Predigt am Heiligabend 2021 in der Stader St. Wilhadi-Kirche

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Predigt Heiligabend 2021, 18.00 h, St. Wilhadi Stade

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Ich finde die Geschichte immer wieder faszinierend, liebe Gemeinde. Es ist der 24. Dezember 1914. Der erste Winter des Ersten Weltkrieges. Am Anfang waren die Deutschen rasch vorangekommen, jetzt aber liegen sich Deutsche, Engländer und Franzosen in Schützengräben gegenüber, teilweise nur wenige Meter voneinander entfernt. Ein fürchterlicher, zermürbender Stellungskrieg hat begonnen. Viele haben die Soldaten schon neben sich sterben sehen bei dem Versuch, ein paar Meter einzunehmen. Millionen wird er noch das Leben kosten

Und dann ist es der Heilige Abend dieses Jahres 1914. Ein deutscher Soldat ruft: „Kameraden, nicht schießen“. Irgendjemand stimmt an und sie singen „Stille Nacht“ und „O Tannenbaum“. Die Englänger antworten mit Liedern, auch dort schießt niemand. Die ersten trauen sich aus dem Graben heraus. Die deutsche Heeresleitung hatte zehntausende Mini-Weihnachts­bäume an die Front geschickt, die werden jetzt vor den Schützengräben aufgestellt und verbreiten auf beiden Seiten eine ganz besondere Atmosphäre. Soldaten, die eben noch aufeinander geschossen hatten, tauschen jetzt kleine Geschenke, die von zuhause gekommen sind. An mehreren Stellen wird Fußball gespielt.

Dieses Weihnachtswunder hat so oder so ähnlich an etlichen Stellen stattgefunden und ist vielfältig bezeugt. Natürlich soll man die Sache nicht idealisieren. Hinterher gingen das Schießen und Töten fürchterlich weiter, noch mehr als drei Jahre lang.

Trotzdem ist es eine anrührende und eine weihnachtliche Geschichte. Sie macht besonders zugespitzt deutlich, wofür Weihnachten steht: Es unterbricht den Gang der Dinge, den Gang von Hass und Feindschaft und Gewalt. Es ist die große Zäsur.

Weihnachten ist eine große Unterbrechung, so wie jedes Fest den Alltag unterbricht. Und eine solche Unterbrechung tut uns gut. Nach beinahe zwei Jahren Pandemie sind viele sehr erschöpft. „Ich will das nicht mehr“, höre ich oft. Die existentiellen Sorgen, die Angst vor der Zukunft, die Folgen der Krankheit und der Isolation tun vielen Menschen nicht gut.

Dazu die Probleme, die ja auch zu Weihnachten nicht aufhören, so wenig wie der Krieg aufhörte: die dramatischen Herausforderungen des Klimawandels, die Geflüchteten auf dem Mittelmeer, die russischen Soldaten vor der Ukraine. Und die ganz privaten Sorgen und Aufgaben, durch die Weihnachtszeit bei vielen noch mal vermehrt. Immer schneller, immer mehr Informationen in immer kürzerer Zeit, immer drängendere Veränderung.  Wir drehen uns immer mehr im Kreis, so empfinden es viele. Und ihnen wird schwindelig dabei.

Und da hinein kommt Weihnachten. Wie jedes Jahr, alle Jahre wieder. Weihnachten soll möglichst sein wie immer. Dieselben Abläufe, das gewohnte Essen, die vertrauten Texte und Lieder. Der Aura von Weihnachten kann sich kaum jemand entziehen, ganz gleich, wie man innerlich zu den Fragen des Glaubens steht. Weihnachten – das ist für viele ein Tabu in einer Zeit, die kaum noch Tabubrüche kennt. Es ist wie eine Oase. Das lässt Zeit zum Durchatmen, und ich wünsche Ihnen, dass Sie die finden. Wer sich in Gedanken einen Moment an der Krippe niederlassen kann, spürt einen ganz anderen Frieden inmitten von viel Hektik und Unfrieden.

Weihnachten ist eine große Unterbrechung. Das war schon das erste Weihnachten so. Es begab sich aber zu der Zeit – das unterbrach den Gang der Weltgeschichte ganz gewaltig. So sehr, dass wir seither die Zeit anders zählen. Wir zählen vor und nach Christi Geburt. Von wegen: Immer dasselbe. Alles wird durch Weihnachten auf null gestellt. Wir sind am Ende des Jahres 2021 nach Christi Geburt.

Gott selbst hat den Gang der Zeit unterbrochen. Da wird ein Kind geboren, das anders ist als alle Kinder und das wir bis heute feiern. Da leuchtet ein Stern, der anders ist als alle Sterne und Menschen zu diesem Kind hinführt. Da kommen Engel, die den überforderten Menschen erklären, was geschehen ist. „Ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren“. Und vor allem rufen die Engel den verschreckten Menschen zu: Fürchtet euch nicht. Das ist die größte Unterbrechung überhaupt, dieses „Fürchtet euch nicht“ gerade auch im Pandemiejahr 2021 mit allen Ungewissheiten vor der Zukunft.

