"Poesie und Sprache"

Predigt von Landesbischof Ralf Meister auf dem Generalkonvent des Sprengels Stade

Stadtkirche Rotenburg,22. August 2018

Gnade sei mit Euch

Liebe Gemeinde,

einzelne Verse vergisst Du nie. Du hörst die erste Zeile, manchmal nur zwei, drei Worte und schon sprichst du mit:
„Der Herr ist“ … „mein Hirte“.
„Seht ihr den Mond dort stehen …“, „er ist nur halb zu sehen“.
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, … denn ihrer ist das Himmelreich.“
„Es war als hätt‘ der Himmel, ... die Erde still geküsst“.
 

Es sind die kleinen, wie selbstverständlichen Worte und Zeilen, die Strophen und Verse, die sich ins Gedächtnis gebrannt haben. Manche haben wir durch Gewohnheit und die fortwährende Wiederholung ins Herz geschrieben. Gerade mit liturgischen Sätzen geht es uns so. Andere wiederum, webten sich mit schmerzhaften oder wunderbaren Gefühlslagen ein. Und einige, weil sie pflichtgemäß einstudiert werden mussten: „Zu Dionys dem Tyrannen schlich“, oder „Ich lebe in finsteren Zeiten, das arglose Wort ist töricht, eine glatte Stirn deutet auf Unempfindlichkeit hin.“
 

So sind wir Pastorinnen und Pastoren vermutlich, neben den DeutschlehrerInnen, noch die einzigen Berufsgruppen, die fortwährend mit Poesie umgeht. Das Gedicht findet bleibend Asyl in der Kirche. Denn wir ringen mit Worten, immer und immer wieder, bei jeder Vorbereitung für Gottesdienste. Wir sind eingeübt in den Gattungen, wir kennen die Formen und dennoch bleibt es wieder und wieder die große Herausforderung, das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden.
 

Homiletische Kunst ist keine Wortakrobatik und nicht nur Erzähltechnik, sie ist eine bedachte Auswahl und konzentrierte Entscheidung über Sprache und Wörter. Sie sollen dem  Anschauung geben, was oftmals unanschaulich ist. Oftmals bewegen wir uns dabei in der Poesie. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Dieser Vers von Hölderlin verspricht, dass Lyrik ein nie verklingendes oder mindestens lang anhaltendes Echo schaffen kann. Im Wissen um die Endlichkeit stiftet der Dichter das Andenken als etwas Bleibendes. Die oftmals wiederholten Zeilen, die im Traum wie in schlaflosen Nächten gegenwärtig bleiben, sind ein Zeichen für dieses Echo.
 

Wie oft lese ich Sätze, höre Zeilen und denke: Großartig, wunderbar, genau so ist es! Und zugleich bin ich gewiss, diese Worte hätte ich selbst nie gefunden.
 

Uns sind einige der ältesten poetischen Texte in unserem Beruf mitgegeben. Wir dürfen zu den ursprünglichen Zeugnissen der Poesie Zuflucht nehmen, zu den Psalmen. Welch tolle Aufgabe bleibt es, mit uralten kostbaren Gebeten und poetischen Texten uns an Gott zu wenden, Emotionen auszudrücken, Trost zu spenden und selbst zu erfahren.
 

Mirjam, Maria, Mose und David, Zacharias und unzählige andere Unbekannte erheben die Stimmen zum Gesang. Wie vielfältig legen sie Worte zusammen. Was tut der Dichter, die Dichterin? In nur fünf Versen beschreibt das Psalm 105: Sie dankt und ruft und verkündigt. Er singt und spielt und redet. Sie rühmt und sucht und freut sich. Er fragt und gedenkt. Im Lärm der ungezähmten Reden wirken sie wie Stille. Gesprochenes Schweigen. Von früher Zeit an galt das Reden in Versen und im Rhythmus als eine menschliche Antwort auf das Reden Gottes.

