Predigt zum Volkstrauertag 2022

Stade, St. Wilhadi-Kirche
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy

Predigt über Lukas 18,1-8
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, 13.11.2022

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Volkstrauertag. Ich erinnere mich, wie ich 1989 als junger Vikar erstmals an einem Mahnmal in Hildesheim dazu reden durfte. Damals war es gut 40 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs. Da waren noch Menschen dabei, die aus eigener Erinnerung und in eigenem Schmerz um Angehörige trauerten. Das hat mich damals sehr bewegt.

Im Lauf der Jahre hat der Volkstrauertag gewiss nicht an Bedeutung verloren, aber das Gedenken wurde doch mehr ritualisiert, mit immer weniger persönlichen Erinnerungen und Emotionen, inzwischen mehr als 75 Jahre nach Ende dieses Krieges.

Volkstrauertag 2022 – ich empfinde ihn anders. Wir leben in Zeiten des Krieges. Nicht in unserem Land, aber mitten in Europa. Wir sehen die Bilder, hören die Berichte, erleben die  eine Million nach Deutschland Geflüchteten, spüren die gewaltigen Folgen bei der Explosion der Preise. Ja, in diesem Jahr empfinde ich Trauer – Trauer um die ungezählten Menschen, die in diesem entsetzlichen, verbrecherischen Krieg ihr Leben lassen.

Volkstrauertag 2022. Ich selbst bin in diesem Jahr zum ersten Mal in meinem Leben in Auschwitz gewesen. Im Teil Auschwitz-Birkenau bin ich lange ganz allein über das riesige Gelände gegangen, gespenstisch stehen dort die alten Baracken, die Zäune, die Wachtürme. Die Aura des Ortes fasst einen hart an. Geradezu unwirklich, dass hier über eine Million Menschen von Deutschen ermordet wurde. Auch diese Bilder und Gefühle sind für mich an diesem Volkstrauertag wieder präsent.

Volkstrauertag 2022. Eine Mahnung, die Opfer von Krieg und Gewalt nicht zu vergessen. Eine Mahnung, für Frieden einzustehen und um Frieden zu ringen – eine Diskussion, die unsere Gesellschaft und besonders auch die Evangelische Kirche im Moment sehr bewegt. Eine Mahnung, heute für Menschen, die unter den Folgen von Krieg leiden, solidarisch und in Nächstenliebe einzustehen.

Der Bibeltext, der uns für diesen Volkstrauertag vorgegeben ist, bringt noch eine weitere Dimension ins Spiel. Die schwierige Frage: Was hat Gott mit all dem zu tun? Konkret verweist er uns auf das Beten. Jesus erzählt eine Gleichnisgeschichte darüber, „dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte.“ Ich will mich auf diese Spur einlassen und lese aus Lukas 18 nach der Basisbibel:

Jesus wollte den Jüngern deutlich machen, dass sie immer beten sollen, ohne darin nachzulassen. Deshalb erzählte er ihnen ein Gleichnis: »In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‹«

Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen!«

Ganz schön riskant, was Jesus da macht. Er will zeigen: Hört nicht auf zu beten, haltet immer dran fest. Gott wird schon bald denen zu ihrem Recht verhelfen, die ihn darum bitten. Das ist eine gute und wichtige Zusage am Volkstrauertag. Gott wird zum Recht verhelfen.

Aber: Jesus nimmt als Beispiel dafür einen ungerechten Richter. Einen unangenehmen, korrupten Typen, der keinen Respekt vor Gott und den Menschen hat und macht, was er will. Ein Richter gnadenlos und rechtlos. Bei dem wird eine Witwe vorstellig, der Unrecht geschieht. Witwen sind damals völlig rechtlose Personen, ohne jede finanzielle und rechtliche Absicherung. Sie fordert Recht bei dem Richter, und der schert sich einen Dreck um sie. Aber die Witwe ist beharrlich. Sie wird immer und immer wieder vorstellig. „Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.“ Das wird dem korrupten Richter irgendwann zu viel. Er sagt sich: „Oh Mann, die Alte nervt.“ Er hat Angst vor Imageverlust, wenn die Frau ihre Sache öffentlich macht. Und er hat Angst, dass sie ihm am Ende noch eine runterhaut und ihm ein blaues Auge verpasst. So erzählt das Jesus. Er ist überhaupt nicht zimperlich, wenn er einen Vergleich dafür braucht, dass wir mit dem Beten nicht aufhören sollen.

