Predigt beim Torfkahngottesdienst an der Hamme, Neu Helgoland, 3. Juli 2022

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Torfkähne bilden ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts die einzigen Verkehrsmittel im Teufelsmoor. Unterwegs auf den vielen kleinen Wasserstraßen prägen sie mit ihren schwarzen Eichenholzbooten und den braunen Segeln das Landschaftsbild. Die Torfbauern staken, treideln und segeln mit ihrer Fracht oft mehrere Tage bis nach Bremen.

Sie sehen, liebe Gemeinde, ich habe mich vorbereitet. Und ich gestehe es: Ich bin zum ersten Mal im Leben auf einen Torfkahn – und das mit großer Freude. Vergleichbares habe ich nur in der Studentenstadt Tübingen erlebt, dort fährt man Stocherkahn. Das habe ich als Student einige Male gemacht. Und ich bin, wie ich mit Schrecken erinnere, einmal der Länge nach ins Wasser gefallen. Ich hoffe zuversichtlich, dass mir das heute nicht passiert.

Was ich nicht weiß: Was passiert in einem solchen Torfkahn, wenn Sturm kommt? Unsere Schiffer sind bestimmt einiges gewohnt – aber richtig lustig stelle ich mir das nicht vor. Wie gesagt, ich habe da schlechte Erfahrungen.

Was passiert, wenn Sturm kommt? Damit sind wir mitten im Thema. Wir waren es doch gewohnt, in unserem Land mit dem Kahn unseres Lebens relativ ruhig dahinzugleiten. Frieden, Sicherheit, ein gewisses Maß an Wohlstand – das schien selbstverständlich. Wer nicht älter als 70 ist, hat gesellschaftlich kaum anderes bei uns erlebt.

Ja, schon der Klimawandel hätte uns schon längst zeigen müssen, dass wir nicht so ruhig und idyllisch durchs Leben gleiten können, wie wir es gewohnt waren. Und schon lange haben wir im Wesentlichen verdrängt, dass Menschen in Schiffen, die diesem hier ganz ähnlich sind, regelmäßig auf dem Mittelmeer in Not geraten und ertrinken.

Aber jetzt, im Sommer 2022 sehen wir uns Stürmen entgegengestellt, wie wir sie kaum für möglich gehalten haben.

Mir fiel sofort eine biblische Geschichte ein. Ich gebe zu, originell ist die Idee nicht. Aber angesichts der stürmischen Zeitläufte scheint sie mir passend.

Und es begab sich an einem der Tage, dass er in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns ans andere Ufer des Sees fahren. Und sie stießen vom Land ab. Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr. Da traten sie zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Meister, Meister, wir kommen um! Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es ward eine Stille. Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Sie fürchteten sich aber und verwunderten sich und sprachen untereinander: Wer ist dieser, dass er auch dem Wind und dem Wasser gebietet und sie sind ihm gehorsam? Und sie fuhren weiter. Lukas 8, 22 -26

Drei Motive möchte ich besonders herausgreifen aus dieser Geschichte von Jesus:

1. Meister, wir kommen um: Nüchternheit
2. Er bedrohte den Wind: Gottvertrauen
3. Und sie fuhren weiter: Weiter Himmel – Zukunft gestalten

Die Geschichte beginnt als ganz alltägliche Szene. Jesus fährt mit der Gruppe seiner Getreuen über den See. Eine Alltagsfahrt, schon hundert Mal gemacht, an die andere Seite des Sees Genezareth. Ich bin vor drei Jahren auf einer großen Fahrradtour mit dem Rad um den See herumgefahren. Im Alltag ist es da schön und idyllisch, so wie heute bei uns.

Aber es kommt Sturm. Der See Genezareth ist um einiges breiter als die Hamme, hohe Wellen schlagen ins Boot. Es wird richtig gefährlich. Aber: Jesus schläft. Er ist müde. Aber er hat offenbar auch keine Angst. Das unterscheidet ihn von den anderen, die bekommen es mit der Angst zu tun, und das ist ja auch nachvollziehbar. Sie wecken Jesus: „Meister, wir kommen um“. Sie nennen die Gefahr nüchtern beim Namen.

