Predigt zum 500. Reformationsjubiläum

und zur Einweihung der neuen Prinzipalstücke der Kirche in Harsefeld 31. Oktober 2017, 10.00 Uhr

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Das ist unser Hauptartikel, die wir von Christus unseren Namen haben, und das ist unser rechter, wahrhaftiger, christlicher Glaube, und sonst ist kein anderer Glaube, nämlich: dass Christus wahrer Gott und Mensch sei, und der Glaube allein selig macht. Wer nun einen anderen Glauben haben will, der fahre immer hin und sehe, wo er bleibe. Aber wir Christen glauben‘s, denn Gottes Wort sagt’s…

Das, liebe Festgemeinde, sie ahnen es, ist Original-Ton Martin Luther, hier aus dem Jahr 1537. Da haben wir alles, was den Kern der Reformation ausmacht: Christus. Christus allein. Allein der Glaube an ihn macht selig. Das sagt uns das Wort Gottes.

Luther legt hier Johannes 1 aus, das wir eben als erste Lesung vom neuen Lesepult gehört haben: Jesus Christus ist beides, wahrhaftiger, natürlicher Gott und Mensch: eben dasselbige Kindlein, das in der Krippe liegt und der Mutter Maria Brüste säuget und ihr hernach Untertan ist, das ist das Leben und Licht der Menschen, ja, Gott Schöpfer aller Ding, denn die Welt ist durch ihn gemacht. Jesus Christus, Schöpfer und Herr der Welt – zugleich ein Mensch wie wir, als Bruder an unserer Seite. Sie merken: Ich steige mitten ins Zentrum ein. Mit Absicht. Denn wir haben ja heute gleich mehrere festliche Anlässe zum Feiern in diesem wunderbaren Gottesdienst. Ich frage nach ihrer Mitte.

Wir haben Einweihung gefeiert. Nachdem schon 2014 die so schön erneuerte Kirche wieder eingeweiht wurde, sind nun auch der Leuchter der Osterkerze, die Kanzel und der Altar ihrer Bestimmung übergeben. Ich finde das sehr gelungen und gratuliere der Gemeinde herzlich dazu. Herr Weber hat uns eindrücklich an seinen Überlegungen teilhaben lassen.

Diese Einweihung feiern wir nun an einem ganz besonderen Tag, am Tag des 500. Reformationsjubiläums. Heute vor 500 Jahren wurden Luthers Thesen gegen den Ablass veröffentlicht und haben sehr schnell ungeheure Folgen ausgelöst, die Kirche und Welt verändert haben. Ein erstes kleines Reformationsjubiläum hat Martin Luther übrigens selbst begangen. Am 1. November 1527, genau zehn Jahre nach der Veröffentlichung seiner Ablassthesen am 31.10.1517, hat Luther mit einigen Freunden in Wittenberg einen kleinen geselligen Umtrunk veranstaltet. In einem Brief schreibt er: „Zehn Jahre, nachdem die Ablässe zertreten wurden - in Erinnerung daran trinken wir getröstet in dieser Stunde.“ Schon zu diesem Zeitpunkt gab es also ein Bewusstsein dafür, dass dieses konkrete Datum bedeutsam war. Viele Reformationsjubiläen folgten. Auf dieses 500. Jubiläum haben wir uns in einer Dekade zehn Jahre lang vorbereitet. Und nun ist der Tag da, ein wirklicher Festtag. Schön, das hier in Harsefeld zu feiern, schön, dass wir nachher auch noch etwas zum Anstoßen haben.

Einweihung. Jubiläum. Viele großartige Anlässe also Gottesdienst zu feiern.

Eingestiegen bin ich ins Zentrum. Mit Absicht. Denn der Reformation geht es im Kern um nichts anderes als um den Glauben an Christus. Reformation feiern heißt, Christus feiern und die Freiheit eines Christenmenschen, die er schenkt. Ich bin sehr froh, dass anders als frühere Jubiläen, die oft in schroffer Abgrenzung gefeiert wurden, dieses Jubiläum in einem guten ökumenischen Geist gefeiert wurde. Es wurde als Christusfest begangen, so haben evangelische wie katholische Bischöfe gesagt, und das ist gut so. Reformation feiern, heißt Christus feiern.

Zugleich schauen wir auf die Ausstattungsgegenstände dieser Kirche und haben schon viel dazu gehört. Es ist ganz deutlich: Ihre verbindende Mitte ist Christus. Der Kerzenleuchter trägt die Osterkerze, die uns erinnert an die Auferstehung Jesu Christi. Sie ist sichtbares Zeichen: Durch Christus hat der Tod nicht das letzte Wort, ist die Vergänglichkeit nicht die bestimmende Macht im Leben. Bei jeder Taufe wird das erneuert: Christus will das Licht deines Leben sein.

