Predigt beim Hospiz-Gottesdienst über 1. Mose 12,1-4a

Insel Neuwerk, 11. Juni 2016

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Ein Tourist macht Station in einem Kloster. Er wird herzlich aufgenommen und freundlich empfangen. Einer der Mönche führt ihn durch das Kloster und zeigt ihm zum Schluss die Mönchszellen. Eine davon soll dem Gast als Schlafquartier dienen. Alle sind sie spartanisch eingerichtet: Ein Bett, ein Stuhl, mehr nicht. Der Tourist solle nun wählen, in welcher Zelle er die Nacht verbringen will. Er betrachtet die Zellen und fragt dann ratlos: „Ja, und wo sind alle Ihre Möbel?“ „Wo sind denn Ihre?“ entgegnet der Mönch. Verwirrt antwortet der Gast: „Ich, ich bin ja nur auf der Durchreise.“ Da lächelt der Mönch und antwortet: „Wir auch.“

Liebe Gemeinde,

wir alle sind auf der Durchreise. Wir alle sind auf der Wanderschaft. Wir kommen auf diese Erde, und wir werden auch wieder von ihr gehen. Das ist jedem von uns sicher. Jeder weiß das – und doch vergessen und verdrängen wir es oft.

Heute haben wir alle uns auf den Weg gemacht mit den Mitarbeitenden der Hospizgruppe Cuxhaven.  In der Hospizarbeit, in der Begleitung von Menschen und ihren Angehörigen auf dem Weg des Sterbens gehört das ja zur Grunderfahrung, ist das eine immer wiederkehrende Meditation: Wir alle sind auf der Durchreise. Und immer wieder höre ich von Mitarbeitenden: Die Grundmediation lässt das eigene Leben sehr viel tiefer und intensiver erfahren, bringt Menschen ganz neu in Kontakt mit den eigenen Gefühlen, den eigenen Fragen, dem eigenen Glauben. Es tut unserm Leben gut, wenn wir das stets bedenken, dass wir auf der Durchreise sind auf dieser Welt.

Heute haben wir uns auf den Weg gemacht, von Cuxhaven nach Neuwerk. Und feiern nun Gottesdienst, indem wir nachdenken über das Aufbrechen, das sich auf den Weg machen. Dazu die vielleicht berühmteste Aufbruchsgeschichte der Bibel. In der Lesung haben wir schon gehört von Abraham als dem Vorbild des Gottvertrauens. Ich lese dazu Gottes Auftrag an Abraham zum Aufbruch, 1. Mose 12:

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm.

Eine der ganz großen Erzählungen der Bibel ist das. Damit hat alles begonnen, die Geschichte des Volkes Israel und auch des Christentums. Da zog Abram aus. Hier geschieht der Aufbruch, hier beginnt eine große Geschichte des Segens, bis zu uns. Abram und seine Frau Sara erhalten einen Auftrag und eine Verheißung. Sie bekommen den Auftrag zum Aufbruch. Alles sollen sie verlassen: Heimat, Familie, Besitz. In unseren mobilen Zeiten klingt das vielleicht nicht so aufregend. Damals stellte das Verlassen von Heimat, Sippenverband und Familie ein Höchstmaß an Gefährdung für Leib und Leben dar. Aber - die beiden bekommen auch eine gewaltige Zusage: Gott will ihnen viele Nachkommen schenken. Ein großes Volk sollen sie werden. Und Gott will sie führen in ein Land, das er ihnen zeigen wird. Der Anfang des Weges in das Land Israel ist das. Alles unter der großartigen Zusage: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“

Was kann einem Menschen überhaupt Größeres zugesagt werden? „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ Was, wenn das für uns auch gelten kann, dass wir uns unter Gottes Segen immer wieder neu auf den Weg machen, also mit seinem Schutz und seiner Kraft, die das Leben gelingen lässt? Das ist ja Segen. Was, wenn diese Kraft auch uns trägt in den verschiedenen Lebenssituationen, die wir im Anspiel erlebt haben? Und was, wenn auch wir von Gott beauftragt sind, selbst Menschen des Segens zu sein, die für andere segensreich und wichtig sind? Was für eine Zusage für unsere Wanderschaft durch die Zeit!