Jedenfalls, der schlimme Richter gibt schließlich nach. Also: Dranbleiben, lohnt sich. Weiter beten lohnt sich, auch wenn man erstmal keine Erhörung erlebt. Sollte Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.

Was machen wir jetzt damit? Was heißt das für das Beten?

O’Connell ist zu spät dran und sieht sich panisch nach einem Parkplatz um. Er wendet sein Gesicht zum Himmel und sagt: „Gott, hilf mir: Wenn Du mir einen Parkplatz verschaffst, werde ich für den Rest meines Lebens jede Woche zur Kirche gehen und aufhören, irischen Whiskey zu trinken.“ Genau in diesem Augenblick fährt jemand überraschend aus einer Parklücke genau vor ihm heraus. O’Connell blickt sofort zum Himmel und sagt zu Gott: „Ah, gib dir keine Mühe, ich habe schon einen Parkplatz gefunden.“

Wie ist das mit dem Beten? Ob der Parkplatz ohne das Stoßgebet auch frei geworden wäre – wer weiß? Ob ein Ereignis eine Gebetserhörung war, ob es auch ohne Gebet eingetreten wäre – das wird man nie genau wissen. Das ist ein Problem, wenn man über das Beten nachdenkt. Ein anderes ist viel gravierender: Wenn ein Gebet nicht erhört wird, das kann man oft klar erkennen. Wenn ich um Heilung bete, und sie tritt nicht ein: Das ist eindeutig, das wird rasch zur tiefen geistlichen Anfechtung. Wir bitten um Frieden – und er trifft nicht ein. Warum hilft Gott nicht? Wenn man darüber nachdenkt, stößt man schnell auf schwer verdauliche Fragen: Braucht Gott unsere Fürbitte? Tut er Gutes nur, wenn wir ihn bitten? Greift er durch unser Gebet in natürliche Abläufe ein, die sonst anders verlaufen wären? Und vor allem natürlich: Warum erhört Gott oft unsere Fürbitten auch nicht? Man steht beim Nachdenken über das Bittgebet schnell vor denselben Ausweglosigkeiten wie bei der (unbeantwortbaren) Frage: „Wie kann ein gerechter, gütiger und allmächtiger Gott Leid und Elend zulassen?“, bei der Frage also nach der Gerechtigkeit Gottes, der sogenannten Theodizeefrage. Wenn man am Volkstrauertag über Gott nachdenkt, kommt man an dieser Frage nicht vorbei.

Spitzt man es so zu, kann sich schnell der Gedanke ergeben, dass Bitten an Gott entweder überflüssig oder sinnlos sind. Wenn Gott gut, gerecht und mächtig ist: Warum muss man ihn dann erst bitten? Wenn er aber entweder machtlos oder aber böse ist, dann bringt das Beten auch nichts. Berühmt ist auch die pointierte Ablehnung des Betens durch Immanuel Kant: „Das Beten… ist ein abergläubischer Wahn…; Dass ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, dass er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe…“