Das ist mein erster Punkt. Nüchternheit. Es hilft nichts, darauf zu sehen, dass man doch hundert Mal problemlos über den See gekommen ist. Die Lage jetzt ist ernst und gefährlich. Sturm ist Sturm. Und leider müssen wir es nüchtern sehen: Pandemie ist Pandemie – und sie ist längst noch nicht vorbei. Und furchtbarerweise auch: Krieg ist Krieg. Mit all seinen schrecklichen Folgen. Vor allem natürlich für die Menschen in der Ukraine, die den Krieg aushalten und denen, die geflohen sind – inzwischen mit Abstand die größte Flüchtlingsgruppe auf der Welt. Gemessen an dem Sturm, der über sie hereingebrochen ist, ist das bei uns bisher nur ein kräftiger Wind. Aber natürlich: die Sicherheitsarchitektur, an die wir uns in Europa gewöhnt hatten, ist kaputt. Wir erleben drastische Preissteigerungen, die auch erstmal bleiben. Niemand kennt die Zukunft – aber es zeichnet sich deutlich ab: Den ziemlich ruhigen See, den wir lange gewohnt waren, bekommen wir nicht wieder. Das wird für uns alle noch gewaltig unbequem und vermutlich auch mehr. So etwas verdrängen Menschen gern. Aber das führt zu nichts. Es nüchtern anzunehmen und auszusprechen, das ist der erste Schritt.

Nur am Rande erwähne ich: Für uns in der Kirche gilt das genauso. Auch die großen Kirchen machen gerade ziemliche Stürme durch – ich denke nur an die negative Entwicklung der Mitgliederzahlen: Auch wir bekommen den ruhigen See nicht zurück, unsere Kirche wird sich grundlegend ändern. Auch da ist Nüchternheit gefragt.

Zurück zur Geschichte. Die Jünger wecken in ihrer Angst in dem Sturm Jesus auf. Und Jesus bedroht die Wellen. Der Sturm legt sich. Jesus macht ihm ein Ende. Es entsteht eine große Stille.

Diese Geschichte wurde erzählt, um zu zeigen, welche Macht Jesus hat: In ihm, in Jesus ist Gott auf der Erde. Er hat Macht über den Sturm, Macht über die kosmischen Mächte. Jesus hat Macht über alle zerstörerischen Kräfte, alles, was das Leben beschädigen will. Die Jünger sind nicht allein auf dem Boot.

So möchte ich es auch für mich glauben und uns zusprechen. Wir sind nicht allein auf dem Boot. Wir sind nicht allein im Sturm. Zur Nüchternheit gehört für mich daher als zweites ein großes Gottvertrauen. Wir sind nicht allein, da ist einer, der Macht hat an unserer Seite. Selbst wenn das oft nicht unmittelbar zu spüren ist, wenn die Stürme nicht gleich verschwinden. Wir sind nicht allein in all dem, was da noch auf uns zukommt.

Leicht zu verstehen ist das nicht. Aber es weckt doch eine tiefe Hoffnung. Vielleicht so, wie Hölderlin es formuliert hat: "Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch."

Oder wie es von dem Theologen Karl Barth erzählt wird, dem größten Theologen des letzten Jahrhunderts. Kurz vor seinem Tod führte er ein letztes Telefongespräch mit einem alten Freund. Sie sprechen über die auch damals sehr angespannte Weltlage, 1968 war das. Sie machen sich große Sorgen. Und dann sagt Karl Barth Worte, die berühmt geworden sind und die erstaunlich aktuell sind: „Ja, die Welt ist dunkel. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, aber ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! …Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!"

Wie schwierig die Lage auch sein mag und noch werden wird. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente.

In diesem Gottvertrauen lässt sich gut an die Herausforderungen gehen, vor denen wir stehen. In diesem Gottvertrauen höre ich für mich das Motto dieses Tages: Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Das ist mein dritter Gedanke.