Aber bevor ich das Wort an Abraham zu schnell auf uns beziehe, sind zwei Einschränkungen nötig. Die eine Einschränkung: Man darf Aufbrüche nicht idealisieren, Wanderschaft nicht schön reden. So herrlich heute unsere Wanderung war: Wir haben doch auch alle die ganz anderen Bilder vor Augen, von Menschen die geflohen sind vor Krieg und Verfolgung, vor Armut und miserablen Lebensbedingungen. Aufbruch und Wanderschaft sind für viele mit großer Not verbunden. 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, 95 % davon außerhalb von Europa. Wenn wir heute über Aufbruch und Wanderschaft reden, dürfen wir sie nicht vergessen. Ich bin froh, wie viele Menschen sich für Geflüchtete großartig engagieren. Ich denke, das ist eine konkrete Form, wie diese Zusage Gottes an uns Gestalt gewinnt. „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ Viele von uns sind zurzeit ein Segen für Flüchtlinge. Gott sei Dank.

Die zweite Einschränkung: Abraham ist aufgebrochen auf seine Wanderschaft, er hat mit seiner Frau alles verlassen. Das tun wir nicht. Wir fahren nachher mit dem Schiff zurück, gehen zurück in unsere Häuser, in unsere Familien, wir gehen am Montag an unsere Arbeit. Und das ist auch gut so. Es wäre ganz schwierig, wenn Sie jetzt Job und Familie einfach zurücklassen, und erklären, der Landessuperintendent habe vom Aufbruch gepredigt.

Menschliches Leben braucht Dauer und Verlässlichkeit. Auch und gerade auf der Dauer liegt der Segen Gottes. Wo Menschen in Treue ihre Arbeit tun. Wo jemand zu seiner Familie steht, auch wenn es mal schwer wird. Wo Menschen über lange Zeit ihre alten Angehörigen begleiten oder pflegen – und eben besonders auch, wo sie sie in Treue bis zum Tod begleiten. Treue und Dauer sind hohe Güter für unser Zusammenleben.

Genau das hat das Volk Israel ja erfahren. Als sie die Abrahamsgeschichte aufgeschrieben haben, so wie wir sie heute hören, da sind sie längst sesshaft. Da leben sie längst in dem Land, das Gott ihnen gegeben hat. Und gerade das verstehen sie als Segen. Gerade in der Sesshaftigkeit erleben sie den Segen Gottes, gerade in dem Land, das Gott ihnen gegeben hat.

Aber zu dem kam es eben nur durch den Aufbruch des Abraham. Deshalb wird die Geschichte aufgeschrieben und erzählt: Der Segen, den wir erfahren, der ist zustande gekommen, weil Abraham und Sara aufgebrochen sind. Weil sie Gottes Zusage vertraut haben.

Und so ist in aller Dauer doch immer die Frage: Wo brauchen wir Aufbruch? Wo ist es Zeit, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu wagen? Wo hat sich jemand festgefahren und braucht Mut zum Neuaufbruch? Jeder und jede mag sich das fragen: Wo wäre ein Neuaufbruch gut oder sogar nötig. Vielleicht kannst Du heute Gottes Anrede hören: Geh! Geh in ein Land, das ich dir zeigen will.

Wo brauchen wir Neuaufbrüche auch in unserer Kirche? Wo sind wir zu sehr festgefahren in alten Pfaden? Vor drei Wochen haben wir einen Tag zur Zukunft der Kirche im Sprengel veranstaltet, zusammen mit der katholischen Kirche. Wir haben das an einem ungewohnten Ort gemacht, auf dem Gelände einer großen Holzbaufirma bei Rotenburg. Da hatten wir Vorträge und Workshops zu der Frage, was wir in der Werkstatt Kirche neu machen können und müssen. Wie können wir neue Angebote machen, die Menschen ansprechen? Da hat viel frischer Wind geweht. Und viele haben gesagt: Es war gut, dass wir aufgebrochen sind, nicht im Gemeindehaus, sondern in einem Betrieb. Da bekommt man gleich ganz neue Perspektiven. Aufbrechen. Darüber steht die Zusage Gottes: Ich will dich segnen.