Ein kluger Journalist (Heribert Prantl) hat jüngst gesagt: „Dafür ist Kirche da: Den Himmel offen halten und dem Menschen helfen, die Angst zu überwinden; dem Schüler, der in der Schule gemobbt wird; dem Kranken, der das Sterben fürchtet; dem Flüchtling, der die Abschiebung im Genick spürt.“  Wir haben als Kirche die Aufgabe und das Vorrecht, der Angst entgegen zu treten und genau dadurch Mut zum Handeln und zur Veränderung zu machen. Es geht darum, dass „»allem Volk«, wie es in der Bibel heißt, verkündigt wird »Fürchte dich nicht«.“

Weihnachten – die große Unterbrechung der Zeit. Seither ist die Zeit anders. Im Griechischen gibt es zwei Worte für Zeit. Chronos – die Zeit, wie wir sie kennen, die unaufhaltsam dahinfließt. Sekunden – Minuten – Tage – Jahre. So entsteht die Chronik unseres Lebens, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Und dann gibt es Kairos. Das ist der besondere Zeitpunkt. Der erfüllte Moment. Der Augenblick, in dem die Zeit einen Moment stehen bleibt. Der berühmte erste Blick zwischen zwei Menschen, aus dem eine große Liebe wird. Der Moment, in dem man ein Kind zum ersten Mal auf dem Arm hält. Manchmal ganz unscheinbar, solche Momente erfüllter Zeit. Glückhafte Unterbrechung der Zeit.

Als aber die Zeit erfüllt war, so schreibt der Apostel Paulus, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau (Gal 4,4). Die Geschichte von Weihnachten ist die Unterbrechung schlechthin. Der erfüllte Moment überhaupt. Seither ist die Zeit eine andere.

Wenn wir immer nur hören, was wir schon kennen, werden wir müde oder zynisch. Wenn wir uns immer nur selber wiederholen, werden wir albern. Erst wenn wir uns dazwischenreden lassen, werden wir vielleicht endlich einmal still (Christina Brudereck). Weihnachten ist das große, liebevolle Dazwischenreden Gottes.

Der Philosoph Walter Benjamin hat gesagt: „Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“ Das Immer-so-weiter ist das Schlimme. Wie ermüdend das ist, merken wir nicht zuletzt in Corona Zeiten. Walter Benjamin sagt weiter den bemerkenswerten Satz: „Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung.“ Zu Weihnachten feiern wir ein kleines Kind, von dem die Engel singen, es sei der Retter. Der „kleine Sprung“ in der Geburt eines Kindes – eine Unterbrechung unseres Alltags durch Gottes große Liebe zu seinen Menschen. Durch diese Unterbrechung ist die Nacht nicht endlos. Gott kommt uns nahe.

„Unterbrechung“ – das ist die kürzeste Definition von Religion. Weihnachten ist die heilige Unterbrechung schlechthin. Es geht für Gott nicht einfach so weiter wie bisher. Und für uns Menschen auch nicht. Wir müssen nicht mehr immer nur die gleichen Nachrichten hören von Pandemie und Einschränkungen, von Terror und Gewalt. Zu Weihnachten unterbricht der Engel die stets gleichen Nachrichten: Fürchtet euch nicht. Und: Friede auf Erden. Diese Worte unterbrechen, bringen einen göttlichen Einspruch gegen alle Kriege und alles Polemisieren und Rechtbehalten. Die heilsame Unterbrechung zu Weihnachten birgt die Chance, in Gottes Geschichte der Liebe zu uns zur Ruhe zu kommen.

Weihnachten ist eine heilige Unterbrechung. Mal etwas Anderes denken. Etwas Anderes essen und etwas Anderes anziehen. Etwas Anderes erzählen. Sich anders benehmen, anders gucken, auf die Kinder, die Familie, auf das eigene Wohnzimmer, auf die Welt. Und nochmal anders denken von Gott. Gott ist Überraschung. Gott kommt überraschend – in einem Kind.

Durch diese Unterbrechung ist nicht alles anders. So wie das Weihnachtswunder 1914 den Krieg nicht beendete. Der Lauf der Zeit, des Chronos, geht weiter. Die Pandemie wird uns noch eine Weile zusetzen und Körper und Seelen belasten. Weiter wird es Krankheiten und Katastrophen geben. Aber es gilt nun die Zusage: Ihr seid in all dem nicht allein. Gott ist an Eurer Seite. Wo auch immer Du Dich ganz klein und niedrig fühlst: Genau da ist Gott. Dafür steht die Krippe, die auch schon hinweist aufs Kreuz.

Und damit ist Weihnachten eine Ermutigung zur Liebe. Eine Ermutigung zum Respekt. Eine Ermutigung dazu, dass nicht alles bleiben muss, wie es ist, sondern dass Liebe und Verständnis und Vergebung möglich sind. Wer sich von Weihnachten unterbrechen lässt, wird anders umgehen mit den Mitmenschen.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Seither ist die Zeit eine andere. Durch Gottes große Unterbrechung, weil er als ein Kind zur Welt kam. Für uns die Chance, zur Ruhe zu kommen, still zu werden, zu beten in dieser Heiligen Nacht und menschlich zu werden vor Gott. Und miteinander einzustehen für eine menschlichere Welt. Die Unterbrechung von Weihnachten ist das große Fest der Menschlichkeit. Als die Zeit erfüllt war, wurde Gott Mensch. Er hat damit das Menschsein geadelt. Und uns ermutigt zur Menschlichkeit.

Ich schließe dazu mit Worten von Eberhard Jüngel, einem großen evangelischen Theologen, der in diesem Jahr gestorben ist.

Der christliche Glaube verlässt sich darauf,
dass Gott Mensch geworden ist und bleibt,
damit der Mensch menschlich sein kann
und immer menschlicher werden kann.

Das Wesen des christlichen Glaubens ist
die rechte Unterscheidung zwischen Gott und Mensch,
nämlich zwischen einem menschlichen Gott
und einem immer menschlicher werdenden Menschen.

Das Wesen des christlichen Glaubens ist die Freude an Gott
und deshalb die Sorge für eine menschlichere Welt. 

Soweit Eberhard Jüngel. Freude an Gott und Sorge für eine menschlichere Welt. Dazu stiftet uns Gottes heilige Unterbrechung an. Ich wünsche Ihnen und Euch gesegnete Weihnachten!

Amen