Ein Bittgebet, dass auf Veränderung des Ganges der Welt und Erfüllung unserer Wünsche zielt, lehnen daher auch manche großen Theologen ab. Das Gebet könne nicht den Sinn haben, auf Gott einzuwirken, um ihn zu veranlassen, etwas anderes zu tun, als er ohnehin tut. (Wilfried Härle). Das Gebet könne nicht das Ziel haben, etwas an den tatsächlichen Umständen zu ändern. Das Gebet zielt dann vielmehr darauf, dass es den Beter innerlich verändert, Kraft und neuen Mut verleiht. Es kommt – pointiert gesagt – in die Nähe einer Meditation, einer Selbstbesinnung. So wird das Gebet in der Neuzeit oft verstanden. Gebet ist etwas, das für mich wichtig ist, dass mir guttut. Und das ist ja auch richtig und wichtig. Genauso, wie es richtig und wichtig ist, dass zum Beten auch das Tun gehört, mein aktives Handeln. Wer für andere betet, der wird sich für andere einsetzen, der wird auch anpacken. Von dem Theologen Karl Barth stammt das Wort: „Hände zum Gebet falten ist der Anfang eines Aufstandes gegen die Unordnung der Welt.“

Aber das ist nicht alles. Die Bibel jedenfalls ist da ganz klar: Unser Gebet darf auf Änderung hoffen. Die Bibel erzählt in allen ihren Teilen davon, dass Gott sich berühren und bewegen lässt durch das Gebet des Menschen, viele Beispiele gibt es dafür, bei Abraham, der für das verkommene Sodom betet, bei Mose oder beim Propheten Amos, die für das Volk Israel beten. Immer lässt sich Gott bewegen zu Reaktion und Veränderung. In der Bergpredigt schließlich ist das Wort Jesu klar: „Bittet, so wird euch gegeben.“ (Mt 7,7). Und genau dazu passt unsere Geschichte von der nervenden Witwe: Hört nicht auf zu beten, Gott wird euch zu eurem Recht verhelfen.

Der Gott der Bibel lässt sich von unserem menschlichen Elend bewegen, am tiefsten im Kommen Jesu Christi selbst. Natürlich wird daraus keine Verfügbarkeit Gottes, ich kann aus dem Gebet keine Wirkungen einfach „ableiten“. Im Gebet begegne ich dem „Du“ Gottes, ich berge mich in ihm. Es geht um die Beziehung zu einer Person, zu diesem Du, nicht um Ursache und Wirkung. Die Frage, warum Gott Gebete aus unserer Sicht auch nicht erhört, bleibt unbeantwortbar, so wie die Frage, warum Gott Leid und Unrecht zulässt. Wenn ich bete, vertraue ich mich gleichwohl Gott an und vertraue – in aller Anfechtung – darauf, dass hinter aller Undurchschaubarkeit der Geschichte das „Du“ des liebenden Gottes steht. Dietrich Bonhoeffer hat das im Gefängnis in die berühmten Worte gefasst: „Nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen erfüllt Gott.“ Über alle Erfüllung hinaus vertraue ich mich Gott an und bin in ihm geborgen, wenn ich bete.

Ich schließe mit einer Geschichte, die für mich in letzter Zuspitzung die nicht auflösbare Spannung von der denkerischen Klärung des Gebets und einer Haltung der Frömmigkeit im Gebet deutlich macht. Sie stammt von Elie Wiesel, dem Friedensnobelpreisträger, der dem Tod im KZ nur knapp entronnen ist: Wiesel traf im Konzentrationslager einen Talmud-Lehrer. Sie studierten während der Arbeit Talmud und Midrasch, die jüdische Überlieferung, aus dem Gedächtnis. Eines Nachts rief der ältere Lehrer den jungen Wiesel und zwei weitere Rabbiner an sein Bett. So trafen sie sich nachts mitten in diesem Lager. Sie beriefen ein rabbinisches Tribunal ein und „beschlossen, Gott anzuklagen, in angemessener, korrekter Form, wie es ein richtiges rabbinisches Tribunal tun soll, mit Zeugen und Argumenten“. Jüdisch – so Wiesel – sei das möglich, Gott anzuklagen. Sie hielten ihm das entsetzliche Leiden der jüdischen Menschen vor, denen Gott nicht half. „Die Verhandlungen zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals war, das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen – ein ... endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war.“
Amen.