Wir alle sind auf der Durchreise. Heute sind wir aufgebrochen nach Neuwerk, um die Hospizgruppe Cuxhaven zu unterstützen. In der Hospizarbeit, ich komme darauf noch einmal zurück, machen Menschen sich ja auf einen herausfordernden Weg. Sie absolvieren eine anspruchsvolle Ausbildung, die sehr ans Innere und Persönliche geht, sie befassen sich mit existentiellen Fragen. Und sie begleiten dann Menschen auf ihrem letzten Wegabschnitt, Menschen, die aufbrechen aus dieser Welt auf den Weg in die Ewigkeit. Ich möchte allen danken, die sich in der Hospizarbeit engagieren, den Ehrenamtlichen, denen, die die Arbeit leiten und koordinieren, allen, die sie unterstützen.

Sie haben sich auf den Weg gemacht und tun es immer wieder neu. Und ich bin sicher: Sie sind ein Segen für andere. Ich wünsche Ihnen, dass sie diesen Weg immer wieder als einen Segen für sich erleben, so dass diese Zusage immer wieder neu wahr wird: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“

Segen, darin ist zusammengefasst, was die Bibel als Gottes Lebenskraft beschreibt, die uns im Leben und auch im Sterben trägt. „Der Segen ist der Ort höchster Passivität“, sagt Fulbert Steffensky. „Die Schönheit, die Kraft, die Lebensstärke und die Ganzheit garantieren wir uns nicht selbst. Es leuchtet ein anderes Antlitz über uns als das eigene. Es ist ein anderer Friede da als der mit Waffen erkämpfte und eroberte. Der Ausgang und der Eingang sind nicht von den eigenen Truppen bewacht, sie sind von Gott behütet… Der Segen ist die dichteste und dramatischste Stelle des Glaubens. Dort wird nämlich inszeniert, was Gnade ist: nicht erringen müssen, wovon man wirklich lebt; sich nicht bannen lassen durch die eigenen Zweifel und durch die Zersplitterung des eigenen Lebens. Der Gesegnete muss nicht nur er selber sein. Er stürzt in den Abgrund des Schoßes Gottes.“

Wir alle sind auf der Durchreise.
Wer aufbricht, mag es unter Gottes Zusage tun.
Wer auf dem Weg ist, möge immer wieder Spuren des Segens Gottes auf dem eigenen Lebensweg entdecken.
Wer unterwegs auf schwierige Wegstrecken gerät, möge auf Gottes Zusage vertrauen, dass Gott sein Mitgehen und seinen Segen zugesagt hat, auch wo wir ihn nicht spüren. Dafür steht Jesus Christus: Gott ist an unserer Seite, auch wo wir ihn nicht sehen auf dem Weg.
Auf ihn, den Auferstandenen, hoffen wir als Christen auch an unserem letzten Aufbruch, auch auf unserer letzten Wanderschaft aus dieser Zeit in Gottes Ewigkeit.

Wir alle gehen in eine Zukunft, die wir nicht kennen. Aber wir gehen unter Gottes Segen. Das Land ist unbekannt, in das jeder von uns geht. Aber es ist das Land, das Gott uns zeigen will.

So drückt es auch ein Gedicht von Klaus-Peter Hertzsch aus, dem blinden Pastor und Theologieprofessor und Dicher, der selbst vor wenige Monaten gestorben ist.

»Die neuen Tage öffnen ihre Türen.
Sie können, was die alten nicht gekonnt:
Vor uns die Wege, die ins Weite führen.
Den ersten Schritt, ins Land, zum Horizont:
Wir wissen nicht, ob wir ans Ziel gelangen.
Doch gehn wir los, doch reiht sich Schritt an Schritt.
Und wir verstehn zuletzt, das Ziel ist mitgegangen,
denn, der den Weg beschließt und der ihn angefangen,
der Herr der Zeit, geht alle Tage mit.»

Amen.