"Feste des Lebens feiern"

Nachricht Rotenburg, 29. Juni 2023

Predigt von Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy beim Generalkonvent am 28. Juni 2023 in Rotenburg/Wümme

Predigt über 1. Petr 3,8-17

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,

wir haben den Predigttext für den kommenden Sonntag aus 1. Petr 3 gehört. Eine Sammlung paränetischer Worte, keine ganz einfache – man wird auswählen müssen (wenn man diesen Text denn nimmt). Ich wähle aus, und das fällt mir nicht schwer für unseren Tag über die Feste des Lebens: Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, auf dass ihr Segen erbt.

Segnet, weil ihr dazu berufen seid. Wie könnte ein biblisches Wort besser passen für den Auftakt eines Tages über Amtshandlungen. Segnet, weil ihr dazu berufen seid.

Drei Begegnungen aus den letzten Wochen.

Begegnung 1: Letzte Woche sind wir mit den Regionalbischöfinnen und Regionalbischöfen aus dem Bereich der EKD in Erfurt. Die Geschwister aus der Mitteldeutschen Kirche haben einen Pfarrer aus Gera eingeladen. Er erzählt: Es gibt in Gera noch 8 % Christen. Seine Gemeinde besteht zu einem Drittel aus altgewordenen Bergbau-Arbeiterfamilien, zu einem Drittel aus Harz IV-Empfängern und zu einem Drittel aus Migranten. Sie machen im Kirchenvorstand eine Klausur und stellten fest: Wenn sich nichts ändert, gibt es uns in 30 Jahren nicht mehr. Aber: Sie haben einen Friedhof. Sie beschließen: Wir sperren diesen Friedhof für nichtchristliche Trauerfeiern (es gibt in der Stadt Alternativen). Aber wir bieten allen eine christliche Trauerfeier an, egal ob Kirchenmitglied oder nicht. Es gibt anfangs Widerstände, im Kirchenkreis – „ihr könnt doch keine Nichtchristen beerdigen“ – wie bei den Bestattern. Aber sie bleiben konsequent. Anfangs nehmen viele die christliche Trauerfeier nur widerwillig in Kauf. Mit der Zeit aber spricht sich herum: Der Pfarrer macht das gut. Er kann besonders gut das Leben von Menschen würdigen. Wo jemand mal in der Kirche gewesen war, kriegt der Pfarrer durch Telefonanrufe den Taufspruch raus. Und, so sagt er, in jeder Trauerfeier spricht er vom christlichen Glauben und von der Hoffnung auf Auferstehung. Inzwischen macht er über 100 Beerdigungen im Jahr. Es gibt verstärkt Eintritte in die Kirche. Der Friedhof wurde inzwischen zweimal durch Zukäufe erweitert.

Und: der Friedhof macht satte Gewinne. Für die Bestattung von Nichtkirchenmitgliedern nehmen sie 250 Euro – weniger als freie Redner. Mit den Gewinnen konnten sie inzwischen eine halbe Pfarrstelle einrichten. Sie ist besetzt mit einer jungen Kollegin, die vor allem Arbeit mit Kindern in einem sozialen Brennpunkt macht. Dort kommt es jetzt verstärkt zu Taufen. Was Rudolf Bohren einst sagte: Die Kasualien als missionarische Gelegenheit – haben wir das hier in völlig anderer Weise wieder? Gemeindeaufbau durch Beerdigungen?!

Begegnung 2: Wir sitzen in einer AG zusammen mit dem Leiter der Rechtsabteilung der Badischen Landeskirche. Der Kirchenjurist aus Karlsruhe erzählt uns u.a., sie hätten gerade ein neues Kasualgesetz beschlossen. Sie denken jetzt konsequent von den Kirchenmitgliedern her. So haben sie eine Regelung ins Gesetz geschrieben: Wenn eine Pfarrperson um eine Amtshandlung gebeten wird, ist sie zuständig. Völlig unabhängig von der Parochiezugehörigkeit. Entweder der angesprochene Pastor, die Pastorin macht es selbst – oder sie kümmert sich, wer es macht. Kirchen mit vielen Kasualien bekommen einen finanziellen Zuschlag. Und das Dimissoriale haben sie einfach abgeschafft. Es gibt jetzt nur noch eine Berichtspflicht.