In den Psalmen finden wir den schönsten Ausdruck dafür. Es ist kein selbstverliebtes Reden von den eigenen Gemütszuständen, es geht nicht um die Seelenbeschreibung des Dichters, sondern es bleibt die Anrufung Gottes.

So zweckfrei, wie wir die Lyrik gerne haben wollen, ist sie von Beginn an nie gewiesen. Es war keine sprachliche Spielwiese für gequälte oder fröhliche Dichterseelen, sondern sie war die Kommunikation mit Gott selbst. Ob man ägyptische oder indische Gebete, hebräische Psalmen, frühgriechische Hymnen oder althochdeutsche Zaubersprüche nimmt, sie hatten in der sprachlichen Kunstform ein Ziel: Mit Gott zu reden und die Götter und Geister gnädig zu stimmen.

 Erinnern wir uns an die Kindergebete, die uns in die Nacht geleitet haben?

„Müde bin ich geh zur Ruh...“. Es war die Bitte an Gott, unsere Seelen zu beruhigen für die Zeit, wenn die Dunkelheit ins Kinderzimmer einschlich und böse Schatten lebendig wurden.

Doch so nah uns manche Zeile kommt, so vertraut wir bestimmte Worte und Reime aufsagen, Lyrik bleibt immer eine Fremdsprache.

 „Warum basteln die Menschen Flöten, erfinden Tänze, bauen Häuser, brechen zu Expeditionen auf. Was sie bewegt, ist nicht ein Wissen, ein Dogma, eine Einsicht, sondern eine Sehnsucht.“(Bärbel Wartenberg-Potter) Um ihr Ausdruck zu verleihen, brauchen sie eine andere Sprache. Und wie spricht man darüber so, dass es anderen „zu Herzen“ geht? Durch Poesie.

Vom Hohen Lied der Liebe des Paulus im 13. Kapitel des Korintherbriefes bis zu den Bekenntnissen des Augustinus, von Hildegard von Bingen bis zu den LieddichterInnen des Evangelischen Gesangbuchs, von Martin Luther bis zu Johann Sebastian Bach, Jochen Klepper und Dietrich Bonhoeffer: sie alle fanden eine andere Sprache, die erweiterte, symbolreiche, Schmerz und Tränen, Lust und Liebe bergende Sprache der Gottes-Poesie.
 

Sie widersetzt sich. Sie weicht hörbar von der gewöhnlichen Sprache ab. Sie nimmt Verse und Reime, Rhythmus und erhöhte Tonlage, und spielt mit finsteren Bildern. Sie spricht in Rätseln und birgt Geheimnisse. „Gedichte sind leicht zu erkennen, aber schwer zu begreifen“, sagt der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer. Gedichte, so schnell sie auch gelesen werden können, brauchen Zeit, viel Zeit. Und sie wirken, bevor man sie verstanden hat. Und manchmal dauert das Begreifen ein Leben lang. Mit immer neuem Erstaunen erlebe ich, wie mir manche Rilke-Verse erst nach Jahrzehnten einleuchtend erscheinen.
 

Dabei, so wird immer deutlicher, gelingt der Ton der Psalmen nicht nur den frommen Menschen. Längst schwingt auch in den Gesängen der Agnostiker und mancher Atheisten ein Ton an, der unverhüllt nach Transzendenz sucht. So hat der Autor Uwe Kolbe vor kurzer Zeit einen Gedichtband mit dem Titel „Psalmen“ veröffentlicht.

Im Vorwort schreibt er: „So sind diese hier genau genommen Ketzer-Psalmen.... Nun der Ketzer der Liebe spricht. Jedes Gedicht ein Psalm, jeder Psalm ein Gedicht.“ Um dann mit einem wunderbaren „An Dich“ seine Sammlung zu beschließen:
 

„Du hast mich gemacht,
du kannst mich zerstören.
Du hast mich aufgemacht,
du kannst mich wieder schließen.
Es gibt nichts zu murren,
nicht, dass du das meinst.
Lass nur den Weg mich, der noch bleibt,
an deiner Hand zu Ende gehen.“
 

Man kann sich über die Textgattungen und Inhalte der Nähe zwischen der Lyrik und dem Glauben vergewissern. Und dann sucht man Gleichklänge, ähnliche Metaphern, und spürt die Zwischenräume in den Zeilen auf, in denen, weil nichts geschrieben, alles gesagt ist. Welche Nähe zwischen manchen Gedichten und der Erfahrung Gottes findet sich? Ist es denkbar, dass alles Schreiben in dieser ältesten Form der Kommunikation mit Gott metaphysisch ist?
 

