Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy
Frau Bürgermeisterin, liebe Frau Nieber,
meine verehrten Damen und Herren,
ein erstes kleines Reformationsjubiläum hat Martin Luther selbst begangen. Am 1. November 1527, genau zehn Jahre nach der Veröffentlichung seiner Ablassthesen am 31.10.1517, hat Luther mit einigen Freunden in Wittenberg einen kleinen geselligen Umtrunk veranstaltet. In einem Brief schreibt er: "Zehn Jahre, nachdem die Ablässe zertreten wurden - in Erinnerung daran trinken wir getröstet in dieser Stunde.“ Schon zu diesem Zeitpunkt gab es also ein Bewusstsein dafür, dass das Datum historisch bedeutsam war.
Nun begehen wir heute das 500. Jubiläum. Wie schön, dass auch wir etwas zum Anstoßen haben. Ich bedanke mich herzlich für die Einladung durch die Frau Bürgermeisterin und die Stadt. Und ich denke, es ist sehr angemessen, dass wir diesen besonderen Tag auf diese Weise begehen: Erst in der Kirche mit einem Gottesdienst – und nun im Rathaus. Denn die Reformation hat eben nicht nur die Kirche verändert, sondern auch unsere gesamte Gesellschaft. Daher ist es höchst sachgerech wenn auch der Staat – etwa durch den Feiertag heute (und vielleicht ja auch in Zukunft…) – und die Stadt das Jubiläum feiern. Es ist dies eine gute gemeinsame Erinnerungskultur, in der wir heute selbstverständlich in einem guten ökumenischen Miteinander auch mit den katholischen Mitchristen verbunden sind.
Unser Land wäre komplett anders ohne die Reformation. Natürlich hat es auch Schattenseiten gegeben, und die dürfen nicht verschwiegen werden - nicht nur, aber besonders Luthers schreckliche späte Aussagen zu den Juden. Natürlich hat es eine lange und wechselhafte Wirkungsgeschichte gegeben, zu der die Umformung des Denkens und Lebens in der Aufklärung und in der Neuzeit gehört. Eine kurzgeschlossene Identifikation von Reformation und Gegenwart ist historisch nicht haltbar. Da waren auch schmerzhafte Prozesse etwa in der Entwicklung moderner Freiheit notwendig.
Das ändert aber nichts daran: Die Folgen der Reformation waren gewaltig. Die Reformation hat Weltgeschichte geschrieben. Und auch unser Land zwischen Elbe und Weser, auch unsere Stadt wäre komplett anders ohne die Reformation.
Das gilt für die Kirche, aber auch für breite Bereiche des politischen, des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.
Es gilt für den sozialen Bereich: Diakonie, Armenfürsorge usw. Denn Luther führte den „gemeinen Kasten“ ein und legte damit einen der Grundsteine für eine institutionalisierte Fürsorge an Bedürftigen.
Ich nenne aber auch besonders die Bildung, angetrieben besonders durch Philipp Melanchthon. Jedes Kind sollte – unabhängig vom sozialen Stand – eine elementare Bildung erhalten. In der Folge waren die Reformatoren unermüdlich an zahlreichen Schulgründungen und der Erneuerung von bestehenden Schulen beteiligt. Die Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung wurde zum neuen Bildungsideal. Und das galt für Mädchen wie für Jungen. Bereits 1520 schrieb Luther: "Und wollte Gott, jede Stadt hätte auch eine Mädchenschule, in der die Mädchen täglich eine Stunde das Evangelium hören, es wäre auf deutsch oder lateinisch." In einer bildungspolitischen Ermahnung an die Ratsherren vier Jahre später, 1525, wurde Luther noch konkreter. Er ermahnte die Obrigkeiten deutscher Städte, "die allerbesten Schulen für Knaben und Mädchen an allen Orten aufzurichten." Das gilt bis heute! Die Reformation sorgte so für einen gewaltigen Bildungsschub und besonders zu einem auch sozialgeschichtlich nachlesbaren Impuls für die Frauenbildung.
Für die Kultur ist kaum zu überschätzen die Wirkung der Lutherbibel. Sie hat die einheitliche deutsche Hochsprache entscheidend geprägt. Ihre Redewendungen sind in unsere Alltagssprache eingegangen: Wir "tragen jemanden auf Händen", hüten etwas "wie unseren Augapfel", arbeiten "im Schweiße unseres Angesichts" oder rennen von "Pontius zu Pilatus". Zahlreiche bekannte Redewendungen stammen aus der Lutherbibel. Übrigens: Auch die Zahl der Wörter, die Luther erfand oder zumindest in die Schriftsprache einführte, ist Legion: Feuereifer, Herzenslust, Bubenstück, Denkzettel, Rotzlöffel, Rüstzeug, Schandfleck und viele mehr. Aus Anlass der Buchmesse war jetzt zu hören: Deutschland hat heute den zweitgrößten Buchmarkt weltweit, obwohl es ja beileibe nicht das zweitgrößte Land ist. Auch diese „Lesekultur“ ist eine Frucht der Reformation mit ihrer Überzeugung, dass jeder Christ, jede Christin selbst in der Bibel lesen sollte.