Begegnung 3: Praxistag unseres Sprengels zum Gottesdienst in Verden vor zehn Tagen. Workshop mit Pn. Elisabeth Rabe-Winnen: Segen geben und Segen sein. Kasualien neu denken und feiern. Gleich zu Beginn sollen wir zu zweit üben zu segnen. Neben mir steht eine ehrenamtliche Person, die ich bisher nicht kenne. Sie bittet mich zu beginnen. Wir spüren beide, dass man einen kleinen Moment eine Scheu-Grenze überwinden muss. Dann erzählt sie, eine bestimmte Situation in der Familie belaste sie sehr. Sie bittet mich um einen Segen und um Handauflegung. Ich spreche ein kurzes Gebet und einen Segen. Und knote ihr ein Segensband ums Handgelenk. Dann bin ich dran. Ich nenne fordernde Dinge, die ich in der kommenden Zeit alle vorbereiten muss, u.a. auch diesen Generalkonvent. Sie macht für jedes Genannte einen Knoten ins Band, und sie spricht ein Gebet und einen Segen für mich – zum ersten Mal in ihrem Leben, wie sie sagt. Hinterher sind wir beide tief angerührt. Sie sagt: Ich habe gespürt, wie Kraft fließt. Und mir ging es nicht anders, solange ich auch „religiöser Profi“ bin. Der persönlich zugesprochene Segen rührt tief an, er wird zur intensiven geistlichen Erfahrung. Und so kommt es, dass ich heute ein Armband trage mit einem Segens-Knoten für diesen Generalkonvent. Das hätte ich mir früher auch eher nicht träumen lassen.

Segnet, weil ihr dazu berufen seid… Sie alle können solche Geschichten erzählen. Von bewegenden Tauffesten in diesen Wochen. Von persönlichen Segnungen und berührenden Amtshandlungen. Oder von den Trauungen to go, den Spontanhochzeiten, jetzt am Wochenende in Bremerhaven, bei denen die Resonanz so überwältigend war, dass nach deutlich über 20 Trauungen am Ende einige Paare aufs nächste Mal vertröstet werden mussten.

Bewegende Geschichten. Und wir mittendrin als Pastorinnen und Pastoren. Zwischen so vielen anrührenden Erfahrungen - und manchem Frust. Wenn die Extrawünsche jeden sinnvollen Rahmen übersteigen. Wenn man das Gefühl hat, als Palmkübel missbraucht zu werden. Wenn kurz nach der Trauung, bei der man sich richtig Mühe gegeben hat, der Kirchenaustritt kommt. Und natürlich: Wenn die Zahlen zurückgehen, wenn viele auch ohne kirchliche Begleitung und Gottes Segen zurechtkommen, manchmal bis ins engste persönliche Umfeld. Das frisst doch an einem – an mir jedenfalls tut es das.

In diese Situation hinein höre ich heute den biblischen Text als Kasualparänese. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid. Die Autorin in den Göttinger Predigtmeditationen, die im Übrigen unsere Perikope mit sehr spitzen Fingern anfasst, formuliert sehr schön: „Segnet vielmehr – von der Widerständigkeit der Großzügigkeit“.

Ja, manchmal kann man sich mit Gründen ärgern. Aber ich glaube, wir müssen in Kasualdingen lernen, neu großzügig zu werden. Von der Widerständigkeit der Großzügigkeit. Ich muss das auch lernen, als jemand der jahrelang im Landeskirchenamt an unseren Kasualgesetzen mitgewirkt hat und bis heute immer wieder Auskünfte gibt, was zulässig ist und was eben auch nicht. Vieles lange Selbstverständliche erodiert wie Eis in der Sonne, und damit auch manche Regeln.

Aber es bleibt die Sehnsucht nach Segen, nach Begleitung und Gottesnähe. Und wenn die Wünsche noch so schräg erscheinen mögen. Und wenn die Zuständigkeit unklar ist: Lasst uns das intern gut klären, natürlich, niemand darf überlastet werden. Aber lasst uns großzügig sein, lasst uns ein weites Herz haben. Gott hat es auch. Segnet, weil ihr dazu berufen seid.