Noch einen letzten Gedanken will ich anfügen. Wir kennen die biblischen Texte. In der Textkritik haben wir sie zerlegt bis in jeden Akzent. Über den Sitz im Leben diskutiert, den historischen Ort, die Entstehungszeit, literargeschichtliche Vergleiche und unzählige Redaktionsversuche. Wir haben die Texte erforscht. Über die Dichter, die Dichterinnen aber wissen wir so gut wie nichts.
 

„Wir können nur ahnen, welche Erfahrungen von Glück, von Leid, von Gottes Nähe und Ferne sie einmal zum Sprechen gebracht haben: Leiden die Dichter für uns?“ Ich halte diese Frage für nicht übertrieben. T.S. Eliot schreibt: „Dichtung setzt nicht Gefühle frei, sie ist eine Flucht vor Gefühlen; sie ist nicht persönlicher Ausdruck, sondern eine Flucht vor dem Persönlichen. Allerdings, nur wer über Persönlichkeit und Gefühle verfügt, weiß, was es heißt, davor fliehen zu wollen.“
 

Können wir die Psalmen so lesen, als wären sie mit traumatischen Erfahrungen, überwältigendem Schmerz, unerträglicher Einsamkeit geschrieben? Ja, denn einer hat sie so gesprochen. Jesus selbst.
 

Und zum Schluss. In den vergangenen zwei Jahren lebt meine Mutter „auf Abruf“. Niemand weiß zu sagen, wie lange ihr großes und nun so schwaches Herz noch schlagen wird. Immer wenn ich sie besuchte in den vergangenen Monaten, sprach sie viel von ihrem erfüllten Leben.
 

Manchmal brachte ich unser altes Kinderliederbuch mit ins Krankenhaus und wir sangen die Lieder, die sie mir am Klavier beigebracht hatte. „Ein Jäger aus Kurpfalz“, „Im Märzen der Bauer“, „Wenn ich ein Vöglein wär.“ Und einige Zeilen hielt sie mit schwacher Stimme mit. 
Und jedes Mal endet unsere Zweisamkeit mit einem Gebet. Eines in Versen. Von Lothar Zenetti.
 

Behüte, HERR, die ich dir anbefehle,
die mir verbunden sind und mir verwandt.
Erhalte sie gesund an Leib und Seele
und führe sie an deiner guten Hand.
Sie alle, die mir ihr Vertrauen schenken
und die mir soviel Gutes schon getan.
In Liebe will ich dankbar an sie denken,
o Herr, nimm dich in Güte ihrer an.
 

Um manchen Menschen mache ich mir Sorgen
und möchte helfen, doch ich kann es nicht.
Ich wünsche nur, er wär’ bei dir geborgen
und fände aus dem Dunkel in dein Licht.
 

Du ließest mir so viele schon begegnen,
so lang ich lebe, seit ich denken kann.
Ich bitte dich, du wollest alle segnen,
sei mir und ihnen immer zugetan.
 

„Wunderbar“, sagt sie jedes Mal nach dem Amen. „So schön“. Und beide wissen wir, auch an ihrem Sterbe- und am Totenbett werden diese Worte erklingen. Nicht zweckfrei, sondern um dem, der ihr das Leben schenkte, Dank zu sagen und sie ihm anzuvertrauen.
 

„Ich bitte dich, du wollest alle segnen,
sei mir und ihnen immer zugetan.“

Amen