Ich nehme zu der Geschichte von der Stillung des Sturms noch einen Satz aus der nächsten Geschichte dazu: Und sie fuhren weiter. So beginnt die nächste Geschichte, es wird dann natürlich erzählt, wo sie hinfuhren und was da passiert. Entscheidend finde ich die Ermutigung: es geht weiter. Gewaltiger Sturm – großes Drama. Und dann geht es weiter. Weiter, immer weiter. Das ist nicht von Jesus, sondern von Olli Kahn.

Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Das kann doch auch für uns nur heißen: Tag für Tag das tun, was zu tun ist. In nüchternem Blick auf die Realitäten. Und in Zuversicht, ohne zu resignieren, auch wenn es stürmisch ist.

Und in Orientierung an dem, der den Sturm beherrscht. Der Glaube an Gott kann auch so etwas wie ein Kompass sein, der Orientierung gibt. Den braucht man ja auf Schiffen.

Zukunft gestalten. Das wird für uns in der nächsten Zeit heißen, dass wir für den Frieden einstehen, wo immer wir können. Das heißt für mich auch, das Dilemma auszuhalten, dass es um des Friedenswillen nötig ist, der Aggression und dem schreienden Unrecht mit Gewalt und mit Waffen entgegen zu treten. Ja, das ist jetzt nötig. Und doch dürfen Christen nie in Kriegsbegeisterung fallen, es muss das Ziel immer der Frieden bleiben, ein Frieden in Gerechtigkeit – beides hohe Güter in der Bibel, auf beides ist der Kompass der Christen ausgerechnet. „Selig sind die Friedensstifter“ hat Jesus gesagt – und wer den Angriffskrieg religiös rechtfertigt wie der russische Patriarch begeht Gotteslästerung.

Zukunft gestalten. Was immer da kommt, der Schiffskompass der Christen scheint mir eins noch vorzugeben: Lasst uns aufpassen, dass wir beieinanderbleiben. Gerade schwere Zeiten schafft eine Schiffscrew nur gemeinsam. Lasst uns besonders auf die Schwachen achten, auf die, die sich nicht allein helfen können. Auf die, die die Preissteigerungen nicht nur ärgerlich finden, sondern die dadurch wirklich in Not geraten, die nicht wissen, wie sie bis zum Monatsende kommen sollen. Auf die, deren Seele unter all dem Druck in die Knie geht. Auf die Geflüchteten aus der Ukraine natürlich allemal. Lasst uns darauf achten, soweit es an uns ist, dass niemand über Bord geht.

Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Zwischendurch will ich noch eine Erläuterung geben, warum es hier einen so weiten Himmel gibt und bis auf die Deiche so gar keine Berge. Ein Bischof aus Afrika hat dafür die Deutung geliefert. Der afrikanische Bischof hatte die deutschen Kirchen besucht. Er begann seine Visite zunächst in Bayern. Er war natürlich beeindruckt von den Bergen. Dann fuhr er mit dem bayerischen Bischof zu uns in den Norden, und als er das viele platte Land sah, sagte er: Oh, hier müssen aber gläubige Menschen wohnen, alle Berge sind schon versetzt.

Ob der Glaube bei uns gleich Berge versetzt hat, sei dahingestellt. Um ehrlich zu sein, ich habe erhebliche Zweifel daran. Es ist und bleibt für uns in der Kirche eine Herausforderung, Menschen von heute den Glauben erfahrbar und verstehbar zu machen. Das gehört für uns zum Zukunft gestalten.

Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Eine Fülle von Aufgaben wartet auf uns, die wir zu großen Teilen heute noch gar nicht abschätzen können. Viele Verantwortliche, gerade in der Politik, haben so viel vor der Brust, dass es einem manchmal angst und bange werden kann. Aber die Geschichte von Jesus ist eine Geschichte gegen die Angst.

So lasst uns in Nüchternheit und Gottvertrauen jeden Tag tun, was zu tun ist. Und zugleich darauf vertrauen, dass wir nicht allein sind. Lasst uns darum beten für unsere Welt, beten um Frieden, beten für die, die in diesen Tagen besondere Verantwortung tragen. So schließe ich mit einem Wort von Dietrich Bonhoeffer aus dem Jahr 1944: Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.

Amen