Ganz klar, die kritischen Fragen liegen nahe. Ist denn jetzt alles möglich? Verschleudern wir, was uns Heilig ist? Das sei Ferne. Es wird theologisch sorgfältig zu bedenken und zu verantworten sein, was wir tun – und da wird es natürlich auch Grenzen geben.

Einen Hinweis finde ich in unserem Predigtabschnitt: Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist. Also: Verschweigt eure Hoffnung nicht und ihren Grund in Jesus Christus. Verschweigt euren Glauben nicht. Redet diese andere Dimension der Wirklichkeit Gottes hinein in unsere Zeit. Verschweigt auch nicht, warum wir den Segen mit dem Zeichen des Kreuzes verbinden: Weil Segen natürlich keine einfache Garantie für gelingendes und gesundes Leben ist, sondern weil das Mitgehen Gottes seinen intensivsten Ort im Kreuz Jesu findet und in seiner Auferstehung. Das lebensschenkende und rettende Mitsein Gottes sprechen wir im Segen zu – unter dem Zeichen des Kreuzes. Das lasst uns nicht verschweigen, es ist gerade Teil einer weitherzigen Großzügigkeit. Wir brauchen eine theologisch verantwortete und geistliche gefüllte Großzügigkeit! Seid allezeit bereit zur Verantwortung über eure Hoffnung und euren Glauben. Und das mit Sanftmut und Ehrfurcht, so der 1. Petrusbrief – ich sage doch: Eine Kasualparänese; ich werde das als neue exegetische These einbringen.

Klar, das Beispiel aus Gera – Gemeindeaufbau durch Beerdigungen – ist hoch diskutabel. Keine Ahnung, ob man das irgendwo ähnlich machen kann und soll. Aber die Kombination von großer Weite und klarem evangelischen Zeugnis fand ich stark.

Nach einer Ordination in der jüngeren Zeit schrieb mir die ordinierte Person hinterher: „Es war sehr berührend, den Segen unseres Gottes nicht nur im Wort zu hören, sondern auch körperlich durch Gesten zu erspüren.“ Ja, das ist ein Geheimnis des Segens: Die Körperlichkeit, die Leibhaftigkeit. Augenkontakt, Berührung, manchmal auch der Geruch von Salböl. Gottes Freundlichkeit spüren mit allen Sinnen. Das rührt viele an, und es ist eine Dimension, von der wir Protestanten eher nicht zu viel haben.

Und dann: Es war eben der Segen bei einer Ordination. Dieser Segen verbindet uns alle. Wir segnen als Gesegnete. Wir segnen als Beauftragte unseres Gottes. Segnet, weil ihr dazu berufen seid. Und das heißt auch: Wir tun es so verantwortlich und liebevoll und kreativ wir können. Aber mehr müssen wir auch nicht tun. Das Übrige können wir getrost unserem Gott überlassen. Er mag Gutes daraus werden lassen. Und das gilt auch dann, wenn uns nicht alles optimal gelingt, wenn die Zeit für eine richtig gute Ansprache nicht mehr gereicht hat, wenn Fehler passieren und manches bruchstückhaft bleibt.

Am schönsten hat das für mich immer noch Fulbert Steffensky formuliert: „Der Segen ist eine Form … des Glaubens …, in der zwei Menschen von sich selber absehen, der Segnende und der Gesegnete. Der Gesegnete: Er erlaubt sich den Sturz in das Versprechen der Geste und des Wortes. Ebenso sieht der Segnende [und hier geht es um uns] von sich ab. Er steht nicht für das Versprechen, das er gibt… Vielleicht ist das die Demut der Segnenden: sie erschaffen die Welt nicht. Sie spenden etwas, was sie nicht haben. Ihre eigene Blöße hält sie nicht ab, aufs Ganze zu gehen und Gott als Versprechen zu geben.“ Im Segen, so Steffensky, verdichtet sich eine ganze Anthropologie: „Empfangen, was man nicht erarbeitet hat; spenden, was man nicht hat. Das ist das große Spiel der Freiheit von allen Selbstherstellungszwängen.“

Weil das so ist, tut es gut, zu segnen, auch zu den Festen des Lebens.  Wir segnen als Gesegnete, als von Gott Berufene und Getragene. Und wir segnen, weil darauf Segen ruht: segnet, weil ihr dazu berufen seid, auf dass ihr Segen erbt.

Amen.