Von dieser Kanzel wird die Bibel gelesen und ausgelegt. Nicht in allen Geschichten und Texten kommt Jesus Christus vor. Nicht alles, was wir da hören, ist einfach zu verstehen. Aber bei Luther lernen wir: Die Mitte der Schrift ist Christus. Der entscheidende Maßstab zum Verstehen der Bibel – auch der dunklen oder sogar abstoßenden Passagen - ist die Botschaft von der Liebe Gottes, wie sie sich in Jesus Christus gezeigt hat. Luther hat das auf die Formel was Christum treibet gebracht. Der entscheidende Kompass für das Lesen der Bibel ist: Was Christum treibet. Und umgekehrt: Alle, die hier predigen, werden sich kritisch befragen lassen müssen von der Gemeinde: Haben sie Christus gepredigt? Oder eigene Meinungen? Oder haben sie Apelle ans anständige Leben und moralische Vorschläge zur Verbesserung der Welt abgesondert? Dagegen muss nicht immer etwas sprechen, aber es ist zu wenig. O-Ton Luther: „Evangelium ist und soll nichts anderes sein als eine Rede oder Geschichte von Christus.“

Die FAZ hat gestern noch einmal groß das wichtigste Bild der Reformation von Lucas Cranach abgedruckt, das in der Stadtkirche in Wittenberg hängt. Es zeigt Luther auf der Kanzel, Luther verweist die Gemeinde mit einem lang ausgestreckten Arm auf Christus, den Gekreuzigten. Um ihn geht es in einer Predigt, die auf der Höhe der Reformation ist. Das Evangelium predigen, heißt Christus predigen.

Dass es schließlich auch am  Altar um Christus geht, ist offenkundig. Wo wir Abendmahl feiern, ist er leibhaftig unter uns gegenwärtig. Herr Weber hat in seinen Überlegungen zu seiner Gestaltung davon gesprochen, dass Religion eine sinnliche Erfahrung sei. Das gilt für die sichtbare und berührbare Ausgestaltung des Kirchenraumes und seiner Elemente, kein Zweifel, das ist eine eindrückliche sinnliche Darstellung. Und es hat seinen Kern für uns Christen im Abendmahl. Hier wird Christus selbst zu einer sinnlichen Erfahrung in Brot und Wein und in unserer Gemeinschaft.

Also, die zentralen Gegenstände einer Kirche feiern heißt: Christus feiern. Reformation feiern, heißt Christus feiern. Gottes Botschaft an uns lässt sich nach Luther in einem Satz zusammenfassen: „Glaube an Christus, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit. Glaubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht.“ So in der Freiheit eines Christenmenschen 1520.

Nun kenne ich die Gemeinde Harsefeld. Und ich weiß: Wenn ich hierher komme mit der Kernbotschaft „Es geht um Christus“ – dann kann ich mit viel Kopfnicken rechnen. In Harsefeld wissen und glauben das viele, und dafür bin ich sehr dankbar.

Aber ist diese Botschaft der Reformation eigentlich in der Breite aktuell? Erreicht sie die Menschen heute? Ein Kommentator schrieb gestern: Man muss sich bei einer Trauung oder Taufe nur einmal umschauen nach den fragenden Gesichtern vieler Menschen, um zu merken, wie weit die christliche Botschaft und die christliche Praxis von ihnen weg ist. Für viele ist das alles total fremd. Das nüchtern ins Auge zu fassen, gehört elementar zum Reformationsjubiläum. Wir dürfen nicht uns selber feiern, uns auf die Schulter klopfen, und diese Herausforderung nicht im Blick haben. Reformation war nicht nur vor 500 Jahren, sie muss heute sein: Wie erreicht die Botschaft von der Rechtfertigung durch Christus heute Menschen? Wie muss sich die Kirche dafür verändern? Ich bin dankbar, dass die Gemeinde in Harsefeld immer wieder nach neuen Wegen sucht, also Reformation heute betreibt, z.B. durch das spannende neue Projekt im Redder. Das wird auch eine Kernaufgabe sein für alle, die von dieser Stelle aus predigen: Wie formulieren wir das Evangelium so, dass es Menschen von heute packt?

Ich schäme mich des Evangeliums nicht, haben wir von Paulus gehört in der Lesung, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Über diesem Wort hat Luther seine reformatorische Entdeckung gemacht. Er hat später eindrücklich beschrieben, wie er total verzweifelt war, wie er nicht mehr weiter wusste aus Angst, mit all seiner Frömmigkeit vor Gott nicht zu genügen. Er habe am Ende Gott gehasst, schreibt er. Und dann hat er im Ringen mit diesem Bibelwort entdeckt, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, dass der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt; Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten. Der Mensch ist vor Gott richtig nicht durch seine Leistung, nicht durch seine Frömmigkeit, nicht durch Anständigkeit und Wohlverhalten. Er ist vor Gott richtig und bejaht allein durch Jesus Christus.

