Hilfe bei "stiller Katastrophe im dritten Stock"

Nachricht Stade/Lilienthal, 12. Juni 2017

Stade (epd). Notfallseelsorger helfen nach Angaben von Koordinator Hans-Jürgen Bollmann meistens bei "stillen Katastrophen im dritten Stock". Das passiere viel öfter als bei sogenannten "Großschadensfällen" wie der ICE-Katastrophe im niedersächsischen Eschede 1998, sagte der Lilienthaler Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd) und fügte hinzu: "Wir stehen Angehörigen bei Todesfällen mit Erster Hilfe für die Seele zur Seite, oft überbringen wir zusammen mit Polizisten eine Todesnachricht." Die Seelsorger begegneten dann Menschen, "für die von einem Moment auf den anderen alles anders ist".

Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat am Sonntag in Stade das 20-jährige Bestehen ihrer Notfallseelsorge in der Region zwischen Elbe und Weser gefeiert. Der Dienst hat sich in dieser Zeit laut Bollmann zu einem unverzichtbaren Teil kirchlicher Arbeit entwickelt. Sie sei Teil der "kirchlichen Muttersprache".

In der Notfallseelsorge der hannoverschen Landeskirche arbeiten eigenen Angaben zufolge derzeit rund 700 Frauen und Männer, die jährlich mehr als 1.000 Einsätze leisten. In Deutschland gibt es nach kirchlichen Schätzungen etwa 11.100 Notfallseelsorger, die zu rund 30.000 Einsätzen im Jahr gerufen werden. "Im Elbe-Weser-Raum hatten wir im vergangenen Jahr 310 Einsätze von 196 Notfall-Seelsorgerinnen und -Seelsorgern", bilanzierte Bollmann. Unter ihnen seien auch 14 ehrenamtlich Tätige.

Im Ernstfall orientieren sie sich an einem Drei-Schritt-Modell zur Trauerbegleitung der Freiburger Professorin Kerstin Lammer, die Seelsorge und Pastoralpsychologie lehrt. "Es geht darum, zu stabilisieren, zu orientieren und Ressourcen zu aktivieren", erläuterte Bollmann. "Nach einem tödlichen Verkehrsunfall oder einem Suizid sind wir für die Angehörigen da, lassen Emotionen zu und versuchen, Struktur in das Chaos zu bringen."

Dann könne es beispielsweise darum gehen, gemeinsam darüber nachzudenken, wen der Betroffene bei sich haben möchte und welcher Bestatter verständigt werden solle. Einsatzkräfte der Polizei und der Rettungskräfte können die Seelsorger an allen Tagen im Jahr rund um die Uhr erreichen. Ihre Notrufnummer liegt den jeweiligen Leitstellen vor.

Zunehmend seien auch interkulturelle Kompetenzen gefragt, ergänzte Bollmann. "Wir begegnen immer mehr Muslimen und Menschen aus anderen Kulturkreisen." So sei es wichtig, darüber informiert zu sein, was Trauerbegleitung etwa im Islam bedeute: "Ob sich beispielsweise die Familie zuständig fühlt für die Seelsorge."

Eine weitere Herausforderung in der Zukunft ist die Zahl der Pastorinnen und Pastoren, die aufgrund gekürzter Stellenpläne zurückgeht. Bollmann: "Das bedeutet weniger Pastoren in der Fläche und damit auch größere Distanzen - davor können wir die Augen nicht verschließen." Deshalb würden zunehmend Ehrenamtliche geschult.

epd-Gespräch: Dieter Sell