Die Reformation hatte prägende Bedeutung für die Kultur: Das gilt besonders auch für die Musik, wir haben es in der Homilius-Kantate im Gottesdienste eben eindrucksvoll erlebt. Die Reformation war eine Musik- und Singebewegung. Denken Sie in der Folge nur an Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach oder Johannes Brahms, aber auch an Paul Gerhardt. Und natürlich muss hier in unserer Region der Orgelbau genannt werden.
Aber auch das gesamte Denken erhielt entscheidende Impulse durch die Reformation. Die Meisterdenker der deutschen Philosophie entstammen weitgehend der evangelischen Kultur: Kant, Fichte, Hegel, Nietzsche. Noch Berthold Brecht nannte die Lutherbibel das für ihn „wichtigste Buch“.
Und das protestantische Arbeitsethos, das unsere Gesellschaft geprägt hat: Wir hörten von Frau Nieber vom Ende vieler Klöster. Luther hatte es eben entscheidend umcodiert: Das gottgefälligere Leben geschah nicht länger im Priesteramt oder Kloster, sondern in unserem Alltag. Hier geschieht Dienst an Gott und am Nächsten. Das hat unerhörte Auswirkungen auf die Hochschätzung von Beruf und Familie und wirkt eben bis in unser Arbeitsethos, aber auch in die hohe Bedeutung des Ehrenamtes. Ach, man könnte so vieles nennen …
Wir sind hier im Rathaus, und nicht durch Zufall liegen die alte Bürgerkirche St. Cosmae und das Rathaus vis-à-vis. Auch das ist in gewisser Hinsicht eine Folge der Reformation. Beide sind getrennt, aber einander zugeordnet. Fundamental ist dafür Martin Luthers grundlegende Unterscheidung von zwei Regierweisen, durch die Gott die Welt regiert und erhält: Die der Politik und die des Glaubens. Die beiden sind zu unterscheiden. Manchmal hat man das Zwei-Reiche-Lehre genannt, die in der Geschichte auch problematisch interpretiert wurde. Besser ist es, von zwei Regimenten, zwei Regierweisen Gottes in der Welt zu reden. Zitat Luther in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ von 1523: „Deshalb muss man diese beiden Regimente mit Fleiß voneinander scheiden und beides bleiben lassen: eines, das fromm macht, das andere, das äußerlich Frieden schaffe und bösen Werken wehret. Keines ist ohne das andere genug in der Welt.“
Beide Regierweisen Gottes sind nötig: Die der Religion, allgemeiner gesprochen der inneren Orientierung des Menschen, der Werteorientierung. Und die der politischen Gestaltung des Gemeinwesens.
Beide Bereiche sind aufeinander bezogen und brauchen sich. Beide haben eigenständige Aufgaben, die sie in eigener Verantwortung wahrnehmen. Kirche und Religion müssen frei sein vor unmittelbarer staatlicher Einflussnahme. Umgekehrt müssen Staat und Politik frei sein von klerikaler Bevormundung und kirchlicher Besserwisserei.
Aber wir haben im Staat des Grundgesetzes auch keine strikte Scheidung und liegen damit bei allen Umbrüchen auf Luthers Linie: Keines ist ohne das andere genug in der Welt. Die Kirchen brauchen und unterstützen einen Staat und eine Politik, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzt. Der Staat wiederum benötigt Instanzen, die auf die Gewissensbildung der Menschen Einfluss nehmen. Denn – so das berühmte Zitat des Verfassungsrichters Böckenförde: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Hier haben Kirchen und Religionsgemeinschaften eine wichtige Rolle auch im säkularen demokratischen Rechtsstaat. So will es unser Grundgesetz:
Trennung von Kirche und Staat: Ja.
Freiheit des Glaubens und auch die Freiheit, nicht zu glauben: Selbstverständlich.
Aber Atheismus als „Staatsreligion“: Entschieden nein.
Last but not least: Die Entdeckung der Reformation ist die Freiheit eines Christenmenschen. So hieß schon 1520 Luthers bis heute lesenswerteste Programmschrift: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Selber hat er die Freiheit dann existentiell durchbuchstabiert unter harter innerer Anfechtung vor dem Reichstag in Worms 1521, als er seine Thesen nicht widerrufen hat und in Reichsacht kam: Das Urbild innerer Freiheit. Luther hat dann auch der weltlichen Obrigkeit, der Politik, ins Stammbuch geschrieben, niemals auf Glauben und Herzensinhalt der Menschen Zwang ausüben zu dürfen. Denn - so wörtlich - "Gedanken sind zollfrei."
Diese Betonung der Gewissensfreiheit durch Luther ist eine der Grundlagen der Neuzeit und hat unerhört weitreichende Folgen gehabt – für mich der wichtigste Grund, das Reformationsjubiläum gesamtgesellschaftlich und auch im Rathaus zu feiern. Gemeinsam setzen wir uns ein für die Freiheit des Denkens und Glaubens. Gemeinsam stehen wir ein für die Würde und Freiheit eines jeden einzelnen Menschen, die für Christenmenschen eine von Gott geschenkte Freiheit und Würde sind. Das ist eine besonders wichtige Frucht der Reformation – auf die anzustoßen es sich allemal lohnt.
Ich danke Ihnen.