Klausur der Kirchenkreiskonferenz des Kirchenkreises Stade

Predigt über Apg 10, 21-35, Bad Bederkesa 20. Januar 2014

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,
Grenzüberschreitung ist angesagt. Grenzüberschreitung ist das Thema des Predigttextes für den kommenden Sonntag. Die Geschichte vom Hauptmann Cornelius, Apg. 10, wir haben Sie gehört.

In der neueren Homiletik aus den USA, bei uns bekannt durch Martin Nicol und Alexander Deeg, wird ja empfohlen, wie in einem Film zu predigen, mit einer klaren Linie, aber wechselnden Szenen, structure and move.

Für Apg 10 müsste man das beinahe nicht sagen. Lukas muss eine Fortbildung in dramaturgischer Homiletik gemacht haben. Er erzählt unglaublich kunstvoll. Die Predigtstudien empfehlen, die Predigt anzulegen wie einen Film von Luis Buñuel1. Na ja... Ich versuche es mal schlichter.

Szene 1: Dschungelcamp. Tausendfüßler, Maden, Spinnen, Ratten. „Allerlei vielfüßige und kriechende Tiere der Erde“, so wörtlich. Eklig. Und für den Juden auch noch unrein. Aber eine himmlische Stimme sagt: „Schlachte und iss“. Widerlich. So etwas isst man nicht. Außer im Dschungelcamp.

Schnitt: Drei Männer auf der Wanderung. Hitze. Staub. Eingeblendet der Ortsname. „Joppe“. Die Männer müssen sich durchfragen. Sie sprechen einen Passanten an: „Wo wohnt Simon, der Gerber?“ – „Der wohnt dahinten in dem Haus, direkt am Meer.“

Die Kamera schwenkt hinüber auf das Haus vor dem blauen Mittelmeer – wunderschöne Bilder fürs Kino. Vom Dach kommt ihnen ein Mann entgegen. Petrus. Der ist beim Gerber Simon zu Besuch. „Sei gegrüßt“, sprechen sie ihn an. „Wir suchen Simon mit Beinamen Petrus. Der soll hier zu Gast sein. Kannst Du uns sagen, wo der ist?“ - „Ich bin das“, ist die Antwort. „Was wollt ihr von mir?“ „Das trifft sich gut“, entgegnet der älteste der drei Männer. „Unser Chef schickt uns zu dir. Wir kommen aus Cäsarea die Küste herab im Auftrag von Cornelius, dem Hauptmann der römischen Legion dort. Er ist Römer, kein Jude, aber ein frommer und gottesfürchtiger Mann, er hält sich auf seine Weise an den Gott der Juden und betet zu ihm. Er unterstützt die Gemeinde auch in ihren diakonischen Aufgaben. Deshalb hat er auch einen guten Draht zur jüdischen Gemeinde. Cornelius – ja, das können wir jetzt auch nur so sagen, wie er uns das gesagt hat, also, unser Hauptmann hat eine Vision gehabt. Ein Engel. Der hat ihm aufgetragen: ‚Schick Leute nach Joppe und lass den Simon Petrus in dein Haus holen.‘ Da hat er uns losgeschickt. Und jetzt treffen wir dich genau da, wo er uns hingeschickt hat.“

Die Kamera schwenkt von dem Gespräch der Männer wieder aufs Meer. Die Sonne geht unter, wunderschön rot. Sie werden ins Haus gebeten und bleiben über Nacht. Am nächsten Morgen machen sie sich auf den Weg, die drei Boten des Cornelius mit Petrus, dazu noch ein paar Männer aus Joppe.

Dann kommen sie in Cäsarea an – hier übrigens setzt die Predigtperikope ein. Ein respektables Haus. Cornelius, der gottesfürchtige Hauptmann, kommt ihnen schon entgegen. Er läuft auf Petrus zu – und fällt vor ihm mit größter Ehrerbietung auf die Knie, betet ihn geradezu an.

„Lass das“, sagt Petrus, vielleicht eine Spur zu ruppig, wie es seine Art ist. Er zieht den Cornelius hoch. „Ich bin auch nur ein Mensch. Ich bin ein Zeuge, kein Gott. Wahrlich nicht.“ Cornelius steht wieder, sie gehen gemeinsam ins Haus. Das ist schon ganz voll. Cornelius hat etliche Verwandte und Freunde zusammengetrommelt. Ein mittelgroßer Konvent ist da versammelt. Cornelius begrüßt den Gast. Etwas zu trinken wird gebracht. Und dann erzählt Cornelius noch einmal, wie das war mit dem Engel: „Ich sah ihn deutlich. Es war mittags um drei. Plötzlich stand er da und sprach mich an. ‚Cornelius‘. Ich erschrak natürlich fürchterlich. ‚Herr, was ist?‘ ‚Cornelius, so lässt Gott dir sagen: Deine Gebete und Almosen – sie sind vor Gott gekommen, er hat ein Auge auf dich. Darum schick Leute nach Joppe und lass den Simon Petrus hierher holen.‘ Das habe ich dann genau so gemacht. Nun seid ihr hier. Ich freue mich. Und vor allem bin ich jetzt gespannt, was Du zu sagen hast.“

Nun war Petrus dran. „Jetzt verstehe ich“, beginnt er. „Jetzt wird mir einiges klar.“ Petrus schaut einen Moment sehr nach innen gekehrt, er erinnert sich.

