingspolitik neu ordnen soll, natürlich nicht. Da ist viel zu regeln, und zwar dringend.

Aber: dass sehenden Auges Ungezählte im Mittelmeer ertrinken, dass bei uns ausgerechnet mit Weihnachtsliedern gegen Ausländer demonstriert wird, ich kann das nicht ertragen, wenn wir zugleich die Geburt eines Flüchtlingskindes feiern.

Dann aber das Menschlichste in der Geschichte überhaupt: Sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln. Jede Geburt ist ein Wunder. Sie bei meinen Kindern miterlebt zu haben, gehört für mich zu den intensivsten Erfahrungen des Menschseins überhaupt. Schutzloses Leben, in dem doch das ganze Geheimnis eines Menschen schon da ist. Geschenktes Leben, schutzbedürftiges, anvertrautes Leben. In einem solchen Kind kommt Gott zur Welt. So merket nun das Zeichen recht: die Krippen, Windelein so schlecht. Da findet ihr das Kind gelegt, das alle Welt erhält und trägt. So dichtet Martin Luther.

Gott wird Mensch, damit wir Menschen sein können und nichts als Menschen. Menschen, die das Leben empfangen wie ein Kind, und es nicht selbst machen müssen. Das Geheimnis dieser Nacht erinnert daran: Das Leben ist Geschenk, wir werden geboren, wir verdanken uns. Und dürfen daher leben als Menschen, die Menschen sind und nichts Übermenschliches verlangen, von anderen nicht, von sich selbst nicht.

Wenn Gott Mensch wird, dann befreit er zu wahrhaftem Menschsein, das andere nicht überfordert und auch sich selbst nicht. Nicht mit überhöhten Erwartungen an Familienidylle zu Weihnachten. Nicht einmal mit der Erwartung, dass ein bestimmtes Bild von Familie unbedingt funktionieren muss. Nicht mit der Erwartung an sich selbst, ständig funktionieren zu müssen, Meister der Selbstperfektionierung zu sein mit einem übervollen Kalender und Spitzenleistungen vom Job bis zum Fitnessstudio.

So möge Weihnachten eine Oase sein, eine heilsame Unterbrechung zugunsten des Menschseins. Möge dafür Zeit und Frieden da sein. Wir müssen uns nicht fürchten vor der eigenen Menschwerdung.

Und dann ist da der Engel. Fürchtet euch nicht. Ich verkündige euch große Freude. Euch ist heute der Heiland geboren.

Eine ganz normale Geburt in einfachsten Verhältnisse. Darüber der Stern, der den Himmel hineinleuchten lässt in diesen Stall. Darüber der Engel. Wenn Gott Mensch wird, kommt er in unser Menschsein mit all seinen Unzulänglichkeiten. Aber darin ist ein göttlicher Glanz. Und da hinein spricht der Engel: Fürchtet euch nicht.

Zu den Familien, in denen man sich nichts mehr zu sagen hat oder wo Krach herrscht. Fürchtet euch nicht.
Zu den Müttern, die heute mit Schmerz an die Kinder denken, die im Moment nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Fürchtet euch nicht.
Zu denen, die nicht wissen, ob sie im neuen Jahr noch einmal beruflich wieder in die Spur kommen.
Auch zu denen, die große Sorge haben um die Gesundheit. Fürchtet euch nicht, sagt der Engel.

Das alles wird nicht schönerzählt in der Weihnachtsgeschichte. Aber in all das kommt ein göttlicher Glanz. In all dem ist jetzt Gott an unserer Seite. In all dem gilt uns Gottes großes Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren.

Gott wird Mensch, dir Mensch zugute. Gott wird Mensch, damit wir Menschen sein können. Menschen in ihrer Größe und Würde, mit allem was gelingt. Menschen in ihrem Mittelmaß. Und auch in aller Niedrigkeit.

Niemand muss sich schämen vor den eigenen Tränen und der eigenen Menschwerdung. Denn Gott hat es auch nicht getan – damit wir Menschen sein können, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Menschen, in deren Leben ein himmlischer Glanz leuchtet, denn Gott selbst ist Mensch geworden wie wir.

Ich wünsche Euch gesegnete, wahrhaft menschliche und zugleich vom Glanz Gottes erfüllte Weihnachten.
Amen