Ist das aktuell? Manche tun das schnell ab. Das sei dem Denken des Spätmittelalters verhaftet und gehe uns heute nichts mehr an. Luther habe die Frage gehabt: Wie kriege ich einen gnädigen Gott, und das beschäftige doch heute keinen mehr. Matthias Kamann, ein sonst sehr kundiger Journalist, schrieb in der Welt: Die Botschaft von der Rechtfertigung sei von gestern, eine Aktualisierung könne auch nicht funktionieren. „Wofür Rechtfertigung, wenn es kein Höllenfeuer gibt?“, fragt er pointiert.

Ich finde das falsch. Und zwar ganz ohne Höllenfeuer. Rechtfertigung sei kein Thema? Vorgestern erzählt mir jemand, er sei in einer Krise, und ihm helfe gerade das Buch eines bekannten Coaches und Trainers: Robert Betz: Willst du NORMAL sein oder GLÜCKLICH? Vielleicht kennen sie Robert Betz, offenbar ein Bestseller. Ich schaue im Internet in das Buch hinein und lese: Am Anfang deines Lebens hat man dir erzählt, dass du nicht gut seist und dass du dich zu bessern hast; dass du nicht liebenswert seist und dass du viel tun müsstest, um ein wenig Liebe von anderen zu bekommen. Du hast gelernt, Liebe gäbe es nur gegen Leistung, Wohlverhalten und Anpassung. Wie bei Millionen Normalmenschen ist dein Denken über deine Person geprägt von Kritik und Abwertung.

Und dann ist natürlich die Botschaft: Mach dich davon frei, sei kein Normalmensch. Nimm dein Leben selbst in die Hand, lass dich nicht von negativen Wertungen anderer bremsen. Da wird manches gesagt sein, was für Menschen hilfreich ist, ich will das gar nicht einfach abtun. Es ist ja wahr, ohne Anerkennung kann keiner leben, negative Werturteile von anderen schnüren uns die Luft zum Leben ab.

Aber wenn ein aktueller Lebenscoach so schreibt, zeigt das: Die Frage nach der Rechtfertigung ist höchst aktuell: Du hast gelernt, Liebe gäbe es nur gegen Leistung, Wohlverhalten und Anpassung. Dagegen steht die Botschaft der Reformation, die Botschaft der Bibel: Du bist geliebt ohne Leistung, ohne Wohlverhalten, ohne Anpassung. Du bist geliebt, weil du Du bist. Und weil Gott dich gerade so liebt. Dafür steht Christus.

Ich glaube, dass die Botschaft von der Rechtfertigung allein durch Christus eine unglaublich hohe Aktualität hat. Meine Identität, mein Daseinsrecht wird mir von Gott zugesprochen. Ich darf sein, unbeschadet dessen, was durch Schuld oder Schicksal meine Identität gefährdet und wo ich sie selbst gefährde. Ich bin in Gottes Augen wertvoll – unabhängig von Leistung und Selbst­optimierung. Für uns alle gilt:  Du bist  mehr als die Summe deiner Leistungen und Gott sei Dank auch deiner Fehlleistungen.

Das ist eine unerhört menschenfreundliche Botschaft, die Freiheit und Leichtigkeit ins Leben bringt. Und es ist eine unerhört ermutigende Botschaft, persönlich und für eine ganze Kirchengemeinde. Es geht nicht um immer mehr Anstrengung zur Optimierung der Gemeinde. Auch hier hat die Botschaft von der Rechtfertigung eine große Bedeutung: Gott baut seine Kirche mit fehlbaren Menschen, mit fehlbaren Gemeinden, in denen Menschen sich Mühe geben, in denen vieles gelingt, in denen aber auch vieles bruchstückhaft bleibt. Gottes geliebte Bruchstücke sind wir. Genau so dürfen wir sein. Das ist Leben aus der Rechtfertigung.

Daraus resultiert eine große innere Freiheit. Die Freiheit eines Christenmenschen wurzelt im Vertrauen auf Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen.

Und: diese Freiheit ist zugleich eine, die da ist für den anderen. Luther hat diese Dopplung unvergleichlich auf den Punkt gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

„Ein freier Herr, niemand untertan.“ Und gerade deshalb freiwillig „jedermann untertan“. Ein Christ ist nicht einer, der die große Ich-AG betreibt, sondern der sich öffnet für andere, für die Hilfsbedürftigen besonders.

Ein letztes Mal Luther, 1522: „Nun haben wir von Gott lauter Liebe und Wohltat empfangen, denn Christus hat für uns seine Gerechtigkeit hingegeben: denn Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht.

Gott ein glühender Backofen voller Liebe. Das feiern wir heute. Darum möge es gehen in dieser Kirche. Mit Gottes Segen.

Amen.