Rückblende. Die ekligen Tiere. Man sieht jetzt, dass die Viecher auf einem großen weißen Tischtuch sitzen, das an den vier Ecken aus dem Himmel herab gehalten wird. Petrus war in der Mittagszeit zum Beten auf das Dach des Hauses in Joppe gestiegen. Dann aber hatte er Hunger und wartet aufs Mittagessen.

Die Kamera schwenkt in die Küche. Und dann wieder auf die Ekeltiere auf dem Tischtuch. Petrus war in Trance, hatte diese Vision und hörte die Stimme: „Petrus, schlachte und iss“. „Nein, Herr“, hatte er entgegnet. „Ich habe noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen“. Aber die Szene wiederholt sich insgesamt dreimal. Und die Stimme sagte: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht unrein“. Was hatte das zu bedeuten? - Und dann kamen schon die drei Fremden, um ihn zu holen.
Und nun steht er hier im Haus des Hauptmanns vor dieser Hauskreisgemeinde. „Jetzt wird mir einiges klar“, sagt er. „Normalerweise dürfte ich ja gar nicht hier sein, das wisst ihr. (Interessant, dass Petrus seine „Milieuunsicherheit“ nicht überspielt, sondern offen zum Thema macht). Als Jude darf ich nicht bei Euch sein. Aber Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll. Deshalb habe ich mich nicht verweigert, als ich geholt wurde. „Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“

So endet der Predigttext, liebe Schwestern und Brüder, der nur zu verstehen ist im Kontext des ganzen Kapitels. Es schließt sich dann eine Christuspredigt des Petrus an und am Ende ein spontanes Tauffest.

Wie gesagt: Das Material ist komplett von Lukas. Sagenhaft, wie er das erzählt. Es geht um eine ganz große Grenzüberschreitung, um eine fundamentale Weichenstellung. Ein kleiner Schritt für den Menschen Petrus, ein großer Schritt für die Menschheit: Die Wende zur Heidenmission, der Schritt über die Grenze des Judentums hinaus nach Europa, zu uns, zu allen Völkern.

In Kapitel 9 haben wir die Bekehrung des Juden Saulus zum Paulus gehört, des Heidenmissionars. Und nun in Kap. 10 die erste Taufe von Nichtjuden, von Nichtbeschnittenen, das muss Petrus selbst machen, der Fels. Noch sind es Gottesfürchtige, also dem Judentum Assoziierte, im nächsten Kapitel hören wir von der ersten rein heidenchristlichen Gemeinde in Antiochia. Die Apg. ist eine Geschichte von immer neuen Schritten über Grenzen hinweg aufgrund der einen großen Grenzüberschreitung Gottes zu uns Menschen.

Unsere Geschichte beschreibt die entscheidende Weichenstellung. Sie ist so wichtig, dass der Regisseur Lukas noch zweimal zurückblendet. In Kapitel 11 und 15 wird Petrus von den judenchristlichen Gemeinden nämlich kritisiert: wie konntest Du Dich mit Heiden einlassen? Und dann erzählt er von seiner Vision, in der Gott ihn zum Grenzüberschritt ermutigt hat.

Grenzüberschreitung: Alle Völker - Ohne Ansehen der Person. Gottes Leidenschaft für seine Menschen will eine Kirche ohne Grenzen der Herkunft, des Geschlechts, der Hautfarbe, der Klasse usw. Grenzüberschreitung - wo ist das für uns dran? Was krabbelt und kriecht auf dem weißen Tischtuch, dass uns Gott vor Augen stellen könnte?

Schnitt. Ein Grenzposten kommt zu Wort. Ihr Kirchenleute, sagt er, ihr redet gern von Grenzüberschreitung, vom Brückenbauen. Das klingt alles richtig, da wird keiner etwas dagegen sagen. Aber habt ihr mal überlegt, dass Leben ohne Grenzen gar nicht möglich ist. Ihr Leute zwischen den Deichen müsst das doch wissen. Wehe, wenn die Elbe sich einen Grenzübertritt ausdenkt. Ohne Grenze kein Leben. Sie ist geradezu ein Schöpfungsprinzip: So betet Psalm 104: Du hast eine Grenze gesetzt, darüber kommen die Fluten nicht und dürfen nicht wieder das Erdreich bedecken. Wo diese Grenze fällt ist kein Leben mehr möglich.

