Predigt an Heiligabend 2020

Nachricht Stade, 28. Dezember 2020

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy, St. Wilhadi-Kirche, Stade

Predigt Heiligabend 2020, 18.00 h, St. Wilhadi Stade

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

können Sie sich noch an Heiligabend 2012 erinnern. Oder an 2009? An 2015? Nein? Ich auch nicht. Das war nämlich wie immer. Und gerade das schätzen wir normalerweise an Weihnachten, dass es ist wie immer. Da verschwimmt die Erinnerung.

Aber: An Weihnachten 2020 werden wir uns erinnern. Das Weihnachtsfest im Corona-Jahr. Diesmal ist es kein „Wie immer“. Maske, Abstand, Singen verboten. Viel weniger Kontakte und Besuche. Sorgen um Menschen. Angst um die wirtschaftliche Existenz. Das werden wir nicht vergessen.

Einige wenige Weihnachten erinnere ich auch sonst. 1983 – das war traurig. Da kam ich als Student nach Hause und am Tag zuvor war überraschend meine Großmutter gestorben. Oder 1990 – das erste Weihnachtsfest mit einem Kind, gerade sechs Wochen alt. Eine anrührende Erinnerung, so die Geschichte zu hören von dem Kind Gottes, das in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt wird.  

Einzelne Weihnachtsfeste werden auch Ihnen in Erinnerung sein. Besondere Wegmarken im Lebenslauf. Vielen muss das so gegangen sein mit Weihnachten 1945, dem ersten Weihnachtsfest nach dem Krieg.

Ein Weihnachtsfest aber blieb auf jeden Fall unvergesslich. Das erste. Die Geburt Jesu. Diese erste Geburt hat sich eingeschrieben in das Gedächtnis der Menschheit, sie hat eine neue Zeit begründet – bis heute zählen wir unsere Jahre nach dieser einen Geburt. Gewiss, dieses erste Weihnachten war noch sehr anders als unser Fest, keine Idylle und kein Tannengrün. Und auch historisch ist manches durchaus offen. Aber: Die Geschichte von dieser Geburt hat allen kommenden Festen einen ganz eigenen Glanz verliehen.

Jemand hat mir im Vorfeld gesagt: „Bitte, sprich doch heute Abend mal nicht von Corona. Das kennen wir doch zur Genüge.“ Ja, das verstehe ich. Und doch glaube ich, das geht nicht. Denn die Geburt des Kindes, sie wird immer bedacht und gefeiert auf der Bühne ihrer Zeit. Das ist ja schon bei der ersten Geburt so: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde“. Eine ganz konkrete Zeitansage. Die Volkszählung war es, und zwar die, als Quirinius Statthalter in Syrien war.

Und so haben Menschen dann Weihnachten gefeiert - immer auf der Bühne ihrer jeweiligen Zeit. Sie haben diese eine Geburt gefeiert. In normalen Phasen und guten Zeiten, schon immer gab es dieses „Wie immer“. Aber eben auch in Kriegszeiten haben Menschen Weihnachten gefeiert, auf der Flucht, in der Not. Und auch schon vor uns in Zeiten von Pest und Seuchen – die in früheren Jahrhunderten viel häufiger eine Bedrohung darstellten.

Immer haben Menschen sich an diese erste Geburt erinnert. Was damals geschah, als Jesus geboren wurden, das blieb unvergesslich für immer. Das geschah immer wieder neu. Gott kam zur Welt, Gott kam zu den Menschen.

Immer wieder sind Menschen angerührt von dem Geheimnis und dem Zauber eines Kindes, das geboren wird in einer rauen Welt. Und von der Deutung der Engel: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll, denn euch ist heute der Heiland, der Retter geboren.“ 

Und vor allem: Schon immer gab es Lebenslagen, da haben Menschen sich ganz besonders in der Beschreibung der Hirten wiedergefunden: Und sie fürchteten sich sehr. So beschreibt Lukas diese hartgesottenen Gesellen auf den Feldern bei Bethlehem. Viele entdecken sich darin derzeit wieder: Sie fürchteten sich sehr. Und in der Tat, es gibt ja genug, die täglich rufen: Fürchtet euch! - in Sachen Corona, aber nicht nur.

Aber Menschen haben gerade dann schon immer dieses eine und allererste Wort der Engel besonders gehört: Fürchtet euch nicht. So möchte auch ich es hören in diesem Jahr:

Fürchtet euch nicht, all ihr, deren Weihnachten ganz anders abläuft als geplant.

Fürchtet euch nicht, all ihr, die ihr ächzt unter der Last, die zu all dem, was sonst schon ist, auch noch Corona zu tragen haben.

Fürchtet euch nicht, all ihr, die ihr bangt, um die Gesundheit und das Leben von Freunden oder Angehörigen.

Fürchtet euch nicht, die ihr darunter leidet, dass ihr Menschen jetzt nicht sehen dürft, die euch wichtig sind.

Fürchtet euch nicht, all ihr, die ihr immer wieder neu überlegen müsst, wie das Schutzkonzept jetzt funktioniert.

Fürchtet euch nicht, all ihr, die ihr einen Menschen begraben musstet, die ihr trauert.

Fürchtet euch nicht, all ihr, die ihr täglich mit den Auswirkungen des Virus kämpft. Ihr Krankenschwestern, Intensivpfleger, Altenpflegerinnen, Ärztinnen, Laborangestellten, Putzleute.

Fürchtet euch nicht! Das haben Christenmenschen schon immer in bedrängten Zeiten besonders gehört. Und sie haben zweierlei gelernt, auch durch manche Irrtümer:

Erstens: Fürchtet euch nicht, meint nicht Leichtsinn. Das meint nicht Unverstand. Sondern es ermöglicht gerade eine große Verantwortlichkeit. Und die ist gefragt in diesen Zeiten – von jedem und jeder einzelnen. Innere Zuversicht und medizinische Verantwortung gehören zusammen: Abstand, Hygiene, Verzicht auf persönliche Kontakte. Und das gilt nach meiner Überzeugung auch dafür, geordnet zu warten, bis man dran ist, und sich dann impfen zu lassen.

Und zweiten: Fürchtet euch nicht, heißt auch, auf den Nächsten zu schauen. Ein Sozialarbeiter erzählte mir: „Die Menschen sind anders geworden, achtsamer, behutsamer. Sie fragen danach, was – um mit Matthias Claudius zu sprechen - der ‚kranke Nachbar‘ braucht.“ Es gibt ungezählte Geschichten von gelebter Nächstenliebe und Nachbarschaftshilfe gerade in diesen Zeiten. Lasst uns diese Geschichten mitschreiben. Sie werden mit zu dem gehören, was wir uns später von diesem einzigartigen Weihnachten 2020 erzählen werden.

„Fürchtet euch nicht“ ist das erste, was der Engel auf dem Feld sagt, aber er sagt noch mehr: „Denn seht, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird: Euch wurde heute der Retter geboren.“

Gott kam auf die Welt. In diese Welt, die oft so verkehrt erscheint. Und auch er, der Sohn Gottes, hat sich gefürchtet, und hat Sorgen und Angst gehabt, wusste nicht wohin oder wie es weitergeht. In seinem Leben, bis zum leeren Grab und darüber hinaus, war immer dieses Wort vom Feld dabei, dass wir uns heute noch zurufen, dass wir heute hören. Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Retter geboren.

Zum Schluss: In der Zeitung las ich folgende Geschichte: „Auf dem Spielplatz ist ein kleiner Junge gestolpert und hat sich das Knie aufgeschlagen. Nun weint er bitterlich, aber seine Oma versorgt die Wunde und tröstet ihn mit den Worten: ‚Der liebe Gott macht alles wieder gut.‘ Fragend sieht sie der Kleine an: ‚Muss ich rauf, oder kommt er runter?‘“ Diese Frage ist seit Weihnachten entschieden. Gott kommt zu uns runter. Das macht natürlich nicht einfach alles gut. Aber es ist der Grund dafür, das uns gilt: „Fürchtet euch nicht.“

Amen