Und: Ohne eine Grenze zwischen mir und dir ist keine Individualität möglich. Die Identität und Integrität einer Person oder einer Gruppe erfordert Grenzen, die zu respektieren sind. In unseren Berufen wissen wir allemal: Grenzverletzungen sind höchst sensibel. Und um die Mühe und die Notwendigkeit, Grenzen des Dienstes zu markieren und einzuhalten, wissen wir auch. Ohne eine Grenze ist auch christliche Kirche nicht möglich. Von der Gnosis in der Antike bis zur Ideologie der Deutschen Christen in der Nazizeit. Die Kirche musste in ihrer Geschichte immer auch Grenzen markieren. Grenzen sind eine gute Gabe des Schöpfers gegen Urfluten von Ideologie oder Überforderung, gegen Wellen von Säkularismus oder Esoterikboom. Und doch gehört dazu immer auch das Ringen um die nötige Offenheit, in der Hoffnung, dass dieses Ringen geleitet durch den Geist Gottes ist: Was ist noch möglich – und was nicht? Ohne Grenze kein Leben.

Aber nur mit Grenzen keine Weiterentwicklung. Und genau darum geht es: Gottes Geist bringt und hält sein Volk in Bewegung. Petrus muss lernen: Der Glaube bleibt nur identisch, wenn er sich entwickelt. Der diskrete Charme der Kirchenreform. Wo ich mich ekle, vielleicht auch mit guten theologischen Gründen, da lässt der Geist zu Neuem aufbrechen. Ich höre das nicht als Forderung, sondern als große Ermutigung. Gottes Geist traut uns Erneuerung zu und schafft sie selbst. Jedem und jeder von uns, und unserer alten Mutter Kirche auch.
Grenzüberschreitung.

Wo ist das für uns dran? Am ehesten viel-leicht bei dem, was wir als Milieuverengung in unserer Kirche bedenken. Bischof Huber hat 2009 von der mentalen Gefangenschaft im eigenen Milieu gesprochen: Als Kirche gelingt uns der Zugang zu bestimmten Milieus und Lebensstilen nicht zureichend. Zu überlasteten Müttern fällt uns der Zugang ebenso schwer wie zu verbitterten Hartz IV-Empfängern. Die Opfer der Globalisierung zu erreichen, ist genauso schwer, wie ihre Akteure (also die Manager) zu beeinflussen. Die Befreiung aus der Milieugefangenschaft ist für die Reform unserer Kirche zentral.2

Ist das so? Setzen wir uns manchmal ganz gern zu Tisch in unseren bürgerlichen Gemeinden, ohne die Cornelius und Cornelias an der Seite mit zu bedenken? Wo müsste ich meine Ekelschranken überschreiten? Wenn es so etwas wie eine mentale Gefangenschaft gibt – dann ist es eine gute Botschaft, dass Gottes Geist daraus befreien will und kann.

Gott jedenfalls will eine bunte Kirche, mit unterschiedlichen Gemeinden und unterschiedlichen Menschen. Das Evangelium von Christus atmet Freiheit, Weite, Unendlichkeit.

Wenn Sie in diesen Tagen die Diakonie bedenken, dann geht es auch da um Grenzüberschreitungen. Etwa in die erschreckend großen Milieus in Bremerhaven, in denen man seit Generationen von Sozialhilfe und Harz IV lebt, in denen die Kita-Eltern trotz bester Bemühungen zu keinem Elternabend kommen. Wie überschreiten wir unsere Grenzen in solche Bereiche? Übrigens: Gerade dieses diakonische Grenzüberschreiten hat von Anfang an die Kirche auch missionarisch einladend gemacht. Die Sorge für die Armen, die Witwen, die Verstorbenen – das war und ist seit Beginn der Kirche und bis heute attraktiv.

Grenzüberschreitung, das heißt auch, ein Land zu verlassen. Also nicht immer mehr, immer noch etwas zusätzlich. Wer sich von Gottes Geist in Neues leiten lässt, der muss auch Altes lassen. Keiner muss alles machen. Auch in der Apg. machen Petrus und Paulus das dann schön arbeitsteilig, Judenmission und Heidenmission. Niemand muss und kann Spezialist für Seniorenkreise und Jugendgottesdienste, für KV-Vorsitz und innovative Kulturprojekte zugleich sein.

Gottes Geist überfordert nicht. Aber er will begeistern, in Bewegung setzen, Grenzen zu hinterfragen und zu überschreiten. Und dazu selbst die Kraft verleihen. Das schenke uns Gott.
Amen.

1. Meine Predigt folgt der Anregung von Dirk von Jutrczenka, Predigtstudien 2013/14, Bd. VI/1, Freiburg 2013, 136-140.
2. Wolfgang Huber, „Du stellst unsere Füße auf weiten Raum“ - Positionen und Perspektiven einer Kirche im Aufbruch. Rede zur Eröffnung der Zukunftswerkstatt der EKD, Kassel 24. September 2009